Donnerstag, 25. April 2024

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Atlas Bildende Kunst

Als ich zwölf Jahre alt war und immer noch Erich Kästners Doppeltes Lottchen las, entschloss sich meine Mutter zu einer Radikalkur. Sie schenkte mir zu Weihnachten ein schweres Buch mit einem dunkelgrünen Leinenband Malerei des Abendlands. Ich war geehrt und überfordert. Ich lernte die Namen der Maler auswendig und begann von den Fratzen zu träumen, die Hieronymus Bosch der im Narrenschiff versammelten Gesellschaft gemalt hat. Ich zählte die Wundmale des Heiligen Sebastian und verliebte mich in ein Bild, das Piet Mondrian "Victory Boogie-Woogie" genannt hat. Ich verstand nichts, aber das störte mich nicht. Mir war nicht bewusst, dass ich etwas verstehen musste. Ich schaute mir die Bilder an und staunte. Das schwere grüne Buch habe ich heute noch.

Verena Auffermann | 05.08.2002
    Wenn ich heute diesen ohne jeden didaktischen Anspruch geschriebenen Kunstband, mit dem neuen, von Stefanie Penck herausgegebenen Atlas Bildende Kunst vergleiche, wird mir wieder einmal bewusst, in welch fürsorglichem Lern-Zeitalter wir leben, wie ängstlich proportioniert und sortiert uns das Wissen angeboten wird. Wissen, ist die Über-Angst derer, die versuchen, es unter's Volk zu bringen, ist eine Zumutung. Eine unerlaubte Anstrengung, eigentlich sogar eine Provokation. Diese Angst vorm überforderten Zeitgenossen kommt diesem Atlas aber hier zu Gute. Und tatsächlich will er, ganz im Wortsinn, dass der Leser weiß, wo er ist. Die Kunst ist mit den Menschen hin- und hergewandert und die Wege, die Begegnungen und die Vermischungen der Stile, die durch die Wanderungen und Bewegungen zustande kamen, sind ungemein interessant. Dennoch ist nicht ein Art gehobener Kunst-Michelin, mit Sternchen und nichts weiter, dabei herausgekommen, sondern eine prägnante Zusammenfassung, anschaulich, animierend, informierend. Darstellungen von der Altsteinzeit bis zu den Kunstströmungen des vergangenen 20. Jahrhunderts. Aufgebaut ist der Kunst-Atlas mit bunten geographischen Karten, mit Listen, chronologischen Tabellen, bunten Signets, Pfeilen, Kästen. Ein Schema, nach dem Prinzip genealogischer Stammbäume gebaut, zeigt die Kette der Einflüsse von Lehrer zu Schüler. Die Tabelle mit den italienischen Malern, Bildhauern und Architekten des 15. Jahrhunderts kommt zum Beispiel mit 45 Namen aus. Aber es sind die richtigen. Eine Karte zeigt, wo, in welchen Orten, ihre Werke zu finden sind. Der Atlas Bildende Kunst beschränkt sich auf die Leitfiguren. Unser an das schnelle Sehen gewöhnte Auge kann eine Seite schnell, auch ohne den Text zu lesen, erfassen. Ganz, wie das heute üblich ist. Dabei müssen die Kunstgegenstände sich mit halbspaltigen Abbildungen begnügen, nur die geographischen Karten nehmen viel Platz ein, manchmal eine ganze Seite. Die Texte sind von großer Klarheit. Sie setzen nichts voraus. Wenn komplizierte Begriffe wie ,,Ziborium" oder ,,Lettner" im Text vorkommen, werden sie im Kasten erklärt, sachlich und präzise. Der ungeduldige, aufschnelle Information trainierte Mensch, der an die Portionierung des Tierkühlspinats, wie an die Portionierung der Bildung gewöhnt ist, wird nicht strapaziert. Aber über das Wissen des nur 300 seitigen Atlas zu verfügen, na, das wäre was!

    Aber dann beginnen die 65 Seiten, die dem 20 Jahrhundert eingeräumt worden sind, und die gerade gelobte Übersichtlichkeit wankt. So ist das. Je näher man der Gegenwart kommt, desto unsicherer wird der Atlas. Mit Zweiten Weltkrieg und Emigration beginnt das "globale" Zeitalter, der Begriff kam zwar erst 50 Jahre später ins Spiel, aber damals lösten sich die Grenzen der Kultur auf.

    Wenn ich ein verschlafenes Kind wachrütteln wollte, ich würde ihm den "Atlas Bildende Kunst" schenken, der natürlich weder ein Kinder- noch ein Jugendbuch ist, sondern sich an alle richtet, die Wissen als Aufregung empfinden oder zur Aufregung verführt werden sollen. Ein Buch, in dem immens viel steckt. Die Völkerwanderung, unter der ich mir in der Schule nie etwas vorstellen konnte, zeigt ihre Wegstrecke und ihre Artefakte. Der Atlas schließt mit einem Blick auf die Kunst Japans und Chinas am Ende des 20. Jahrhunderts. In China glaubt man an den Akademien noch an die Kraft des Sozialistischen Realismus. Die sowjetischen Künstler wie Ilja Kabakov oder Komar & Melamid haben die Sowjetunion langst verlassen. Sie leben in wechselnden Weltstädten des Westens.