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Armes reiches Luxemburg (1/5)
Obdachlosigkeit ist nur die Spitze des Eisbergs

Luxemburg ist eines der wohlhabendsten Länder der EU. Kaum jemand verbindet Begriffe wie Armut und Arbeitslosigkeit mit dem Großherzogtum. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.

Von Tonia Koch | 27.12.2017
    Ein Obdachloser mit grossen Schildern Luxemburg, Stadtansicht Altstadt Place de Clairefontaine mit Brunnen zwischen der Kathedrale unserer lieben Frau und der Chamber (Abgeordnetenkammer) aufgenommen am 07.08.2016 in Luxemburg.
    Wie viele ihr Glück in Luxemburg versuchen und scheitern, darüber gibt es keine belastbaren Zahlen (dpa / Horst Galuschka)
    "Ich bin ein Junge von der Straße."
    14 Jahre habe er auf der Straße gelebt, sagt ein junger Mann. Er will namenlos bleiben und fügt hinzu.
    "Ich hab' Glück gehabt, ich hab' es raus geschafft."
    Sein Leben: eine Achterbahn.
    "Mal raus, mal rein, die Straße bleibt immer in dir …"
    Er habe einen Job im Wald gefunden und seit langer Zeit lebe er zu Hause in einer Wohnung. Aber noch immer besuche er regelmäßig das "Courage", das Sozialcafé der Caritas hinter dem Luxemburger Bahnhof.
    "Hier gibt es Loyalität, im System gibt es keine Loyalität, im System will jeder besser sein, hier freut man sich, einer für den anderen und einer ist für den andren da, ich bin hier aufgewachsen, durch meine Freunde, durch meine wahren Freunde habe ich es geschafft …"
    Kein Geld für eine Wohnung
    Sein Gegenüber, ein älterer Herr, empfindet seine Situation als ausweglos. Er ist Marokkaner, die Ehe mit einer Luxemburgerin ging in die Brüche, eine Wohnung kann er sich schon seit zwei Jahren nicht mehr leisten.
    "Über tausend Euro habe ich für die Wohnung gezahlt, das war zu viel. Jetzt schlafe ich in den Straßen."
    Er werde von der "Assistance Social" unterstützt, mit 75 Euro in der Woche, das reiche nicht einmal, um mit den kranken Eltern in Marokko zu telefonieren. Er verstehe das System nicht, aber inzwischen habe er einen Antrag auf RMG, auf das garantierte Mindesteinkommen gestellt.
    Noch ist nicht geklärt, ob er überhaupt Anspruch darauf hat, denn dafür müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Die höchsten Hürden sind: eine Wohnung und die Dauer des Aufenthaltes.
    "Einerseits brauchen sie eine Adresse und um einen RMG zu bekommen, müssen sie gewisse Bedingungen erfüllen und eine davon ist, dass sie fünf Jahre in Luxemburg sein müssen, das heißt das ist eine sehr lange Zeitspanne und viele Menschen aus dem Osten und dem Süden Europas, sie kommen mit dem Traum, hier ihr Leben zu verändern. Einige schaffen es nicht und zurückzugehen wäre ein Misserfolg und daher bleiben sie hier. Aber sie haben keine Arbeit, sie haben kein Einkommen, keine Wohnung und landen auf der Straße."
    Andreas Vogt leitet das Obdachlosenprogramm der Caritas. Wie viele ihr Glück in Luxemburg versuchen und scheitern, darüber gibt es keine belastbaren Zahlen.
    "Es gibt Hunderte von Obdachlosen, gewisse Schätzungen sprechen von 2.000 bis 3.000, aber wie gesagt, es gibt keine klaren Statistiken dazu."
    Aufwärmen in geheizten Hallen
    Von 9 bis 17 Uhr ist das Café geöffnet. Bis zu 50 Leute können sich zeitgleich darin aufhalten. Wer rauchen will, muss vor die Tür, aber Alkohol darf konsumiert werden: Bier und Wein. Manche gehen offen damit um, andere holen die mitgebrachten Dosen oder Flaschen verschämt aus Plastiktüten hervor, um sie immer wieder darin verschwinden zu lassen. Das seit zwei Jahren praktizierte Konzept, dass die Menschen in den sozialen Auffangstationen Alkohol trinken dürfen, hätte sich bewährt, sagt Vogt.
    "Wir haben bei vielen Kunden gemerkt, weil sie drinnen konsumieren dürfen, konsumieren sie weniger, sie sind nicht mehr auf der Straße und müssen so schnell wie möglich so viel wie möglich trinken, damit sie in eine soziale Struktur gehen dürfen, das heißt, es ist viel mehr geregelt, viel konstanter und sie trinken daher auch weniger."
    Ein Obdachloser schläft auf einer Parkbank.
    Für viele ist die Situation ausweglos. (dpa)
    Auch der Hund, für Obdachlose oft treuer Begleiter und Identifikationsfigur, dürfen die Menschen ins Café oder die Notschlafstelle mitbringen. Denn vor die Wahl gestellt, Obdach oder Hund, würden sich die Betroffenen immer für den Hund entscheiden, auch wenn es draußen noch so kalt sei, argumentiert Vogt.
    Ein paar Meter weiter, in Sichtweite des "Courage" hat das Rote Kreuz seit dem 1. Dezember Quartier bezogen. Pünktlich mit dem ersten Schneefall hat in diesem Jahr die sogenannte Winteraktion begonnen. Das heißt: In den geheizten Hallen können sich die Menschen aufwärmen, etwas zu Mittag essen, sich ausruhen.
    "Senza casa … wohnunglos, seit vier Jahren …quattro anni , schallt es aus einem Sessel, der hier gute Dienste tut und ansonsten auf dem Sperrmüll gelandet wäre. Ein anderer Herr sucht schnell das Weite.
    "Sobald sie das Mikrofon sehen, haben sie Angst und fühlen sich unwohl, genau."
    Marie ist Streetworkerin, für die Dauer der Winteraktion bis zum 31. März des kommenden Jahres, hat auch sie ihren Schwerpunkt in die Hallen verlagert.
    Manche Besucher vertreiben sich ein wenig die Zeit. Zwei Rumänen haben nach Tischtennisschlägern gegriffen. Sie seien vor zwei Monaten aus Italien gekommen, hätten aber noch keine Arbeit gefunden.
    Das Hab und Gut passt in einen kleinen Rucksack
    Marie kümmert sich.
    "Für diejenigen, die nicht wissen, welche Rechte sie haben hier in Luxemburg - wie der Herr, der aus Italien gekommen ist - ja wenn solche Fragen kommen, dann stehen wir ihnen auch sozialpädagogisch zur Seite."
    Karim ist Franzose. Alles, was er besitzt, trägt er bei sich, verstaut in einem kleinen Rucksack. Er stellt ihn ab und holt sich was zu essen. Er halte sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, sagt er, und sei mal hier und mal dort.
    Karim hat sich gerade in eine Liste eingetragen, denn er möchte heute Abend wie die meisten anderen auch mit dem Bus von der Stadt in eine Halle auf den Flughafen Findel fahren. Dort stehen in den kommenden vier Monaten zusätzlich 200 Schlafgelegenheiten zur Verfügung.
    "Ich war letztes Jahr schon paar Mal da und es ist nicht schlecht. Du kannst schlafen, du kannst Dich waschen, einwandfrei, wirklich prima."
    Die Winteraktion auf dem Findel ist humanitäre Hilfe, niemand soll erfrieren. Aber das strukturelle Problem der Wohnungsnot in Luxemburg lässt sich damit nicht lösen, sagt Caritasvertreter Andreas Vogt.
    "Von daher sind die Obdachlosen natürlich die Spitze des Eisberges, den man sieht, aber das Problem betrifft sehr große Schichten der Bevölkerung, die Kosten des Wohnens in Luxemburg , die Öffentlichkeit ist sich dessen sehr wohl bewusst."