Dienstag, 19. März 2024

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Asiatische Odyssee

Ich führe es auf den Einfluss meines Vaters zurück, der uns als Kinder zum Schlafengehen nie etwas vorlas, sondern Geschichten selbst erfand. So erlebte ich von klein auf, wie man seine Phantasie einsetzen kann, um Figuren und Orte und Geschichten mit einem offenen Ende zu erschaffen, denn er sagte immer: morgen Abend werde ich sie beenden, mein Sohn, aber die Geschichte lief wochenlang weiter, ohne zuende zu gehen. Ich denke, ich lernte dabei auch etwas darüber, wie man einen Plot vorbereitet und seine Kräfte einteilt.

Johannes Kaiser | 12.04.2004
    Das väterliche Vorbild animierte den auf einer kleinen Farm in Südaustralien aufgewachsenen Garry Disher offenkundig, sich eigene Geschichten auszudenken. Der 54jährige, ein ruhiger, bescheidener Mann, der sich im Interview eher zurückhält, schreibt gerne und viel – angesichts des kleinen australischen Büchermarktes eine Überlebensnotwendigkeit als Autor. Dass er allerdings gleich in drei sonst fein säuberlich von einander geschiedenen Literaturgenres reüssierte, ist ausgesprochen ungewöhnlich.
    Ich schreibe für drei verschiedene Gattungen, Prosaliteratur und Krimis für Erwachsene und Bücher für Kinder und Heranwachsende. Das liegt auch daran, dass ich ganz professionell als Schriftsteller verschiedene Märkte bediene, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber ich sehe mich andererseits auch nicht als Lohnschreiber, der Bücher am Fließband produziert. An jedem Buch, egal ob es sich um ein Kinderbuch, einen Krimi oder ein literarisches Werk handelt, arbeite ich so hart, wie mir möglich ist. Jedes Buch ist für mich eine Herausforderung. Hinter jedem Buch steckt eine ernsthafte Absicht. Unglücklicherweise bedeutet es, dass ich leicht entweder als Kinderbuchautor oder als Krimischriftsteller abgestempelt werde und die andere Literatur wird übersehen oder ignoriert. Das kann ein Problem sein.

    Über zwei Dutzend Bücher hat Garry Disher inzwischen in Australien veröffentlicht. Dazu gehören mehrere Bände mit Erzählungen, vier belletristische Romane, eine ganze Reihe Schul- und Kinderbücher sowie zwei Krimiserien. Eine Handvoll davon ist übersetzt. Dazu gehören einige seiner Krimis um den Profikriminellen Wyatt, eine Art eiskalter Engel ohne jegliche Skrupel, hochintelligent, abgebrüht, ein faszinierend unmoralischer Held in der Welt des Verbrechens. Der Titel ‚Gier’ brachte Garry Disher 2000 zum ersten Mal den Deutschen Krimipreis ein. Ende des Jahres wird als vierter Titel ‚Willkür’ erscheinen – Wyatt hat das Zeug zur Kultfigur:

    In den sechs Wyatt-Romanen geht es mir darum, ob er damit durchkommt, immerhin ist er ein Profiverbrecher, der Banken und Lohngeldtransporter ausraubt. Ich vermute, der Reiz lag für mich in der moralischen Doppeldeutigkeit, wie sie einige amerikanische Krimis zeigen, in denen die Guten die Bösen und die Bösen die Guten sind. Es ist eine Grauzone, die mir gefällt. Ich habe eine Reihe treuer Leser, die zwar nicht mit ihm übereinstimmen, aber doch wünschen, dass er gewinnt. Und genau das versuche ich zu erreichen. Um es zu genießen, Krimis zu lesen und Spaß daran zu haben, sie zu schreiben, muss man die dunkleren Seiten in sich selbst ansprechen. Viele von uns finden es verführerisch, das perfekte Verbrechen zu begehen oder sich an jemandem zu rächen, der uns übel mitgespielt hat. Ein Schriftsteller geht in seiner Phantasie noch einen Schritt weiter. Er setzt das um.

    Garry Disher reizte aber auch die andere Seite. Mit dem Kriminalinspektor Hal Challis schuf er einen sympathischen verqueren Ermittler mit Beziehungsproblemen, der im ersten Fall ‚Der Drachenmann’ verzweifelt versucht, einen Psychopathen zu schnappen, der in seinem ländlichen Bezirk grausam Frauen missbraucht und ermordet. Für diesen Roman erhielt der Autor letztes Jahr dann zum zweiten Mal den Deutschen Krimipreis. Jetzt könnte er ihn zum dritten Mal bekommen, wenn denn allein Spannung und Tempo und Plot zählten. Gary Dischers gerade in Übersetzung erschienener Roman ‚Hinter den Inseln’ besitzt all diese Ingredienzien, ohne dass es dabei allerdings um einen Kriminalfall geht oder anders formuliert, die Verbrechen, die stattfinden, sind völkerrechtlicher Natur. Sie sind Ergebnis des 2. Weltkriegs.

    Der Roman spielt in Asien. Japan überfällt die Kolonien des britischem Empire. Neil Quiller, Pilot der Royal Airforce wird in Malaya über dem Dschungel abgeschossen. Ein britischer Spion hat ihn verraten. Mit Mühe und Glück gelingt es ihm, sich nach Singapur durchzuschlagen. Dort trifft er auf seinen Cousin Cameron, auf dessen australischer Farm er aufgewachsen ist und dessen Frau er heimlich angebetet. Jetzt allerdings verliebt er sich in eine chinesische Prostituierte, der er, kurz bevor die Stadt in die Hände der Japaner fällt, zur Flucht verhelfen kann. Auch ihm selbst gelingt es noch zu entkommen. Doch dann beginnt eine abenteuerliche Odyssee durch die asiatische Inselwelt. Der Roman entwickelt einen enormen Sog. Garry Disher hat beim Krimischreiben gelernt, dramatische Spannung zu erzeugen.

    Ich denke, alle Schriftsteller können von Krimiautoren eine Menge lernen. Ich lese oftmals sogenannte literarische Romane, die sehr dicht und reich an Charakterstudien, Ideen usw. sind, aber sehr armselig, was die Geschichte angeht. Es fehlt ihnen an Spannung, die jede gute Geschichte mit sich bringen kann. Ich denke, gute Schriftsteller können von Krimiautoren etwas über Plot und Struktur lernen.

    Natürlich beschränkt sich Garry Disher nicht darauf, Spannung zu erzeugen. Ihm geht es um weit mehr: sein Held Neil erfährt, wie unter der ständigen Todesdrohung des Krieges die Menschen ihr wahres Gesicht zeigen. Er wächst an den Herausforderungen, findet ein Stück zu sich selbst.
    Auch wenn ich oftmals ein Buch vor einem historischen Hintergrund spielen lasse, bin ich doch vor allem daran interessiert, wie Menschen miteinander umgehen, wie Liebe z.B. fehl laufen kann. Ich denke, ein weit verbreitetes Thema aller Literatur ist die Suche nach der wahren Heimat. Das kann ein Ort sein oder es können die Arme eines Geliebten sein oder der Seelenfrieden oder ein bestimmter Glauben. Ich meine, das ist es doch, wonach die Figuren in der Literatur normalerweise suchen. In meinem Buch ‚Hinter den Inseln’ geht es um einen jungen Mann, der in England von einer australischen Mutter geboren worden ist, es gibt also so etwas wie doppelte Identität und der, als er Waise wird, nach Australien zurückgeschickt wird, um bei seinen Cousins aufzuwachen. Er fühlt sich also weder in England noch in Australien richtig heimisch. Als der 2. Weltkrieg beginnt, kehrt er nach England zurück, um sich der Royal Airforce anzuschließen und er wird nach Malaya geschickt. Er ist also ständig entwurzelt, ist sich nie sicher, wohin er gehört und in gewisser Weise ist das Pilotsein noch eine zusätzliche Entfremdung vom Boden, von einem Ort.

    Als der junge Pilot schließlich in Australien ankommt, kann er nur mit Mühe den Vorwurf entkräftigen, desertiert zu sein. Er kehrt desillusioniert zur Farm zurück. Auch hier hat der Krieg seine Spuren hinterlassen. Dennoch findet Neil endlich zu einer Art innerer Ruhe. Garry Disher gönnt uns eine Art happy end. Nach all den dramatischen Ereignissen, die der Leser mit zu durchleiden hatte, scheint das mehr als verdient.

    Garry Disher
    Hinter den Inseln
    Unionsverlag, 383 S., EUR 19,90