Kultursoziologe Ulrich Bröckling

Was macht ein Opfer zum Helden?

Mann mit Rettungsring steht im Meer auf den Schultern eines anderen Mannes.
Jemanden vor dem Ertrinken retten und dabei selbst ertrinken – wenn ein Mensch sein Leben opfert, um einen anderen zu retten, feiert man ihn als Helden. © imago stock&people
Ulrich Bröckling im Gespräch mit Hans-Joachim Wiese und Liane von Billerbeck · 29.03.2018
Um eine Geisel zu retten, setzte der Polizist Beltrame sein Leben aufs Spiel – und wurde erschossen. Frankreich feiert ihn jetzt als Helden. Doch die Forderung, Opfer zu bringen, kann schnell ins Autoritäre abrutschen, warnt Kultursoziologe Ulrich Bröckling.
Vergangene Woche war er noch ein unbekannter Polizist – nun trauert ein ganzes Land um einen Helden. Mit einer Schweigeminute, einem Trauermarsch und einem Ehrengeleit hat sich Frankreich von Arnaud Beltrame verabschiedet. Seine Entscheidung, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um ein anderes zu retten, wird bewundert. Doch der Kultursoziologe Ulrich Bröckling warnt davor, daraus eine allgemeine Pflicht abzuleiten:
"Die Frage ist, inwiefern daraus politisches Kapital geschlagen wird oder man versucht es zu schlagen. Ob man da jetzt Opferbereitschaft auch bei anderen einfordern kann, da wäre ich sehr skeptisch. Opferbereitschaft kann man im Nachhinein sehen, zum Beispiel bei dieser Tat des Polizisten. Sie von anderen einzufordern hat immer etwas Autoritäres. Wer maßt es sich an, das Leben anderer einzufordern? Das halte ich für eine höchst problematische Sache."

Die Totalisierung des Opferbegriffs

Die Figur des Helden, der sein Leben opfert, ist wohl so alt wie die Menschheit. Das Opfer Jesus Christi als Gründungsakt des Christentums prägt bis heute die abendländische Gesellschaft. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges führten dazu, dass die Figur des sich opfernden Helden kritisch betrachtet wurde. Nach 1945 habe es eine gesellschaftliche Zeitenwende gegeben, sagt der Kultursoziologe Ulrich Bröckling.
"In den Jahren davor ist im Nationalsozialismus und in den anderen faschistischen Regimen diese Forderung nach Opferbereitschaft totalisiert worden. Letztlich sollten alle ihr Leben opfern – für das Volk, für das Vaterland – mit den bekannten katastrophalen Folgen."
Von den faschistischen Regimen wurde die Figur des Helden instrumentalisiert, um andere mit in den Tod zu reißen.
"Was bei dem Reden über Opferbereitschaft meist unterschlagen wurde ist, dass in erster Linie nicht das eigene Leben geopfert werden sollte, sondern meist auch das andere vernichtet werden sollte. Dass also die Bereitschaft zum Selbstopfer einherging mit dem Gebot, auch andere umzubringen. Diese Überhöhung von Opferbereitschaft, diese Totalisierung von Opferbereitschaft auf jeden ist danach wirklich diskreditiert gewesen."

Begriff Opfer nicht nur auf Leben und Tod beziehen

Die Nachkriegsgesellschaft wollte keine "Helden" mehr, die einem Führer bis in den Tod blinden Gehorsam schworen. Individualismus statt kollektiver Selbstaufopferung. In einer "weitgehend postheroischen Gesellschaft, so Bröckling, sind nur noch bestimmten Berufsgruppen, wie Soldaten und Polizisten, mit der Frage nach Leben und Tod konfrontiert. Was allerdings nicht bedeutet, dass in der heutigen Gesellschaft keine Opfer mehr gebracht würden, erklärt Bröckling:
"Wir sollten das Opfer tatsächlich nicht nur auf Leben und Tod verkürzen. Opfer kann auch bedeuten, kleinere oder größere Entbehrungen auf sich zu nehmen, sich besonderer Mühen auszusetzen. Da geben Menschen um ihrer alten, gebrechlichen Angehörigen willen Freiheiten auf, verwenden sehr viel Zeit, gehen manchmal bis über ihre Kräfte. Und das ist ja auch etwas, was in unserer Gesellschaft auch sehr hoch gewertet wird, zu Recht. Auch wenn es aus strukturellen Gründen, für viele Menschen immer schwieriger wird, genau das zu tun. Wenn man berufstätig ist, wenn man weit weg wohnt, wenn man seinen Lebensmittelpunkt weit weg von den Eltern, die alt und gebrechlich sind, hat, dann wird es schwierig, solche Opfer zu erbringen."
(mw)
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