Donnerstag, 25. April 2024

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Armutszuwanderung
"Die Menschen kommen, weil sie eine Perspektive suchen"

Die Dortmunder Sozialdezernentin Birgit Zoerner sieht die Integration als größte Herausforderung bei der sogenannten Armutszuwanderung. Die Bekämpfung von Sozialmissbrauch sei wichtig, gehe am Kern des Problems vorbei, sagte Zoerner im DLF. Vielmehr müssten Strukturen aufgebaut werden, um auch geringqualifizierte Zuwanderer integrieren zu können.

Birgit Zoerner im Gespräch mit Martin Zagatta | 26.03.2014
    Martin Zagatta: Als zum Jahreswechsel die Freizügigkeit auch für Zuwanderer aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien in Kraft getreten ist, da haben vor allem die besonders betroffenen Städte wie Duisburg, Dortmund oder Mannheim Alarm geschlagen. Die CSU hat daraufhin den Slogan "Wer betrügt, der fliegt" in die Debatte eingebracht und es wurde eine Staatssekretärsrunde eingesetzt, die sich seither mit der sogenannten Armutszuwanderung beschäftigt und Lösungen erarbeiten soll. Heute hat die Bundesregierung einen Zwischenstand präsentiert.
    (Bericht von Gudula Geuther)
    Mitgehört hat Birgit Zoerner, sie ist Sozialdezernentin in Dortmund, also in einer der Städte, in denen sich besonders viele Rumänen und Bulgaren angesiedelt haben. Sie war auch an den Verhandlungen mit dem Bund in der Vergangenheit beteiligt. Guten Tag, Frau Zoerner!
    Birgit Zoerner: Guten Tag!
    Zagatta: Frau Zoerner, wenn Sie das hören, Sie sollen jetzt mehr Geld bekommen - 200 Millionen sind da im Gespräch -, sind damit oder werden damit Ihre Probleme gelöst?
    Zoerner: Erst mal hört sich das gut an, wenn man mehr Geld bekommt. Was wir natürlich genauer wissen müssten, wofür wir das Geld dann eigentlich genau bekommen. Wir haben in den Verhandlungen immer deutlich gemacht, dass wir flexible Projektmittel benötigen, damit wir auch auf die Probleme, wie sie sich darstellen, flexibel reagieren können, und das müsste man jetzt mal genauer sehen, was da jetzt eigentlich genau vorgesehen ist.
    Zagatta: Wie viel Geld brauchen Sie denn?
    Zoerner: Die Frage kann man so gar nicht beantworten. Wir haben jetzt aus dem ESF des Landes zwei Millionen Euro bekommen, um zum Beispiel Alphabetisierungskurse, Sprachkurse aufzubauen. Das ist sicherlich ein Bereich, der sehr wichtig ist. Die Frage ist ja auch immer, was kostet eigentlich gelingende Integration. Deswegen ist die Spekulation darüber, sind es dann so und so viel oder so und so viel, glaube ich, im Moment nicht hilfreich.
    Zagatta: Wenn wir da mal bei den angesprochenen Bürgern aus Rumänien und Bulgarien bleiben. Wie sieht das bei Ihnen vor Ort aus? Wie viele Menschen sind das und wie sehr belasten die die Dortmunder Stadtkasse?
    Zoerner: Das sind im Moment mit Stand Ende des letzten Monats 5179. Die Frage nach der Belastung der Stadtkasse, das ist aus meiner Sicht immer ein Stück zu kurz gesprungen, weil wir Belastungen haben zum Beispiel dadurch, dass Menschen nicht krankenversichert sind, wir sie aber hier natürlich in einer Basisversorgung haben, dadurch, dass die Beschulung intensiver ist, wenn Kinder kommen, die vorher noch nicht in der Schule waren, und so weiter und so fort. Aber der entscheidende Punkt ist der: Die Menschen kommen hier hin zu großen Teilen, weil sie hier bleiben wollen, und deswegen müssen wir hier darüber reden, wie wir Strukturen aufbauen können, dass am Ende eine gelingende Integration steht.
    Steigerung bei den Zuwandererzahlen
    Zagatta: Sie sagen, gut 5000 Menschen. Wie hat sich denn die Situation in Dortmund seit Jahresbeginn entwickelt? Hat es den befürchteten Ansturm, den viele da an die Wand gemalt haben oder den viele befürchtet haben, hat es den gegeben?
    Zoerner: Wir hatten im letzten Jahr im Durchschnitt etwa 120 Menschen aus Rumänien und Bulgarien, die dazugekommen sind, also tatsächlich im Saldo, und sehen da eine Steigerung. Es hat sich in etwa verdreifacht. Im Januar waren es dann 363 und im Februar 346. Wie sich das jetzt im weiteren Verlauf dieses Jahres darstellen wird, das muss man beobachten. Wir haben uns ja aus gutem Grund an dieser ganzen Spekulation, was wird am 1. 1. 2014 passieren, gar nicht beteiligt. Wir haben gesagt, wir werden es sehen, weil das Thema ist ja kein Thema, was erst entstanden ist am 1. 1. 2014, sondern das ist ja seitdem Rumänien und Bulgarien in 2007 beigetreten sind, das Thema des enormen Armuts- und Reichtumsgefälles in der Europäischen Union.
    Zagatta: Hat sich aber mit dem Jahreswechsel, mit der Freizügigkeit nach den Zahlen, die Sie da sagen, doch dann deutlich noch gesteigert?
    Zoerner: Ja, aber das ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Freizügigkeit gab es ja auch schon vorher und jetzt dürften die Menschen im Prinzip als abhängig Beschäftigte arbeiten. Das ist ja die Veränderung, die eingetreten ist.
    Zagatta: Warum kommen diese Menschen so gerne nach Dortmund? Werden sie dort besser oder vielleicht von den Behörden auch lascher behandelt als anderswo?
    Zoerner: Das Thema lasche Behandlung durch Behörden haben wir überhaupt nicht. Das scheint aus meiner Perspektive auch gar nicht das, worüber man tatsächlich reden muss, weil vielleicht ein Einwurf: Dass Missbrauch bekämpft werden muss, das ist doch vollkommen klar. Das tun wir ja auch.
    Zagatta: Aber die Bundesregierung hat das ja heute ausdrücklich angesprochen, genau bei diesem Thema Armutszuwanderung. Sozialmissbrauch muss bekämpft werden, Sie müssen Kindergeldansprüche besser überprüfen, Abschiebungen durchsetzen, gegen Scheinselbständigkeit vorgehen. Fühlen Sie sich da in Dortmund angesprochen?
    Zoerner: Das ist immer ein Thema, das ist überhaupt keine Frage. Aber es macht in der Dimension des gesamten Themas den deutlich geringsten Teil aus. Das muss man ganz deutlich dazu sagen. Die Menschen, die hier hinkommen, die kommen hier hin, weil sie eine Perspektive suchen, und dass man eine Perspektive sucht, ist erst mal nicht unbedingt dasselbe, dass man mit dem Ziel kommt, die Sozialsysteme zu missbrauchen. Das wirkliche Problem besteht eher darin, über wie viel Qualifikation verfügen diese Menschen, die kommen, wie viel Möglichkeiten haben sie, hier am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und so weiter und so fort. Das ist eigentlich der Schwerpunkt, den wir sehen. Dass Missbrauchbekämpfung stattfindet, das ist alles richtig, aber das geht am Kern der Problematik vorbei.
    Zentrales Problem: Wie werden Strukturen geschaffen, um die Menschen zu integrieren
    Zagatta: Wenn Sie sagen, die meisten Menschen kommen hier her, weil sie eine Perspektive suchen - die Diskussion dreht sich ja vor allem auch um die Menschen, die eventuell kommen, um das Sozialsystem zu missbrauchen. Kommen die nach Dortmund, stellen Sie das fest? Kommen die auch?
    Zoerner: Ich glaube, hier werden ein paar Sachen miteinander vermischt, die man besser auseinanderhalten sollte. Jemand, der mit einer schlechten Qualifikation kommt, der will hier unter Umständen gerne arbeiten, stellt aber bei seiner Ankunft fest, dass der Arbeitsmarkt dafür überhaupt keine Möglichkeiten darstellt. Wenn ich Kindergeld beantrage als EU-Ausländer, ist das kein Sozialmissbrauch, sondern das ist die deutsche Rechtslage, dass mir das zusteht. Ich glaube, da muss man ein bisschen genauer mal sortieren, worüber man im Einzelnen eigentlich spricht. Wie gesagt, ich bin der Meinung, dass man Missbrauch ganz klar da, wo er stattfindet, bekämpfen muss. Aber unser zentrales Problem ist: Wie kriegen wir Strukturen hin, dass wir die Menschen, die hier sind und keinen Sozialmissbrauch betreiben und das ist die absolut größere Gruppe -, integrieren können, und das ist schon eine große Herausforderung, wenn man davon ausgeht, dass wir viele Niedrigqualifizierte haben, die zu uns kommen, die die Sprache nicht sprechen, die über keine Voraussetzung verfügen, um hier am Dortmunder Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das ist eigentlich unsere Thematik und die würde ich mir auch im Mittelpunkt wünschen.
    Zagatta: Im Mittelpunkt in der Diskussion steht dennoch oft genau die andere Seite, über die Sie jetzt vielleicht weniger sprechen wollen. Was passiert zum Beispiel - die Frage ist ja zum Jahreswechsel heiß diskutiert worden -, wenn jetzt der Europäische Gerichtshof, was auch nicht ganz unwahrscheinlich ist, urteilt, egal wer hier kommt, wer auch noch nicht gearbeitet hat, hat Anspruch auf Sozialhilfe? Wäre das dann eine, wie soll ich sagen, Bedrohung klingt schlimm, aber wäre das eine Bedrohung für Dortmund?
    Zoerner: Wenn der Europäische Gerichtshof dies feststellte, dann müsste man erst mal feststellen, was er eigentlich genau festgestellt hat. Es macht auch aus meiner Sicht keinen Sinn, das dann immer im einzelnen auch spekulativ zu beantworten, sondern das Thema, was doch ganz offensichtlich auf dem Tisch liegt, ist, wie geht die Europäische Union, wie gehen die einzelnen Mitgliedsstaaten und dann auch die Städte mit der Frage um, was ist eigentlich ein soziales Europa und wie gelingt es, das was an Herausforderungen da ist auch zu lösen, weil das ist doch unser Thema. Weil wir werden Europa ja nicht mehr zurückdrehen, sondern wir müssen uns mit den Konsequenzen hier in den Städten auseinandersetzen, dass bei den Beitritten bestimmte Dinge nicht geregelt worden sind.
    Zagatta: Birgit Zoerner, die Sozialdezernentin der Stadt Dortmund. Frau Zoerner, ich bedanke mich für das Gespräch.
    Zoerner: Gerne!
    Zagatta: Schönen Tag.
    Zoerner: Ihnen auch. - Tschüß!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.