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Ascaris lumbricoides
Der Wurm im Gallengang

Es beginnt mit einem merkwürdigen Druck auf den Bauch. Später kommen Durchfälle dazu. Was nach einem üblichen Magen-Darm-Infekt klingt, entpuppt sich in seltenen Fällen als Störenfried, der hierzulande zwar selten ist, aber dennoch vorkommt: Ein Spulwurm im Zwölffingerdarm.

Von Thomas Liesen | 30.06.2015
    "Im Ultraschall hatte der Kollege nichts sehen können."
    "Das ist mir noch nicht passiert, auch wenn ich 20 Jahre im Beruf bin."
    "Das war natürlich schon eine große Überraschung, um nicht zu sagen, kleiner Schock, weil man so was sehr selten zu Gesicht bekommt."
    Es fing an mit einem merkwürdigen Druck auf dem Bauch. Dazu Durchfälle. Doch Hanna Gerold kann sich nicht erinnern, etwas Besonderes gegessen zu haben. Sie hat in letzter Zeit auch kein Restaurant besucht. Fast fühlt es sich an wie Gallenbeschwerden, dachte die 61-Jährige. Doch die Galle war ihr ja vor einiger Zeit heraus operiert worden.
    "Das Erste, woran man denkt, ist natürlich eine Erkrankung des Magen-Darm-Traktes und es bleibt dann eigentlich gar nichts anderes übrig, als den Patienten zu fragen, ob es sich eher um ein akut einsetzendes Krankheitsbild handelt oder eher um etwas Längerwieriges."
    Prof. Frank Schmitz, Chefarzt des Darmzentrums an der Helios-Klinik Hildesheim. Tatsächlich laborierte Hanna Gerold schon seit einigen Wochen mit ihren Beschwerden herum. Sie hatte schon zahlreiche Untersuchungen hinter sich, vom Ultraschall bis zum Kernspin – ohne handfestes Ergebnis. Schließlich überweist sie ihr Hausarzt ins Darmzentrum Hildesheim. Oberarzt Dr. Stefan Köppen sichtet dort zunächst die Untersuchungsberichte.
    "Im Ultraschall hatte der Kollege nichts sehen können, im CT-Befund war vom Radiologen auch nichts Auffälliges beschrieben worden, wohingegen in der Kernspinuntersuchung im Gallengang kleinere Auffälligkeiten gesehen worden sind, die dann vom befundenden Radiologen als narbige Veränderungen gedeutet wurden."
    Vielleicht ein ungewöhnlicher Magen-Darm-Erreger?
    Wohl Überbleibsel der Gallen-OP, glaubt Stefan Köppen. Er ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die angeblichen Narben noch der Schlüssel zur Diagnose sein werden. Zunächst konzentrieren er und sein Kollege Frank Schmitz sich auf die wahrscheinlichste Erklärung für die Beschwerden: Eine Magen-Darm-Infektion, vielleicht durch einen ungewöhnlichen Erreger:
    "Was man als Tropenmediziner, Infektiologe, die wir ja auch sind, vielleicht dann noch fragt, ist eine Reise-Vorgeschichte, Reise-Anamnese, ob die Patientin im Ausland war, was in diesem Fall nicht der Fall gewesen war."
    Die Patientin gab sogar an, noch nie im Ausland gewesen zu sein. Eine Infektion durch irgendwelche exotischen Erreger schien damit erst einmal ausgeschlossen. Also zur Sicherheit nochmal ein Ultraschall sämtlicher Organe im Oberbauch: Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse, entscheiden die Ärzte.
    "Hier war es so, dass der Gallengang etwas erweitert war, was allerdings nach einer Gallenblasen-Entfernung auch nicht weiter verwunderlich ist, der ist oft etwas erweitert. Allerdings fiel im Gallengang eine Struktur auf, eine längliche Struktur. Die man aber jetzt nicht weiter zuordnen konnte."
    Also wieder das, was dem Radiologen als "narbige Veränderung" aufgefallen war. Stefan Köppen will es jetzt genau wissen. Er empfiehlt der Patientin eine Untersuchungsmethode namens ERCP. Sie verläuft ähnlich wie eine Magen- oder Darmspiegelung: Ein Endoskop wird eingeführt, das an der Spitze mit Mini-Scheinwerfer und Kamera ausgestattet ist. Der Arzt kann über einen Monitor die Reise des Endoskops durch den Körper verfolgen, bis hin zu dem feinen Ausführgang der Galle – dort, wo diese obskure Wucherung bei Hanna Gerold sitzt.
    "Und dann geht man mit einem Katheter in den Gallengang, spritzt Kontrastmittel rein und kann dann unter Röntgenkontrolle die Gallengänge beurteilen."
    "...in den Zwölffingerdarm hereinragte und mich sozusagen anguckte"
    Genau das macht Stefan Köppen schließlich. Hanna Gerold schläft, sie ist in Vollnarkose. Stefan Köppen schiebt das Endoskop vorsichtig immer weiter vor. Schließlich ist er kurz vor dem Ziel. Was er dann sieht, haben weder er, noch sein Kollege Frank Schmitz erwartet:
    "Das ist für unsere Breiten schon ein ungewöhnlicher Befund"
    Köppen: "Zu meiner großen Überraschung fand ich bei dieser ERCP, als ich mit dem Endoskop in den Zwölffingerdarm vorgespiegelt habe, einen Wurm, der aus dem Gallengang in den Zwölffingerdarm hereinragte und mich sozusagen anguckte. Nach dem ersten Schock ging natürlich der nächste Griff dann zur Zange, die man dann aber in den Arbeitskanal des Endoskopes einführen kann, um den Wurm am Schlafittchen zu greifen und dann mit dem Endoskop zusammen herauszuziehen."
    Schließlich liegt der Wurm in einer OP-Schale. Es ist geradezu das Prachtexemplar eines Spulwurms, wissenschaftlich exakt Acaris lumbricoides. Seine Länge: fast 25 Zentimeter. Und dick wie ein Bleistift. Weltweit sind Abermillion Menschen mit Spulwürmern infiziert, doch hierzulande ist er eine absolute Seltenheit. Wo um alles in der Welt kann sich Hanna Gerold infiziert haben? Wie kommt ein Wurm aus fernen Breiten in den Gallengang eines absoluten Reisemuffels?
    "Die Patientin gab an, dass sie seit Jahren diese abgepackten Fertigsalate zu sich nahm, und das ist für uns die einzige Erklärungsmöglichkeit."
    Tatsache ist: Die Infektion erfolgt über Wurmeier. Und die finden sich im Kot infizierter Menschen. Wenn es der Salat war, muss er mit infiziertem Kot verseucht gewesen sein. Offenbar wird in manchen südlichen Ländern, die uns mit Salat beliefern, menschlicher Kot als Dünger verwendet. Frank Schmitz:
    "Die südlichen Mittelmeer-Anreinerstaaten sind Herkunftsländer für Salate mit einem erhöhten Risiko, diese Infektionen zu übertragen."
    Fertigsalat ist also die wahrscheinliche Quelle für Hanna Gerolds Infektion, der letzte Beweis fehlt allerdings. Immerhin: Mit dem Fund des Wurms gehören ihre Bauchbeschwerden der Vergangenheit an. Sie bekommt zur Sicherheit nur noch eine medikamentöse Entwurmungskur verschrieben.
    Köppen: "Ich hatte die Patientin ein paar Wochen später mal angerufen, der ging es da wieder blendend."