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Asien
Inselstreit im chinesischen Meer

Sie heißen Diaoyu-, Diaoyutai- oder Senkaku-Inseln: eine Gruppe kleiner, unbewohnter Inseln und Felsriffe im chinesischen Meer. Von der Volksrepublik China, von Japan und auch von Taiwan werden sie zum jeweils eigenen Hoheitsgebiet erklärt. Über die Hintergründe dieses Regionalkonflikts.

Von Dagmar Lorenz | 27.04.2014
    Blick von oben auf die Insel Uotsuri, die Teil der Senkaku-Inseln ist.
    Die Insel Uotsuri ist Teil der umstrittenen Insel-Gruppe. (picture alliance / dpa )
    "Seit den Fürsten Wei, Xuan und dem König Zhao von Yan fing man damit an, Leute aufs Meer hinauszusenden, um nach den drei Geisterbergen zu suchen, die angeblich im Bohai-Meer liegen sollen. Sie sind gar nicht weit von den Menschen entfernt, das Schlimme besteht nur darin, dass in dem Augenblick, da man sie beinahe erreicht hat, das Schiff von einem Wind erfasst und weggetragen wird. Einmal aber gab es Schiffsleute, die ganz nahe herankommen konnten. Da sahen sie, dass auf den Inseln nur Unsterbliche wohnen, die die Medizin des ewigen Lebens erlangt haben. Alle Wesen dort, Vögel und Tiere, sind von klarstem Weiß, die Paläste und Tore aus reinstem Gold und Silber. Die Schiffsleute waren aber noch nicht gelandet, sondern sahen all das nur in wolkenhafter Ferne. Als sie wirklich angelangt zu sein glaubten, versanken jedoch die drei Geisterberge im Wasser und ein Gegenwind trieb das Boot ab. Sie gelangten niemals wieder dort hin."
    Von sagenhaften Inseln, ihrer Verheißung und einer Fata Morgana erzählt der altchinesische Gelehrte Si Ma Qian in seinem berühmten Geschichtswerk aus dem 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Doch nicht nur in der Legende mischen sich Fakten und Fiktionen. Dass scheinbar klar umrissene Gegenstände umso unschärfer erscheinen, je genauer man sie fokussiert, ist eine Erfahrung, die man gut und gerne auch auf die Konfrontation zwischen China und Japan anlässlich des Inselkonflikts im chinesischen Meer anwenden kann.
    Drei Namensgeber für eine Inselgruppe
    Eine unbewohnte Inselgruppe im chinesischen Meer, bestehend aus fünf kleinen Inseln und drei Felsenriffen - die größte Insel umfasst 4,32 Quadratkilometer. Ihre Lage: etwa 120 Seemeilen nordöstlich von Taiwan, etwa 200 Seemeilen östlich vom chinesischen Festland und etwa 200 Seemeilen südwestlich von der japanischen Insel Okinawa entfernt. Der Blickwinkel entscheidet über die Namensgebung: Diaoyu heißen sie in der Volksrepublik China, Diaoyutai-Inseln auf Taiwan, und Senkaku-Inseln werden sie in Japan genannt.
    Ansprüche auf diese Inselgruppe, in deren Umgebung reiche Öl- und Gasvorkommen vermutet werden, erheben alle drei Namensgeber: Die Volksrepublik China argumentiert, dass die Inseln bereits im 14. Jahrhundert von chinesischen Seeleuten entdeckt worden seien und in den folgenden Jahrhunderten wiederholt als Teile des chinesischen Kaiserreiches dokumentiert wurden. Taiwan, das von der Volksrepublik China als abtrünnige Provinz betrachtet wird, sich als Republik China jedoch ebenfalls als Nachfolge-Nation des chinesischen Kaiserreichs begreift, beansprucht die Inseln mit ähnlichen Argumenten.
    Hingegen begründet Japan seine Ansprüche mit den Fakten der Moderne: 1895 erklärte die japanische Regierung die Inselgruppe zum japanischen Hoheitsgebiet. Nur wenig später kaufte ein japanischer Unternehmer vier der fünf Inseln und errichtete darauf eine Fischfabrik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Inseln unter US-amerikanische Militärverwaltung gestellt. 1972 erfolgte die Rückgabe gemeinsam mit Okinawa durch die USA an Japan - ungeachtet der Ansprüche, die sowohl Taiwan, als auch die Volksrepublik China angemeldet hatten. Während sich das kleine Taiwan aufgrund seiner schwächeren außenpolitischen und militärischen Position inzwischen jedoch eher als Vermittler im Inselkonflikt sieht, kommt es spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre zur latenten Konfrontation zwischen Festland-China und Japan. Damals begann China, in der Nähe der Inseln nach Erdöl zu bohren. Japanische Ultranationalisten wiederum errichteten symbolisch einen Leuchtturm auf einer der Inseln. Sowohl China als auch Japan erklärten die Inseln zu ihrer jeweils ausschließlichen Wirtschaftszone - wenngleich ein provisorisches Fischereiabkommen im Jahre 1997 die Situation zunächst scheinbar entspannte.
    Erste Erkundung - Eruptionen an der Oberfläche: Der Streit
    Im April 2012 gibt der nationalistische Gouverneur von Tokio bekannt, dass die Präfektur beabsichtige, drei der Inseln von ihrem japanischen Besitzer zu kaufen, um sie angeblich zu schützen und zu verhindern, dass sie eventuell von China oder Taiwan erworben würden. Im Juli desselben Jahres dringen chinesische Patroullienboote in die Gewässer um die Inseln vor. Im August 2012 hält die japanische Küstenwache sieben Tage lang einige Demonstranten aus Hongkong fest, weil sie eine der Inseln betreten hatten. Auch 150 japanische Nationalisten stürmen - trotz aller Verbote - ein Eiland, errichten einen Leuchtturm und hissen die japanische Nationalflagge. Im September kündigt die damalige japanische Regierung an, dass sie selbst die Inseln für den japanischen Zentralstaat erwerben werde. Auf diese Weise hofft die damalige japanische Regierung, den Ultranationalisten im eigenen Land den Wind aus den Segeln zu nehmen und zugleich die außenpolitische Situation zu entschärfen. Die Antwort Chinas: Japan habe kein Recht zum Ankauf der Inseln, denn Letztere seien "seit alten Zeiten integraler Bestandteil des chinesischen Staatsgebiets."
    Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums gibt außerdem bekannt:
    "Die chinesische Regierung wird weiter die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Souveränität der Diaoyu-Inseln und der angrenzenden Inseln zu schützen."
    Die japanische Regierung indes wird mit dem Verkäufer handelseinig: Umgerechnet 26 Millionen Dollar kosten den japanischen Staat die Verstaatlichung von drei Inseln - die Risiken aus der Verschärfung des Konflikts mit China nicht mit eingerechnet.
    In chinesischen Großstädten skandieren Zehntausende von Demonstranten wochenlang antijapanische Parolen. Japanische Firmen schließen sicherheitshalber ihre Niederlassungen. Immer mehr chinesische Schiffe patrouillieren in den Gewässern rund um die Inselgruppe. Auch Taiwan beteiligt sich wieder. Taiwanesische Fischer- und Patrouillenboote liefern sich mit der japanischen Küstenwache kleinere Scharmützel mit Wasserwerfern, ziehen sich aber dann zurück.
    Militärische Drohgebärden
    Doch der Konflikt zwischen China und Japan eskaliert weiter: Die chinesische Marine manövriert rund um die Inselgruppe. Ein militärischer Zusammenstoß wird gerade noch vermieden, nachdem ein chinesisches Kriegsschiff ein japanisches Schiff ins Visier genommen hat. Die Vereinigten Staaten, die sich diplomatisch längst eingeschaltet haben, entsenden einen Flugzeugträger vor die Küste Vietnams: auch weil sich die Situation um die ebenfalls strittigen Spratly-Inseln im südchinesischen Meer wieder verschärft.
    November 2013: China richtet eigenmächtig eine Luftverteidigungszone ein - und gibt Regeln vor, nach denen sich alle Flugzeuge, welche die Zone durchqueren, bei den Chinesen anmelden müssen. Wer sich nicht daran halte, so Peking, müsse mit militärischen Maßnahmen rechnen. Die ausgewiesene Zone überlappt übrigens nicht nur die von Japan eingerichtete Zone über den Inseln, sie umschließt auch eine weitere zwischen China und Südkorea strittige Felsformation im Meer. Nachdem seine Proteste kein Gehör finden, reagiert Südkorea mit der Ausweitung seiner eigenen Luftraumüberwachungszone auf die von China beanspruchte Felsformation. China wiederum schickt Militärjets, um die Beachtung seiner Regeln zu erzwingen, droht mit einem Kalten Krieg in der Region und mit militärischer Durchsetzung. Unnachgiebig zeigt sich auch die chinesische Regierung gegenüber der amerikanischen Diplomatie. Im März erklärte 2014 der chinesische Außenminister Wang Yi:
    "Wir werden uns nichts nehmen, was uns nicht gehört, aber wir werden jeden Zentimeter des Territoriums verteidigen, das uns gehört."
    Zweite Erkundung - Pazifische Unruhe: China und das Meer
    Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsgipfel in Davos sorgt der japanische Premierminister Shinzo Abe für Nervosität unter seinen westlichen Gesprächspartnern, als er die zunehmenden Spannungen zwischen China und Japan mit der Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs vergleicht, wobei er China die Rolle des auftrumpfenden wilhelminischen Kaiserreichs zuweist. So schockiert auch die westlichen Medien im Gedenkjahr des Kriegsausbruchs von 1914 auf solche Äußerungen reagierten: Die von Abe provozierte historische Analogie wurde durchaus auf ihre mögliche Plausibilität hin diskutiert. Hatte nicht US-Außenminister John Kerry angesichts der von China einseitig ausgerufenen Luftverteidigungszone den Vorwurf erhob, dass China beabsichtige, den Status quo im ostchinesischen Meer zu verändern? Und erinnerte das Säbelrasseln Chinas nicht an die Drohgebärden des deutschen Kaiserreichs, das als verspäteter Nationalstaat in den Kreis der damaligen Großmächte hineindrängen wollte? Nicht zufällig heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Studie der Stiftung für Wissenschaft und Politik:
    "Chinas Aufstieg droht eine alte Ordnung zu zerstören und damit - wie einst das Deutsche Reich - einen Kriegsgrund zu schaffen."
    Selbst die Absicht, mit militärischen Mitteln aus einer geopolitischen Einkreisungssituation auszubrechen, so der Autor der Studie Michael Paul, erinnere an die Ängste des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg. Im Falle Chinas sei dies die sogenannte Inselkette im chinesischen Meer, die sich auf einer Nord-Süd-Linie von den Kurilen über Japan, Taiwan und die Philippinen bis nach Indonesien erstrecke.
    "Chinas Marine feiert jedes Manöver, bei dem ihre Schiffe - wie Ende November 2013 der Flugzeugträger Liaoning auf seinem ersten Seemanöver - auf den Pazifik hinausfahren, als Durchbruch eben dieser Kette."
    Wie auch immer man die historischen Parallelen betrachten mag, Tatsache ist: Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas in nur wenigen Jahrzehnten von einem Entwicklungsland zu einem Global Player in der Weltwirtschaft war unter dem früheren chinesischen Reformpolitiker Deng Xiaoping an außenpolitische Zurückhaltung gebunden. Dies hat sich längst geändert. Militärische Stärke spielt eine zusehends bedeutendere Rolle in der chinesischen Außenpolitik. Die forcierte Modernisierung der chinesischen Streitkräfte ist hierfür ebenso ein Indiz wie die kontinuierliche Steigerung des Militärhaushalts.
    Eine besondere Brisanz kommt all dem zu, wenn man bedenkt, dass sich China mit zahlreichen Anrainerstaaten des süd- und ostchinesischen Meeres bisher nicht auf verbindliche Grenzverläufe einigen konnte. Dies sorgt für latente Spannung in der Region - ungeachtet der Tatsache, dass sowohl China, als auch Japan und Südkorea als "ASEAN plus Drei" seit 1997 gemeinsame Konferenzen mit den inzwischen zehn südostasiatischen Staaten der ASEAN-Gemeinschaft abhalten, die seit 1967 als kooperativer Zusammenschluss asiatischer Handels- und Wirtschaftspartner gegründet wurde. Wie wenig allerdings selbst internationale Vereinbarungen zur Klärung von Grenzverläufen in der Region beitragen, belegt beispielsweise der Streit zwischen China und den Philippinen.
    Wirtschaftszonen der jeweiligen Küstenstaaten
    Beide Staaten ratifizierten einst das Seerechtsabkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1982, wonach jeder Küstenstaat über eine "ausschließliche Wirtschaftszone" verfügen darf, die sich von den Küsten 200 Seemeilen ins Meer erstreckt. Innerhalb dieser Zone darf ausschließlich das betreffende Land die dort vorhandenen Rohstoffe im Wasser und im Meeresboden ausbeuten. Doch immer häufiger schafft China Tatsachen, die nicht derartigen Verträgen entsprechen, sondern eher dem, was Peking als historisches Gewohnheitsrecht betrachtet. So besetzte China im Jahre 1995 das von den Philippinen beanspruchte Mischief-Riff, im April 2012 das Scarborough Riff, das laut philippinischer Darstellung ebenfalls Teil der philippinischen Wirtschaftszone ist. Und erst kürzlich protestierte China heftig, als ein Schiff der philippinischen Marine die Blockade chinesischer Schiffe durchbrach, um ein Kontingent philippinischer Soldaten auszutauschen, die auf einem verrosteten Schiffswrack aus dem Zweiten Weltkrieg stationiert sind. Das Wrack hatten die Philippinen 1999 als Protest gegen die chinesischen Territorialansprüche in den Meeresboden gerammt.
    Freilich: Ein im Gegensatz zu China schwacher Staat wie die Philippinen hat solchen Ausdehnungsansprüchen militärisch nur wenig entgegenzusetzen und begnügt sich zur Zeit mit einer Klage vor dem UN-Schiedsgerichtshof in Den Haag. Doch die Ambitionen Chinas im süd- und ostchinesischen Meer betreffen langfristig nicht nur die viel befahrenen Handelsrouten der Region, sie veranlassen auch Staaten wie die Philippinen oder Malaysia, sich wieder verstärkt der Schutzmacht USA zuzuwenden - und damit genau das zu tun, was den Interessen der aufstrebenden Großmacht China eigentlich zuwiderläuft.
    Es ist eine paradoxe Situation: Bei all dieser militärisch-politischen Konfrontation ist die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den jeweiligen Konfliktparteien aktuell so eng wie noch nie in der neueren Geschichte dieser Region. Doch auch in dieser Hinsicht lehrt die europäische Geschichte, dass funktionierende Wirtschaftsbeziehungen kein Garant für außenpolitische Stabilität sein müssen.
    Dritte Erkundung: Ein Territorium wird zur Geschichtserzählung
    Als im März dieses Jahres der chinesische Volkskongresses in Peking tagte, machte der chinesische Außenminister Wang Yi auf seiner Pressekonferenz im Hinblick auf den Inselstreit mit Japan klar:
    "In beiden Grundsatzfragen, Geschichte und Territorium, gibt es keinen Raum für Kompromisse."
    Zugleich lieferte er die Antwort auf Shinzo Abes Weltkriegsvergleich:
    "2014 ist nicht 1914 und noch weniger 1894."
    Was die Worte des chinesischen Außenministers hier einmal mehr verraten: Das aktuelle Selbstbild Chinas ist in geradezu obsessiver Weise an seine Geschichte im 19. Jahrhundert gekoppelt. Und für deren Traumata steht nicht in erster Linie die Jahreszahl 1914, sondern das Jahr 1894. Das war das Jahr, in dem das damals noch kaiserliche China in einem See- und Landkrieg um Korea gegen die damalige industrielle Aufsteigernation Japan antrat - und ein Jahr später vernichtend geschlagen wurde.
    Für die einstige chinesische Großmacht in Ostasien bedeutete diese Niederlage eine besondere Demütigung. Jahrhundertelang hatte Japan - wie übrigens auch alle anderen an das chinesische Kaiserreich angrenzenden Staaten und Regionen - unter dem kulturellen Einfluss Chinas gestanden, hatte unter anderem im 6. und 7. Jahrhundert die konfuzianische Ethik, das Schriftsystem und den chinesischen Buddhismus importiert.
    Aus traditioneller chinesischer Perspektive war Japan damit in ein idealtypisches Modell integriert, das auf der Vorstellung von einem universalistisch ausgerichteten Großreich beruhte, das von einer zentralen Instanz, dem Kaiser in seiner Hauptstadt, gelenkt wurde. Kraft seiner überlegenen Zivilisation, Bildung und Ethik, so etwa lautet diese Fantasie, beherrscht dieses Kaisertum sämtliche Völker innerhalb und außerhalb Asiens angefangen vom Zentrum bis hin zur Peripherie. Dass der reale Verlauf der chinesischen Geschichte dieser Fantasie häufig widersprach, dass die kulturell fruchtbarsten Strömungen chinesischer Kultur sich häufig nicht im politischen Rahmen eines Zentralstaats entwickelten, tat dieser Fantasie - die übrigens gerade im kommunistischen China von heute gepflegt wird - keinen Abbruch.
    Entsprechend tief war die Kränkung der intellektuellen Elite Chinas, als im 19. Jahrhundert die technologisch-militärische Überlegenheit europäischer Großmächte offenbar wurde und das chinesische Kaiserreich sich innerhalb weniger Jahrzehnten auf das Niveau eines Spielballs westlicher Machtinteressen gedrückt empfand. Noch demütigender aber erschien die Niederlage gegenüber einem ostasiatischen Land, das man bisher als eine Art kultureller Vasall betrachtet hatte, und das nun dem chinesischen Kaiserreich im Vertrag von Shimonoseki unter anderem Taiwan, die vorgelagerten sogenannten Pescadores Inseln sowie eine immens hohe Entschädigung abnötigte - und im selben Jahr, 1895, auch die Diaoyu/Senkaku-Inseln in sein Staatsgebiet eingliederte.
    Symptomatisch für die Präsenz dieses Geschichtstraumas im China von heute ist die Tatsache, dass der Fall eines Weltreiches in demütigende Abhängigkeiten, auch im chinesischen Alltag immer wieder hochemotional beschworen wird: Sei es im staatlich gelenkten Erziehungswesen, in populären Fernseh-Soaps, in Internetforen, in Büchern und Filmen. Dahinter wird das Bedürfnis nach einer Art von historischer Kompensation sichtbar, nach einer Korrektur des Geschichtsverlaufs. Nicht zufällig verweist so mancher chinesische Gesprächspartner darauf, dass China nun - nach über einem Jahrhundert - endlich wieder in der Lage sei, seine angeblich historisch legitimierte Stellung in Ostasien und der Welt zurückzugewinnen.
    Inselstreit in chinesischen und japanischen Schulbüchern
    Dass der Inselstreit auch für Japan symbolisch aufgeladen ist, zeigen nicht zuletzt auch die provozierenden Gesten der japanischen Regierung unter Shinzo Abe. So hat das japanische Bildungsministerium die Überarbeitung von Schulbüchern angekündigt. In den neuen Büchern sollen die Senkaku-Inseln künftig als integraler Teil des japanischen Territoriums bezeichnet werden. Die chinesische Reaktion auf diese Meldung blieb nicht aus: Chinesische Antiquare, so heißt es in den chinesischen Medien, fordern seither, dass chinesische Schulbücher künftig einen historischen Text aus der Qing-Dynastie enthalten sollten, der die Zugehörigkeit der Diaoyu-Inseln zum chinesischen Kaiserreich bereits für das Jahr 1808 belege.
    Schulbuch-Inhalte dienten im chinesisch-japanischen Verhältnis schon wiederholt als Anlässe für diplomatische Turbulenzen - vor allem dann, wenn es sich um die Darstellung des zweiten chinesisch-japanischen Krieges handelte, der in China mit noch weitaus gravierenderen Traumata verbunden ist als die Niederlage von 1895 im ersten japanisch-chinesischen Krieg.
    Zwischen zehn und 20 Millionen Chinesen - die meisten von ihnen Zivilisten - starben zwischen 1937 und 1945, als Japan die ersten Feuergefechte provozierte und als die letzten japanischen Truppen auf dem chinesischen Festland kapitulierten. Die Degradierung der Mandschurei zu einem japanischen Marionettenstaat, der menschenverachtende Rassismus des mit Hitlerdeutschland verbündeten japanischen Kaiserreiches, die Gräueltaten der japanischen Armee an chinesischen Frauen und Kindern wie etwa während des Massakers von Nanjing, die biologischen Experimente an chinesischen Gefangenen, die Einrichtung von Zwangsbordellen in den von Japan besetzten Gebieten - all diese Verbrechen werden in der japanischen Gesellschaft noch heute häufig verschwiegen, wenn nicht gar geleugnet.
    Als China und Japan 1972 ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufnahmen, verzichtete China auf Reparationszahlungen und signalisierte die Bereitschaft, den Inselstreit ruhen zu lassen. Die japanische Seite wiederum, gewährte Kredite und Wirtschaftshilfe. Eine Situation, die sich in unseren Tagen nahezu umgekehrt hat: Aus dem ehemaligen Entwicklungsland China ist eine Wirtschaftsmacht geworden, von der auch Japan abhängt. Japan hingegen, das in den 1980er-Jahren als wirtschaftliche und technologische Großmacht galt, leidet heute unter Stagnation und hoher Staatsverschuldung. Aus heutiger Sicht ebenfalls fast unglaublich: Im Friedensvertrag von 1978 vereinbarten beide Länder, dass keines von ihnen nach Hegemonie in der Asien-Pazifik Region streben sollte. Und immerhin: Als in den 1980er-Jahren ein japanisches Schulbuch die "Invasion" der japanischen Armee in China leugnete, fand sich nach chinesischen Protesten zum ersten Mal in der neueren Geschichte der damalige japanische Premier Suzuki bereit, förmlich Reue über den Angriff Japans auf China zu bekunden.
    Symbolische Gesten und problematische Geschichtspolitik
    Obgleich sich inzwischen die Stimmen von japanischen Intellektuellen mehren, die das schwierige Thema zur Sprache bringen: Eine wirkliche Aufarbeitung in Kreisen der politischen Elite hat offenbar nicht stattgefunden. Mehr noch: Ein Teil dieser Elite scheint, inzwischen durchaus wieder geneigt zu sein, die damalige Invasion halb Ostasiens zu rechtfertigen. Hinzu kommen noch die demonstrativen Besuche japanischer Premierminister am Yasukuni-Schrein in Tokio. Der neben einem Kriegsmuseum gelegene Schrein ist offiziell den Kriegsgefallenen Japans gewidmet. Seit 1978 allerdings finden sich auf seinen Ehrentafeln auch die Namen jener hochrangigen Politiker und Militärs verzeichnet, die als Verantwortliche nach 1945 in den Tokioter Kriegsverbrecherprozessen zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden – was die führenden Politiker Japans bis zum heutigen Tage nicht davon abhält, sich im Schrein ebenso respektvoll wie medienwirksam zu verneigen.
    Dass solche Respektsbezeugungen vor den Gedenkzeichen für hochrangige Kriegsverbrecher regelmäßig zu Protesten der chinesischen und der südkoreanischen Regierung führen, verwundert kaum. Dass sich allerdings die Provokation noch steigern lässt, bewies Premier Shinzo Abe im Dezember letzten Jahres. Er besuchte den Yasukuni-Schrein als erster Premierminister wieder nach sieben Jahren Unterbrechung - und ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da der Inselstreit wieder einmal militärisch eskalierte.
    Doch nicht nur solch symbolische Gesten verweisen auf eine höchst problematische Geschichtspolitik. Offenbar strebt die Regierung Abe auch eine Revision der bisher strikt pazifistisch ausgerichteten Sicherheitspolitik Japans an. Erst kürzlich hat sie das Exportverbot für Rüstungsgüter gelockert. Zudem soll Japan künftig das Recht auf kollektive Selbstverteidigung zugestanden werden, sowie das Recht, im Bedarfsfall auch seine Verbündeten, wie etwa die USA, militärisch unterstützen zu können. Dies alles würde gegebenenfalls eine Änderung der japanischen Nachkriegsverfassung erfordern. Und allein schon die Diskussion darüber ist geeignet, weiteres Misstrauen zu säen, was die Absichten Japans im pazifischen Raum anbelangt.
    Zu strategisch-politischen Zwecken instrumentalisiert wird das dunkle Kapitel der chinesisch-japanischen Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert aber auch seitens der chinesischen Regierung. Mit dem erfolgreichen Widerstandskampf gegen die japanischen Aggressoren durch die Kommunistische Partei unter Mao Zedong legitimiert noch heute die kommunistische Partei ihre Herrschaft - ungeachtet der Tatsache, dass - neben dem militärischen Engagement der damaligen chinesischen Nationalregierung - vor allem die technologische Übermacht der USA den Zweiten Weltkrieg in Ostasien beendete.
    Dennoch feierte die Propaganda unter Mao Zedong den Sieg des chinesischen kommunistischen Widerstandes über die Japaner. Dies habe sich allerdings in den 1990er-Jahren geändert, als die Kommunistische Partei erstmals in eine Legitimationskrise geriet: Ins Zentrum offizieller Geschichtsdeutung rücke seitdem zunehmend die Opferrolle Chinas während der japanischen Besatzung. Das beobachtet jedenfalls Volker Stanzel, ehemaliger deutscher Botschafter in China und Japan, in einem kürzlich erschienenen Aufsatz.
    "Auf diese Weise entstand eine Grundströmung in der chinesischen Öffentlichkeit, die die moralische Empörung über das erlittene Leid sehr viel aggressiver gegen Japan richtet als gegen den Westen. Nach Jahren manipulierter Geschichtsdarstellung und organisierten Ärgers der Bevölkerung ist nicht mehr unterscheidbar, wo die Grenze zwischen genuiner Empörung über Japan und ihrer Inszenierung verläuft."
    Und die Frage aufwirft, ob die aggressiven antijapanischen Straßenproteste in chinesischen Städten nicht eines Tages selbst für die staatlichen Kontrolleure unkontrollierbar zu werden drohen.
    Abschließende Erkundung: Konfrontation und Kooperation
    Die Geschichte von den mit Traumata befrachteten Inseln wäre freilich nicht vollständig, verwiese man nicht auch auf die kooperativen Seiten des chinesisch-japanischen Verhältnisses.
    Als im 19. Jahrhundert englische Kanonenboote die sogenannte Öffnung Japans erzwangen, reagierte man dort mit konsequenter Modernisierung und Technisierung einer vordem feudal geprägten Gesellschaft: ein Vorbild für China, das jedenfalls glaubten damals viele chinesische Reformer. Die rasante Industrialisierung Japans schien ein erfolgversprechender Weg zu sein, um sich gegenüber den kolonialen Ansprüchen westlicher Großmächte zu behaupten. Als sich das chinesische Kaisertum zunehmend als unfähig erwies, solche gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in China einzuleiten, formierte sich eine illegale Untergrundpartei. Dessen Anführer und spätere erste Präsident der 1912 ausgerufenen chinesischen Republik, Sun Yatsen, verbrachte viele Jahre im japanischen Exil.
    Eine jüngere Generation der chinesischen Bildungselite reiste nach Japan, um dort moderne Naturwissenschaften, Medizin, aber auch Rechtswissenschaften oder westliche Philosophie und Literatur zu studieren. Unter ihnen befanden sich führende Literaten und politische Intellektuelle des modernen China. Literarische und philosophische Grundlagenwerke westlicher Länder wurden häufig zunächst in japanischen Übersetzungen gelesen, bevor sie in chinesischen Fassungen erschienen.
    Dies änderte sich erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – als die ehemals deutsche Kolonie in China, Qingdao im Friedensvertrag von Versailles an Japan, statt an China übergeben wurde. Erstmals formierte sich in den Städten Chinas eine breite antijapanische Protestbewegung. Aus ihr ging dann im Mai 1919 eine kulturelle Erneuerungsbewegung hervor: Die moderne chinesische Identität speist sich also zu einem guten Teil aus dieser Mischung zwischen der Adaption japanischer Moderne und antijapanischem Ressentiment.
    Konflikt und Kooperation, sowie eine Geschichtspolitik, die sowohl als strategische Waffe, als auch als identitätsstiftende Selbstvergewisserung dient: Es sind diese Pole, die das Verhältnis Chinas zu Japan und den übrigen Anrainerstaaten im chinesischen Meer prägen. Zwischen diesen Polen, so scheint es, ist die gesamte Region gefangen. Solange die von dem chinesischen Außenminister zitierten Fragen von "Geschichte und Territorium" nicht aus den Klammern der machtpolitischen Instrumentalisierung herausgelöst werden, wird der Nutzen des von allen ostasiatischen Anrainerstaaten erhofften Rohstoff-Reichtums auf den Inseln und im Meer stets eine Fata Morgana bleiben.