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Armin Nassehi: "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft"
Der Siegeszug der Digitalisierung

Warum hat sich die Gesellschaft so schnell auf die Digitalisierung eingelassen? Das fragt sich Armin Nassehi in seinem Buch "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft". Für den Soziologen lässt sich der Siegeszug der Digitalisierung nur erklären, weil die Mechanismen bereits sehr vertraut waren.

Von Dagmar Röhrlich | 20.10.2019
Buchcover zu Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft (C.H. Beck)
In seinem Buch "Muster" erklärt Nassehi durchaus provokativ, dass die Geschichte von der Zerstörung der schönen analogen Welt durch Amazon und Co nichts weiter ist als eben das – eine Geschichte. Das neue Medium konnte sich nur durchsetzen, weil die Menschen damit umgehen konnten, ihnen das Denken vertraut war.
Digitalisierung muss ein Bedürfnis befriedigen
Dass sich die Digitalisierung – wie zuvor Buchdruck, Eisenbahn oder Radio – durchsetzen konnte, ließe sich letztendlich erklären, wenn die Gesellschaft bereit ist für die Technik, führt Armin Nassehi aus. Die Bedingungen müssen passen, und sie muss einen Nerv treffen, sozusagen ein Bedürfnis befriedigen, von dem noch niemand wusste, dass es da ist - sonst kann sie nicht erfolgreich sein.
Im Fall der Digitalisierung, erklärt der Autor, sind die Grundlagen schon lange vor dem ersten Computer gelegt worden. Nassehi verortet den Ursprung der Digitalisierung in der Sozialstatistik des 19. Jahrhunderts: Sie verwandelte den einzelnen Menschen in Daten und Zahlen, um Muster sichtbar zu machen, nach denen er sich verhält. Schon der Sozialphysiker Adolphe Quetelet hat im 19. Jahrhundert zu seinem Erstaunen erkannt, dass Faktoren wie Alter, Schicht und Status beim Heiraten eine so große Rolle spielen, dass das Verhalten der Menschen berechenbar wird. Und die moderne Form dieser Erkenntnis ist eben ein Dating-Portal.
Wer die Daten hat, kann die Fäden ziehen
Armin Nassehi ist davon überzeugt, dass die moderne Gesellschaft mit ihrem Trend zur Individualisierung, die nicht mehr zentral gesteuert werden kann, die Digitalisierung braucht, um stabil zu bleiben – damit sich Muster und Gruppen bilden über die individuellen Spuren, die jeder von uns über sein Smartphone oder bei Facebook und Co. hinterlässt. Allerdings macht das die Gesellschaft auch angreifbar – wer die Daten hat, kann die Fäden ziehen, wie bei einer Marionette.
Armin Nassehis Buch ist äußerst sachlich, fast schon trocken geschrieben, doch seine Analyse ist spannend und aufschlussreich. Er holt die Gesellschaft aus der Opferrolle heraus, in die sie mit Blick auf die Digitalisierung oft gesteckt wird. Sie lädt dazu ein, dem Phänomen Digitalisierung einmal aus einem anderen Blickwinkel auf den Grund zu gehen. Und damit auch dazu ein, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie eine moderne Gesellschaft eigentlich funktioniert und was sie zusammenhält.
Armin Nassehi: "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft"
C.H. Beck Verlag, München 352 Seiten, 24 Euro