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Armut und Reichtum
Die Kluft wird tiefer

So scharf hat schon lange niemand mehr mit der Politik abgerechnet: In einem Gutachten beklagt der Paritätische Wohlfahrtsverband die zunehmende soziale Spaltung des Landes - und dass die Vorhaben der Großen Koalition daran kaum etwas ändern.

24.04.2014
    Ein Mann sitzt an einer Hauswand und bettelt, eine schick gekleidete Frau schreitet vorüber.
    Armut und Reichtum - dicht beieinander in München (picture-alliance / dpa / Markus C. Hurek)
    Manchmal genügt ein einziger Satz, um die Haltung eines Verbandes auf den Punkt zu bringen. Im Falle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stammt er aus dem Pressestatement vom Vorsitzenden Rolf Rosenbrock: "Die Passivität der Politik, die bisweilen schon an sozialpolitische Ignoranz grenzt, ist erschreckend."
    Anders gesagt: In seinem erstmals vorgelegten Gutachten zur sozialen Lage in Deutschland lässt der Verband im Großen und Ganzen kein gutes Haar an der Politik. Die Kritik ist tatsächlich sehr umfassend formuliert:
    "Vom Betreuungsgeld bis zum „Pflege-Bahr" – wir haben für das vorliegende Gutachten alle Maßnahmen zusammengetragen, die der Gesetzgeber im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht hat. Sie werden so gut wie keine Maßnahme darunter finden, die geeignet wäre, das weitere Auseinanderdriften der Gesellschaft zu bremsen oder gar zu verhindern."
    Korrektiv zu den Wirtschaftsweisen
    Die Fakten: Das Gutachten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist ausdrücklich als Gegenstück zu den Einschätzungen der Wirtschaftsweisen gedacht. Künftig soll es jedes Jahr vorgelegt werden. Rolf Rosenbrock sieht das als Korrektiv zur - wie er es nennt - "einseitigen ökonomistischen Perspektive" der Sachverständigen.
    Und auch wenn der Befund der ersten Ausgabe von der Tendenz her nicht überrascht - das Ausmaß dürfte dennoch alarmieren. Denn: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird tiefer, immer weniger Menschen haben am wachsenden Wohlstand teil, der soziale Zusammenhalt in Deutschland ist in Gefahr.
    "Normale" Arbeit wird selten
    Im Detail liest sich das so: Zwar gab es noch nie so viele Erwerbstätige wie heute, es gab aber auch noch nie so viele prekäre Beschäftigungsverhältnisse (Mini-Jobs, Teilzeit, Befristung). Ganz "normale" Arbeitsverhältnisse sind selten geworden. Die Langzeitarbeitslosigkeit (also von einer Dauer von mehr als einem Jahr) stagniert bei mehr als einer Million Menschen, die Armutsquote hat mit 15,4 Prozent einen Höchststand erreicht. Zudem gebe es zwar, so der Verband, viel Privatvermögen im Land - dafür gelte auf der anderen Seite jeder zehnte Erwachsene als überschuldet.
    Die Abrechnung mit den Vorzeige-Projekten der Großen Koalition folgt auf dem Fuße: Es wird zu wenig gegen Langzeitarbeitslosigkeit getan. Das Thema Kinderarmut taucht im Koalitionsvertrag nicht einmal auf, die Rente mit 63 ist ein Privileg für langjährig Versicherte über 50, der Mindestlohn ist zwar begrüßenswert, hilft aber auch nicht gegen Armut (nicht zuletzt, weil nur rund 60.000 Harzt-IV-Aufstocker nicht mehr auf die Grundsicherung angewiesen sein werden). Und sogar die Energiewende läuft in den Augen des Verbandes alles andere als rund: Sozialpolitisch flankiert sei diese Wende mit Blick auf die Kosten jedenfalls nicht.