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Arno Schmit
Popstar der deutschen Nachkriegsliteratur

Arno Schmidts Leben und Werk, ein Labyrinth aus Widersprüchen, Provokationen, Experimenten und verschrobenen Eigenheiten, setzt die Schau in der Berliner Akademie der Künste genüsslich in Szene. Dabei wird auch klar: Der seit den 1970er-Jahren mythisch verehrte Schriftsteller lebte in einem ganz besonderen Universum.

Von Cornelius Wüllenkemper | 23.09.2015
    Arno Schmidt
    Der Schriftsteller Arno Schmidt (dpa)
    Einhundert Stationen über einen Autor, dessen 1970 erschienenes Hauptwerk "Zettel's Traum" allein auf 120.000 selbst verfassten und in acht Karteikästen eingeordneten Notizzetteln aufbaut - wie soll das möglich sein? Die Salzburger Autorin Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Akademie der Künste, warnte bereits vor der Eröffnung: Hier geht es keineswegs um eine Ausstellung über Arno Schmidt! Was die Schau zeige, sei vielmehr ...
    "Eindeutig ein Kosmos, darunter geht es nicht. Ein Kosmos ohne Unterlass. Ohne wirklich Zäsur, mit aufwendiger Rhythmik, sprachlichen Unterbrechungskulturen, was halt so dazugehört zu einem Weltganzen. Schwarze Löcher nicht unbedingt, aber heftige Gravitationsverhältnisse, irgendetwas wie ein hochgepitchtes Freispiel, natürlich genau justiert, Psychoanalyse als Gegenstromanlage mit Joyce-Anschluss, Karl May-Exegese, Shakespeare, Übertreibung."
    Eine Box mit Notizen des Schriftstellers Arno Schmidt, steht am 08.01.2014 in seinem ehemaligen Haus in Bargfeld (Niedersachsen).
    Arno Schmidts Zettelkasten (picture alliance / dpa / Christoph Schmidt)
    Und so gleicht die Architektur dieser Schau auch einem düsteren Weltall mit einigen erleuchteten Fixsternen, die ein wenig Orientierung versprechen. 50 Gegensatzpaare werden hier im dunklen Raum in erleuchteten Glasvitrinen präsentiert. Soldat und Dichter, Mathematik und Poesie, Branntwein und Brennglas, links und rechts, Enge und Unendlichkeit, sind nur einige der Gegensätze, die hier mal mehr, mal minder einleuchtend mit Gegenständen illustriert werden: poetische Postkarten an seinen Jugendfreund und mathematische Zeitprotokolle des eigenen Arbeitsprozesses, Zitate über sexuelle Konnotationen bei Karl May und die akribisch durchgearbeitete Ausgabe von James Joyces "Finnegans Wake", Tablettenberge, die das malade Genie zum Arbeiten brauchte und krämerisch genau beschriftete Einmachgläser aus dem Vorratskeller. Schmidts Leben und Werk, ein labyrinthisches Universum aus Widersprüchen, Provokationen, Experimenten und verschrobenen Eigenheiten, die die Schau geradezu genüsslich in Szene setzt. Der Mäzen und Literaturprofessor Jan Philipp Reemtsma, Vorsitzender der Arno Schmidt Stiftung, erinnerte sich an die erste Kontaktaufnahme zu Schmidt mit den Worten "Ich habe so etwas nie wieder erlebt."
    "Jedenfalls gelang es mir nach längerer Irrfahrt den Weiler aufzufinden, wo der Betreffende sich zurzeit aufhält. 'Jo, so wat heb wir nu im Dorf!' Hinter dem sechs Fuß hohen Zaun, Maschendraht mit zwei Schnüren Stacheldraht darüber und dann noch die verwilderte Lebensbaumhecke, typisch – ja keine cooperation – stand ein Mann. Und Sie kommen nun hier in die Akademie und wollen Antwort auf die Frage: "as für ein Mann?"
    Eine Schreibmaschine, eine Lupe und zwei Brillen liegen auf dem Schreibtisch des Schriftstellers Arno Schmidt (1914 - 1979) in seinem ehemaligen Haus in Bargfeld (Niedersachsen).
    Der Schreibtisch des Schriftstellers Arno Schmidt (1914 - 1979) in seinem ehemaligen Haus in Bargfeld (Niedersachsen). (picture alliance / dpa / Christoph Schmidt)
    Eine Frage, auf die der Besucher der Arno Schmidt Ausstellung natürlich keine Antwort erhält. Und das soll er auch gar nicht, denn ein Mythos lebt davon, dass er unantastbar ist. Arno Schmidt, so Jan Philipp Reemtsma, habe sein zehn Kilo und eine Millionen Wörter schweres Hauptwerk "Zettel's Traum" selbst gar nicht zur Lektüre vorgesehen. Wer einen Blick in die Ausgabe des Mammut-Werks wirft, bekommt eine Ahnung davon, wieso dem so ist. Schmidt stellte sein gesamtes Leben und Erleben in den Dienst seiner buchhalterisch genauen Aufzeichnungen, versuchte, durch die mikroskopisch-obsessive Ich-Betrachtung, das Wesen der Welt zu ergründen.
    "Da ist Schmidt einer unter vielen, vielen kleinen und großen Autoren, die diese existentielle Operation immer wieder unternommen haben, der aber wie wenige gerade diese Spannung bis ins stilistische Detail getragen haben. Seine suggestive, rabiate, manchmal terroristische Art Ich zu sagen, nur in der ersten Person Singular zu schreiben, diese Art Ich zu sagen, die für viele Leser zu einer Art psychagogischer Fliegenfänger wurde."
    Und dies gelang dem anfangs bitterarmen und spätestens ab den 1970er-Jahren mythisch verehrten und großzügig geförderten Autor immer besser. Diese Schau bleibt – wie angekündigt - ein Annäherungsversuch. Wer den Subtext des düsteren Schmidt-Universums liest, findet dafür umso erleuchtendere Erzählungen über eine politisch und kulturell zutiefst verstörte Nachkriegsgesellschaft und ihre Suche nach neuen Feind- und Vorbildern. Arno Schmidt erscheint in dem Sinne als der erste Popstar der deutschen Nachkriegsliteratur.
    Die Ausstellung
    Arno Schmidt: Eine Ausstellung in 100 Stationen
    ist noch bis zum 10. Januar 2016 in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen.