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Asylreform in Europa
Neue Hoffnung und alte Rezepte

Die Aufnahme von Geflüchteten ist seit langem ein Streitthema in der Europäischen Union. Dadurch werden auch in Deutschland aufnahmewillige Bundesländer wie Berlin ausgebremst. Eine Lösung könnte sein, nicht mehr vergeblich alle Staaten in die Pflicht zu nehmen.

Von Benjamin Dierks | 28.07.2020
Ein Kind spielt in einem provisorischen Zeltlager in der Nähe des Camps für Migranten in Moria.
Flüchtlingslager auf Lesbos: Die EU kommt bei der Verteilung von Asylsuchenden zu keiner Lösung (dpa)
900 hellgraue Container in Reih und Glied, dazwischen ordentlich asphaltierte Wege, ab und an sogar Blumenkästen vor den Türen – nur Menschen sind in der Siedlung auf dem Rollfeld des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof nicht zu sehen. Vor über einem Jahr sind die letzten Bewohner ausgezogen. Aber nun sollen die Container sich wieder mit Leben füllen.
Sascha Langenbach vom Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten öffnet die Tür zu einer der Behausungen. "Es ist sehr einfach, aber zweckmäßig. Licht funktioniert, Wasser läuft auch noch."
Der Berliner Senat will hier einige Familien aus den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln unterbringen, die über ein Bundesprogramm nach Deutschland kommen. Die erste Familie ist Ende vergangener Woche in Berlin angekommen. "Das ist eine provisorische Unterbringung, aber sie bietet auch Schutz, Sicherheit. Sie haben eine eigene Nasszelle, sie können dort einen eigenen Herd reinstellen", sagt Langenbach.
142 Menschen werden bis August in der Stadt erwartet, die hier und in anderen Unterkünften Obdach finden sollen. Berlins Integrationssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei würde eigentlich gerne mehr Menschen aufnehmen:
"Dafür sind wir im Übrigen auch gewählt worden. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir das machen. Deshalb sagen wir, wir möchten Verantwortung übernehmen für Menschen in Not."
Berlin und Thüringen würden Flüchtlinge aufnehmen
Das rot-rot-grün regierte Berlin hatte ähnlich wie auch Thüringen vor, mit einem eigens aufgelegten Landesprogramm 300 Flüchtlinge direkt aus den griechischen Lagern an der EU-Außengrenze in die Stadt zu holen. Allerdings blieb die Zustimmung des Bundesinnenministeriums aus. Denn hier wird es kompliziert. Städte wie Berlin sehen das Elend in den Flüchtlingscamps und wollen handeln. Die Bundesregierung aber will, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich auf eine Verteilung der Flüchtlinge einigen und befürchtet, dass Initiativen wie in Berlin diesem Plan entgegenlaufen.
"Und im Moment scheitern wir eigentlich alle an den jeweiligen Regierungen. Die sagen: Wir brauchen eine europäische Lösung und keine Einzelgänge. Ja, ich würde mir auch eine europäische Lösung wünschen, aber ich kann nicht warten, bis diese europäische Lösung kommt und das auf den Schultern der Menschen austragen, die jetzt in Griechenland auf diesen Inseln leben, in Lagern, die völlig überfüllt sind", sagt Breitenbach.
Das Foto zeigt das als Flüchtlingsunterkunft dienende Containerdorf auf dem Tempelhofer Feld. Im Vordergrund die Container, im Hintergrund der ehemalige Tower des Flughafens.
Das Containerdorf auf dem Tempelhof Feld (imago images / Stefan Zeitz)
Die Ungeduld der Berliner Senatorin kommt nicht von ungefähr, denn eine Lösung auf europäischer Ebene ist nicht in Sicht. Seit Jahren kommen die EU-Mitgliedsstaaten mit der Reform des europäischen Asylsystems kaum voran. Die formal noch gültige Dublin-Regel, wonach Menschen dort Asyl beantragen müssen, wo sie zuerst EU-Boden betreten, gilt als überholt und unfair. Denn besonders viele Menschen erreichen die EU über die südeuropäischen Länder Griechenland, Italien, Spanien und Malta.
Keine Einigung bei der Verteilung von Asylsuchenden
Noch immer gibt es keinen Weg, Asylsuchende gerecht in der EU zu verteilen. Auch gibt es kein einheitliches Asylverfahren. Und die Mitgliedsstaaten am Mittelmeer sind mit der Aufnahme und der Unterbringung von Flüchtlingen sowie der Bearbeitung ihrer Anträge überfordert. Die Folge sind menschenunwürdige Zustände in überbelegten Flüchtlingslagern sowie Willkür, Rechtsbrüche und Gewalt an den Grenzen.
Eine Szene, die mit einer Handykamera eingefangen wurde: Männer, Frauen und Kinder sitzen in einer aufblasbaren Rettungsinsel und treiben im Mittelmeer. Einer von ihnen berichtet, dass griechische Grenzbeamte ihnen ihre Habseligkeiten abgenommen und sie samt Kindern und schwangeren Frauen auf offenem Wasser ausgesetzt hätten. Flüchtlinge und Hilfsorganisationen erheben immer wieder solche Vorwürfe. Griechenland weist sie zurück. Pushbacks, also ein Zurückdrängen, werden diese Verfahren genannt.
Flüchtlings-Lager Diavata in Griechenland nahe Thessaloniki
Flüchtlinge in Griechenland - Auf See und an Land illegal zurückgedrängt?
Von "Pushback" ist die Rede, wenn etwa die Küstenwache Boote mit Flüchtenden an Bord auf offener See aus den eigenen Hoheitsgewässern zurückdrängt. Das ist illegal – und wird den griechischen Behörden vorgeworfen. Und diese "Pushbacks" soll es auch an Land geben.
Erik Marquardt, Grünen-Abgeordneter im Europäischen Parlament, hat mehrere solcher Szenen zugespielt bekommen:
"Ich habe das Gefühl, dass jetzt massive Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen passieren. Und da muss die EU-Kommission natürlich im ersten Schritt klar aufzeigen, wie das europäische Recht gebaut ist, was erlaubt ist und was nicht. Wenn die Leute nicht selber darauf kommen, dass es nicht OK ist, Menschen auf Rettungsinseln auf dem Mittelmeer auszusetzen, dass es nicht OK ist, Motoren zu sabotieren, damit die Menschen nicht das Festland erreichen."
Rettungsschiffe von Hilfsorganisationen und selbst Handelsfrachter, die Menschen in Seenot gerettet haben, warten tagelang vor den Mittelmeerküsten, weil kein Land ihnen Zugang gewähren will. Die italienische Küstenwache setzte gerade die "Ocean Viking" der Organisation SOS Méditerranée nach einer solchen Irrfahrt fest – das letzte Rettungsschiff, das noch im Mittelmeer im Einsatz war.
Ein mit Menschen überfülltes Schlauchboot treibt auf dem Mittelmeer.
Seenotrettung von Bootsflüchtlingen vor der libyschen Küste (imago images / JOKER / Alexander Stein)
Als Anfang Juli die EU-Innenminister erstmals unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft über die Seenotrettung Geflüchteter diskutierten, trieb vor der Küste Maltas die "Talia", ein Viehfrachter, der 52 in Seenot geratene Flüchtlinge an Bord genommen hatte. Fünf Tage lang verweigerten Malta und Italien dem Schiff die Einfahrt in ihre Häfen. Der Kapitän Mohammad Shabaan musste die Geretteten in ungereinigten Viehställen unterbringen und flehte in einem Handyvideo um humanitäre Hilfe.
EU-Mitgliedsstaaten kommen zu keiner Einigung
Die Mitgliedsstaaten streiten jedes Mal wieder hartnäckig darum, wenn einige Menschen wie jetzt in Deutschland und anderen EU-Staaten aufgenommen werden sollen – und das zu einer Zeit, in der die EU-Grenzschutzbehörde Frontex den niedrigsten Stand irregulärer Grenzübertritte seit 2013 meldet. Rund 140.000 Menschen übertraten demnach 2019 illegal die Grenze. Im ersten Halbjahr 2020 fiel die Zahl auch durch die Corona-Pandemie noch einmal im Vergleich zu den Vorjahresmonaten.
Für Rechtsprofessor Daniel Thym von der Universität Konstanz steht durch die derzeitige Situation das gesamte Asylrecht in der EU auf dem Spiel:
"Wenn das System so wie bisher dysfunktional ist, dann führt es dazu, dass die Mitgliedsstaaten im Zweifelsfall sich an die Regeln nicht mehr halten und dann eben die Schotten ganz dicht machen und überhaupt niemanden mehr hineinlassen. Das heißt, wenn wir keine europäische Asylreform innerhalb der Europäischen Union hinbekommen, dann droht uns ein schrittweises Abgleiten in das, was üblicherweise Festung Europa genannt wird."
EU-Kommission will neuen Versuch unternehmen
Die EU-Kommission will nun einen neuen Versuch unternehmen, Europa aus seiner Starre zu befreien. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zunächst für März und nun für September einen sogenannten "Pakt für Migration und Asyl" angekündigt. Der soll unter anderem Vorschläge der Bundesregierung aufgreifen, die das Thema während ihrer EU-Ratspräsidentschaft in diesem Halbjahr voranbringen will.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wirbt seit einiger Zeit vor allem dafür, Flüchtlinge in sogenannten Asylzentren an den EU-Außengrenzen einer Vorabprüfung unterziehen. Dabei soll in einem Schnellverfahren geklärt werden, ob sie überhaupt berechtigt sind, Asyl zu beantragen und eine Chance auf einen positiven Asylbescheid haben. Nur wenn dieser Test zu ihren Gunsten ausfällt, sollen sie auf andere EU-Staaten verteilt werden. Andernfalls sollen die Flüchtlinge mithilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex abgeschoben werden.
"Der Innenminister verfolgt nach meiner Wahrnehmung die Strategie, dass häppchenweise zu machen: Er will erst diejenigen Punkte abarbeiten, wo die Einigung leichter fällt, nämlich die Regelung an den Außengrenzen. Und wenn man dort eine vernünftige Regelung gefunden hat, dann will er als zweitens die Verteilungsfrage klären, in der Hoffnung, dass dort eher eine Einigung gefunden wird, wenn man sich davor darauf verständigt, dass man an den Außengrenzen gar nicht so viele Leute in die Europäische Union hineinlässt", sagt Asylrechtsexperte Daniel Thym von der Universität Konstanz.
Bundesinnenminister Horst Seehofer schaut nachdenklich.
Bundesinnenminister Horst Seehofer möchte eine europäische Lösung (picture alliance/Felix Schröder/dpa)
Ende vergangener Woche vereinbarte Seehofer in Wien mit anderen Innenministern aus der EU und aus Staaten des Westbalkans eine bessere Zusammenarbeit, um irreguläre Migration über die Balkan-Route und das östliche Mittelmeer zu verhindern. Auch die EU-Kommission will sich in ihrem Vorschlag Berichten aus Brüssel zufolge auf den Grenzschutz und schnelle Vorabverfahren an der EU-Außengrenze konzentrieren. Zusätzliche Beamte der europäischen Asylbehörde EASO sollen die Grenzstaaten im Prüfverfahren unterstützen. Die Hoffnung dahinter: Die Zustände in den derzeitigen Flüchtlingslagern wie dem Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos ließen sich verhindern, wenn früh und schnell eine Vorauswahl getroffen wird.
Lena Düpont, die innenpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, unterstützt den Plan:
"Um diejenigen auch verteilen zu können und den Schutz auch gewähren zu können, wie es unseren Werten entspricht, muss ich natürlich erst mal frühestmöglich entscheiden, wer schutzberechtigt ist und wer, wenn auch vielleicht aus nachvollziehbaren, aber aus anderen Gründen kommt und dann tatsächlich auch nicht unter das Asylrecht in dem Sinne fällt."
Rechtliche Probleme bei einer Schnellprüfung
Das Tückische ist nur: Zu prüfen, ob jemand Anspruch auf Schutz hat, ist eigentlich Teil des Asylverfahrens. In den Asylzentren soll ähnlich wie in den Transitzonen an Flughäfen so getan werden, als wären die Flüchtlinge noch gar nicht in die EU eingereist. Fiktion einer Nichteinreise heißt das in Juristendeutsch.
Es sei nicht klar, was das für den Rechtsschutz der Menschen bedeute, sagt die Migrationsexpertin Petra Bendel, die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration:
"Wie kommen sie an Anwälte? Werden sie angemessen untergebracht? Haben sie Zugang zu einem fairen Asylverfahren? Und wird hier das Gebot der Nichtzurückweisung eingehalten?"
Im ersten Entwurf des Innenministeriums war zudem von geschlossenen Asylzentren die Rede, in denen die Flüchtlinge bis zum Abschluss der ersten Prüfung festgehalten werden sollten. Allerdings hatte der Europäische Gerichtshof ein vergleichbares Verfahren in sogenannten Transitzonen an der ungarischen Grenze im Mai als unzulässige Haft eingestuft.
Momentaufnahme des Alltags und der Lebensbedingungen im Empfangs- und Identifikationszentrum des Flüchtlingslagers Vial auf der griechischen Insel Chios am Dienstag, 03. März 2020.
Wegen Coronapandemie - Griechenland verlegt Flüchtlinge von den Inseln aufs Festland
In der Coronakrise werden in Griechenland besonders gefährdete Flüchtlinge von den Inseln aus Lagern in Wohnungen und Hotels gebracht. Familien sollen dabei nach Angaben der EU-Kommission nicht getrennt werden. Auch in ihrer neuen Bleibe warten auf die Migranten isolierte Bereiche.
Der Koalitionspartner SPD befürwortet Asylzentren grundsätzlich etwa für die Registrierung und Verteilung von Flüchtlingen. Eine weitreichende Vorabprüfung lehnten die Sozialdemokraten aber ab, sagt Lars Castellucci, der Sprecher für Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion:
"Die Frage, ob jemand schutzbedürftig ist oder nicht, und damit, ob verteilt wird oder nicht, das ist für uns eine Frage von Asylverfahren und nicht von irgendwelchen Vorprüfungen."
Die SPD würde die Zentren gerne unter europäische Verwaltung stellen, das hält aber das Innenministerium nicht für machbar. Die Verantwortung müsse weiterhin beim jeweiligen Mitgliedsstaat bleiben. Von denen wird es auch abhängen, ob sich solche Pläne überhaupt umsetzen lassen. Denn Italien, Spanien, Griechenland und Malta wollen einer Reform nur zustimmen, wenn dadurch die Lage in den derzeitigen Flüchtlingslagern entschärft wird.
Anuscheh Farahat, Migrationsrechtsprofessorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, bezweifelt aber, dass die Vorabprüfung das Verfahren an der Grenze so stark beschleunigen kann, wie es der Seehofer-Vorschlag suggeriere:
"Wenn man sagt, und so verstehe ich viele Akteure in dem Feld, nein, wir wollen natürlich dem Einzelfall auch gerecht werden, dann bedeutet das aber eben doch, dass man in sehr vielen Fällen eine sehr gründliche Prüfung durchführen wird müssen. Und gründliche Prüfungen sind sehr häufig nicht sehr schnell."
Mehr Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten
Flüchtlinge müssten also doch länger in der Obhut der Grenzstaaten bleiben. Eine weitere Bedingung für schnelle Verfahren an der Grenze wäre, dass jene, die abgelehnt werden, auch irgendwohin zurückgeschickt werden können. Seehofer und EU-Kollegen wollen dafür, wie schon oft bekundet, besser mit Herkunfts- und Transitstaaten kooperieren.
Einen ersten Austausch mit den nordafrikanischen Staaten Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen gab es vor gut zwei Wochen. Diese Länder sind aus EU-Sicht besonders wichtig, um die Durchreise von Flüchtlingen zu verhindern. Die EU unterstützt etwa Libyen bereits dabei, Boote mit Migranten wieder an Land zu holen – was von Menschenrechtsorganisationen und dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) kritisiert wird. In dem Bürgerkriegsland würden Migranten in Lagern gefangen gehalten, misshandelt und zu Arbeit gezwungen.
"Durch die Kooperation mit Libyen und so weiter will man erreichen, dass weniger kommen. Jetzt geht es aber darum: Was machen wir mit denen, die dennoch kommen. Da wird es vor allem um die Rückführung in die Herkunftsländer gehen und ob das funktioniert, ist die große Frage", sagt Migrationsforscher Daniel Thym.
Verteilung ist das kontroverse Thema innerhalb der EU
Obendrein steht und fällt die Frage der neuen Asylzentren an der EU-Außengrenze mit dem kontroversesten Thema der EU-Asylpolitik: der Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten. Denn schon einmal gab es den Plan von schnellen Prüfungen an den EU-Außengrenzen, von Auffangzentren, in denen Flüchtlinge identifiziert, registriert und verteilt werden, von der effizienten Zusammenarbeit mit der Asylagentur EASO und der Grenzpolizei Frontex. Diese Pläne schmiedete die EU-Kommission vor fünf Jahren. Was jetzt Asylzentrum heißt, wurde damals Hotspot genannt. Und diese Hotspots sind heute die überfüllten Lager wie Moria auf Lesbos.
Grenzstaaten wie Griechenland hätten also allen Grund, den neuen Plänen mit Skepsis zu begegnen, warnt Migrationsexpertin Petra Bendel:
"Da besteht natürlich die Gefahr, wenn man nur die Vorverfahren an den Außengrenzen hat, aber kein Verteilsystem innerhalb Europas, dass wir dann die bekannten Hotspots, die wir jetzt in Griechenland von den Inseln kennen, reproduzieren."
Hier beißt die Katze sich in den Schwanz: Das Bundesinnenministerium will lieber erst einmal die Lage an den Außengrenzen klären und die solidarische Verteilung von Flüchtlingen ausklammern, weil es nur so eine politische Annäherung für möglich hält. Die Länder an den Außengrenzen aber werden sich darauf allen Erwartungen nach nur einlassen, wenn absehbar ist, dass die Asylbewerber anschließend verteilt werden und nicht monatelang in den grenznahen Lagern ausharren müssen.
Prime Ministers, Viktor Orbán (R) of Hungary speaks during a panel discussion of Visegrads countries (V4) prime ministers as his counterparts Mateusz Morawiecki (L) of Poland, Andrej Babis (2ndL) of Czech Republic and Robert Fico (2ndR) of Slovakia listen in the Varkert Bazar (the building of the Royal Palace) of Budapest on January 26, 2018. / AFP PHOTO / ATTILA KISBENEDEK
Die Minister der Visegrád-staaten Viktor Orban (r), Mateusz Morawiecki (m), Andrej Babiš (l) und Robert Fico (nicht im Bild): eine Verteilung scheitert an ihnen (AFP/ATTILA KISBENEDEK)
"Die Vorabprüfung an den Außengrenzen, die wird in der Sache nur kommen, wenn man danach auch die Verteilungsfrage klärt. Ansonsten wird das nicht umgesetzt werden, das liegt nicht im Interesse der Außengrenzstaaten. Aber man kann sich natürlich erst mal politisch darauf verständigen. Und angenommen wird es formal erst, wenn man nachgelagert auch die Verteilungsfrage klärt", sagt Daniel Thym von der Universität Konstanz.
Wie die Verteilung aussehen könnte, ist noch unklar. Ziemlich klar ist nur: Auf Staaten wie Ungarn und seine Visegrad-Partner Polen, Tschechien und Slowakei will der Rest der EU, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, nicht mehr bauen. Die Visegrad-Länder wehren sich vehement, auch nur eine Handvoll aufzunehmen.
Ein Kompromiss könne das sein, was Deutschland jetzt als flexible Solidarität bewirbt, sagt Petra Bendel vom Sachverständigenrat für Integration und Migration:
"Bei der es darum geht, dass nicht alle Staaten Flüchtlinge aufnehmen müssen, sondern dass einige Staaten zum Beispiel für die Grenzsicherung zuständig sein könnten, andere für die Integration stärker zuständig sein könnten. Dass es also eine Art von Jobsharing innerhalb der Europäischen Union gibt, bei der nicht jeder das Gleiche machen muss."
Blockadehaltung der Visegrad-Staaten
Ungarn und seine Mitstreiter haben sich mit ihrer Blockadehaltung durchgesetzt. Ihnen nun andere Aufgaben oder einen finanziellen Ausgleich anzubieten, ist pragmatisch, birgt aber Gefahren. Denn es sind längst nicht nur die vier Visegrad-Staaten, die eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen blockieren. Slowenien, Lettland und Estland haben einen Brief der Visegrad-Gruppe gegen die solidarische Aufnahme unterzeichnet. Und das Bundesinnenministerium beobachtet mit Sorge, dass auch klassisch-liberale Staaten wie Schweden, Dänemark und die Niederlande von ihrer einwanderungsfreundlichen Haltung Abstand nehmen.
"Das sind nicht nur die Ungarn, da sind auch andere skeptisch und je nachdem, wie man das dann ausgestaltet, besteht in der Tat die Gefahr, dass schrittweise immer weniger bereit sind, Leute zu übernehmen", bestätigt Migrationsrechtler Daniel Thym.
Die entsprechenden Länder in der Aufnahmefrage auszuklammern, könnte aber auch ein Weg sein, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Von mehreren Seiten wird die Forderung lauter, die Debatte nicht mehr so stark an den Einwanderungsgegnern auszurichten.
Länder und Kommunen unterstützen
Grünen-Europapolitiker Erik Marquardt will stattdessen die Länder und Kommunen in den Vordergrund rücken, die aufnahmebereit sind:
"Wie können wir diejenigen fördern, die Menschen aufnehmen wollen? Wie können wir auch denen mehr Raum in der Diskussion geben und ihnen mehr Verantwortung dafür geben, Menschen aufzunehmen? Weil ich glaube, dass wir den großen Fehler gemacht haben, uns immer über die Probleme mit den Leuten in Europa zu unterhalten, die eben nicht aufnehmen wollen, die sich dagegen wehren, die als Rechtspopulisten, muss man ja deutlich sagen, versucht haben, möglichst viel Öffentlichkeit für ihr lautes Gebrüll zu bekommen."
Kommunen und Regionen könnten von der EU direkt finanziell unterstützt werden, sagt der Europaabgeordnete, etwa durch den schon bestehenden Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU. Eine Idee, die auch in der SPD Anklang findet.
"Dass man eben nicht nur spricht über die Finanzierung von EASO und Frontex, sondern auch: Warum bauen wir nicht einen europäischen Fonds für Aufnahme, der dann die Willigen besonders belohnt? Denn wir haben ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa selbst in Ländern, die eher restriktiv denken, viele Kommunen, die bereit sind", sagt der SPD-Innenpolitiker Helge Lindh.
Vielleicht ist also die Initiative, Flüchtlinge aufzunehmen, die Berlin oder Thüringen gerade zeigen, mehr als eine Ausnahme. Die Migrationsrechtlerin Anuscheh Farahat von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg beobachtet auch in anderen Teilen Europas Kommunen, die die Chancen der Zuwanderung für sich nutzen wollen, um dem Strukturwandel zu begegnen. Die Verantwortung solle man ihnen gewähren, sagt Farahat:
"Die wird im Augenblick sehr häufig behindert, mit dem Argument, dass es ja allgemeine Verteilungsschlüssel in Deutschland gibt. Und das dürfe man nicht unterlaufen. Aber ich finde, gerade, wenn wir ein Verteilungsproblem haben und es einzelne Akteure gibt, die mehr Verantwortung wollen, soll das möglich gemacht werden. Der Integration der Leute kann das letztendlich nur guttun."
Womöglich kommt die europäische Lösung in der Asylfrage nicht von oben, von den Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen, sondern wächst von unten, aus den Kommunen, den Städten und Regionen, die sich für ihre Interessen stark machen.