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Argentinien
Gewalt gegen Frauen gehört zum Alltag

Sie werden geschlagen, unter Drogen gesetzt, brutal vergewaltigt: Alle 30 Stunden kommt in Argentinien eine Frau durch häusliche Gewalt ums Leben. Gewalt gegen Frauen sei in Argentinien ein gesamtgesellschaftliches Problem, sagt die Nichtregierungsorganisation "Casa de Encuentro". Ein Problem, das lange als Tabu galt.

Von Anne Herrberg | 28.10.2016
    In Argentinien sind (19.10) mehrere Zehntausend Menschen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen auf die Straße gegangen. Im Bild Demonstranten in der Hauptstadt Buenos Aires.
    In Argentinien sind (19.10) mehrere Zehntausend Menschen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen auf die Straße gegangen. Im Bild Demonstranten in der Hauptstadt Buenos Aires. (dpa picture alliance /EPA/David Fern)
    In strömendem Regen ziehen sie durch Buenos Aires. Zehntausende Frauen, in schwarz gekleidet, mit Plakaten, Fotos von Mädchen und Frauen, Spruchbändern
    "Ich fordere 'Ni una menos'! Keine einzige ermordete Frau mehr! Basta mit der Gewalt an Frauen, mit diesem Denken, das Frauen Objekte sind, die man besitzt, gebraucht, wegschmeißen kann. Wir alle hier kämpfen gegen diese patriarchale Macho-Kultur, gemeinsam auf der Straße."
    Das war am 19. Oktober, vor knapp zehn Tagen. Auslöser war der gewaltsame Tod einer 16-Jährigen, die unter Drogen gesetzt und dann brutal vergewaltigt worden war – in ganz Lateinamerika folgten Frauen dem spontanen Aufruf aus Argentinien.
    Auch Miriam Zambrano hat ihrer Arbeit in einer Krankenstation im Viertel Villa Real ruhen lassen, ist auf die Straße gezogen, wie so oft schon, mit einem Foto ihrer Schwester in der Hand: eine junge Frau mit lächelnden, mandelförmigen Augen, die dunklen Haare zum Zopf gebunden. Adriana Marisel Zambrano – Lilli genannt. Umgebracht von ihrem Ex-Freund, am 13. Juli 2008, um 12 Uhr mittags i der nordargentinischen Provinz Jujuy. Vor den Augen der gemeinsamen neun Monate alten Tochter.
    "Mir geht das nicht aus dem Kopf, wie sie da lag. Blutüberströmt, zusammengeschlagen mit einem Eisenwerkzeug, die Arme mit Zigarettenstummeln verbrannt, das Gesicht verquollen, den Schädel so zertrümmert, das Gehirnflüssigkeit ausgetreten war. Es war schrecklich."
    Milde Strafen für Gewalttäter
    Miriam atmet drei Mal tief ein, dann wieder aus, schüttelt den Kopf. Jetzt möchte diese Person das alleinige Sorgerecht bekommen, sagt sie dann, für das Kind der Frau, die er umgebracht hat.
    "Sie haben ihm fünf Jahre gegeben. Er habe ohne Vorsatz gehandelt, hieß es. Schon während des Prozesses haben seine Jungs draußen mit Trommeln seine Freilassung gefordert. Er kennt dort alle, bei der Polizei, beim Kinder- und Jugendamt, er ist gut vernetzt. Nach zwei Jahren war er wieder draußen, als ob nichts passiert wäre. Das bedeutet das Leben meiner Schwester: nichts!"
    Adriana Marisel Zambrano, Lilli. Mit ihr hat die Nichtregierungsorganisation "Casa de Encuentro" angefangen zu zählen, viele Frauen in Argentinien durch häusliche und sexuelle Gewalt ums Leben kommen. Eine Frau etwa alle 30 Stunden, quer durch jede gesellschaftliche Schicht, Religion, Altersstufe. Daran hat sich seit 2008 nichts geändert, sagt Fabiana Tuñez, die heute Präsidentin des Nationalen Frauenrates ist – doch in der Gesellschaft habe sich etwas getan
    "Es gab einen klaren Einschnitt – vor anderthalb Jahren. Die Empörung über einen brutalen Mord an einer schwangeren Minderjährigen führt zu einem spontanen Protest-Aufruf, dem Hunderttausende gefolgt sind. Etwas, das früher nicht geredet wurde, das als Privatangelegenheit galt, wurde sichtbar als das was es war: Ein gesellschaftliches Problem, das uns alle betrifft, die Morde sind das Extrem, aber es fängt bei den täglichen kleinen Diskriminierungen an, den Sprüchen, den Blicken. Zwar hat der Druck zugenommen, aber nach wie vor gehört die Macho-Kultur zum Alltag."
    Monica Cuñarro kennt das allzu gut. Die Staatsanwältin hat 2013 einen Präzedenzfall geschaffen – sie erreichte das erste Urteil, bei dem der Tatbestand sexuelle Gewalt als straferschwerender Umstand miteinbezogen wurde – doch das bleibt die Ausnahme.
    "Wir haben zwar die Gesetze, die Paragrafen, etc, aber der Justizapparat ist extrem frauenfeindlich ist. Zehn Richtern steht eine Richterin gegenüber, in der Provinz noch weniger. Eine Richterin, die doppelt so hart kämpfen muss für ihren Posten, die oft unter Druck gesetzt wird, die Regeln der Macho-Kultur zu adaptieren. Gesetze allein reichen nicht, es braucht eine Politik, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen den Respekt vor den Frauen und die Gleichberechtigung stärkt."
    Eine Gesetzesinitiative in der Diskussion
    Derzeit wird im Parlament eine Gesetzesinitiative diskutiert – gefordert wird, dass es staatliche Unterstützung für die über 2.000 Kinder geben soll, deren Mütter durch Gewalt der Lebenspartner starben. Wie Josefina, die neunjährige Tochter von Lilli Zambrano. Ihre Schwester Miriam und die Mutter kämpfen derzeit um das Sorgerecht für das Mädchen, das im selben Raum war, als der Vater die Mutter erschlug – die Justiz in Jujuy lehnt ab. Solange der leibliche Vater am, Leben sei, habe er Vorrecht. Währenddessen sind allein dieser Woche wieder drei Frauen von einem Familienmitglied umgebracht worden.