Der geteilte Picasso

Im Osten verehrt als Kommunist, im Westen als Individualist

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Soldaten richten ihre Gewerke auf Frauen und Kinder.
Politische Werke Picassos, wie dieses hier, das den Koreakrieg thematisiert, waren im Westen kaum bekannt. © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto: bpk / RMN-Grand Palais / Mathieu Rabeau
Von Sabine Oelze · 25.09.2021
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In der DDR blickte man komplett anders auf Picasso als in der BRD. "Der geteilte Picasso" nennt sich eine Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, die die unterschiedliche Rezeption untersucht. Eine aufschlussreiche Reise in die Zeit des Kalten Krieges.
Im Eingangsbereich der Ausstellung hängen Plakate von der Decke. Alle zeigen immer wieder ein Motiv: Picassos Taube – ob gerupft, im Flug oder kauernd. Sie ist ab den 50er-Jahren das Symbol der Friedensbewegung in der DDR.
"Wir fangen an, damit zu zeigen, wie Picasso sich für den Kommunismus und die sozialistische Friedensbewegung engagiert hat, vor allem indem er auf Friedenskongresse gefahren ist, indem er Plakate gemacht hat für alle – weil das hier eben nicht so bekannt ist im Westen." Kuratorin Julia Friedrich betreut die umfangreiche Picasso-Sammlung im Kölner Museum Ludwig. Dabei fällt ihr auf, wie unterschiedlich Picasso in der BRD und der DDR rezipiert wurde.

Reise in die Zeit des Kalten Krieges

Der Ausstellungsbesuch gleicht einer Reise in die Zeit des Kalten Krieges. Beide Staaten schätzten Picasso – allerdings auf unterschiedliche Weise: Die DDR betrachtet Picasso, der seit 1944 Mitglied der kommunistischen Partei war, als einen der Ihren. Der Westen hingegen verehrt Picasso als Jahrhundertgenie, als Individualisten, als Titan mit unbändigem Schaffensdrang. Sein politisches Ego? Wird unterschlagen.
Picasso signiert Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend (FDJ) von ihm gestaltete Tücher auf dem internationalen Jugendkongress in Nizza 1950.
Picasso signiert Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend (FDJ) von ihm gestaltete Tücher auf dem internationalen Jugendkongress in Nizza 1950.© Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto: Kunstmuseum Pablo Picasso Münster
"Wir zeigen viele politische Bilder, die im Westen nicht so bekannt sind. Im Osten wäre das anders. Wir zeigen aber auch Bilder, die vielleicht hier nicht politisch gelesen worden sind, in der DDR aber schon. Und wir stellen die Frage, was ein Bild zu einem politischen Bild macht", sagt Friedrich.

"Guernica" wird im Westen ohne Kontext ausgestellt

Ein politisches Bild – zumindest im Osten – wäre ein Gemälde wie "Das Leichenhaus". Picasso beschäftigt sich 1944 darin mit den Gräueln der Nazizeit. Die DDR interpretiert dieses Werk als politisches Statement, die BRD reduziert es auf formale Aspekte. Ebenso Picassos "Guernica", Ikone der Antikriegskunst. 1955 wird das riesige Original im Haus der Kunst in München gezeigt. Doch es dient dort nicht zur Aufklärung über die Luftangriffe der deutschen Legion Condor auf den baskischen Ort Guernica.
"Das ist besonders auffällig", erklärt Friedrich, "wenn so ein Bild, das die Verbrechen der Legion Condor zeigt, im Haus der Kunst in München präsentiert wird und dieser Zusammenhang ausgeblendet wird, sodass sich die deutschen Besucher, die dieses Bild angucken, mit den Opfern auf dem Bild identifizieren können, obwohl sie dem Kollektiv der Täter angehört haben."

Im Osten also der politisch ambitionierte Maler der Friedenstaube und im Westen das geniale Künstlergenie der Abstraktion. Für Picasso haben sich diese unterschiedlichen Sichtweisen auf ihn und seine Werke nicht ausgeschlossen, wie Kuratorin Julia Friedrich erklärt [AUDIO] : "Es gibt nur einen Picasso", soll er gesagt haben, als man ihn bat, seine Ausstellung in London selbst zu eröffnen, schließlich nahm er zeitgleich in Sheffield an einem Friedenskongress teil: "Das wird Ihnen vielleicht seltsam vorkommen. Aber es gibt nicht diese zwei Picassos: der eine, der zum Friedenskongress fährt, und der andere, der seine Ausstellung eröffnet."

Pablo Picassos "Taube".
© Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

"Frau im Lehnstuhl" oder "Frau mit polnischer Jacke"?

Der Ausstellungsparcours stellt die unterschiedlichen Blickwinkel sorgfältig recherchiert gegenüber. Eigens vom Künstler Eran Schaerf entworfene Einbauten zeigen Schriften, Zeitgeschichte, Ausstellungskritiken oder Filmbeiträge. Beide Länder sehen Picasso durch eine ideologische Brille. Das belegt auch ein Porträt von Françoise Gilot. "Frau im Lehnstuhl" heißt es im Westen, im Osten "Frau mit polnischer Jacke". Picasso malt Gilot nach dem Besuch eines Friedenskongresses in Polen.
Auf modularen Wänden des Künstlers Eran Schaerf werden die Werke präsentiert.
Auf modularen Wänden des Künstlers Eran Schaerf werden die Werke präsentiert.© Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf
"Warum ist sie bei uns so entpolitisiert?", fragt die Kuratorin, "und warum heißt sie in Polen 'Frau in polnischer Jacke'? Was hat diese Jacke mit diesem Besuch zu tun, den er dort über zwei Wochen gemacht hat? Wen hat er da getroffen? Und wie hat das seine Kunst dann auch weiter beeinflusst?"

Eine Ausstellung über das Ausstellen

In den 70-ern entdeckt die Neue Linke im Westen den politischen Picasso des Ostens. Umgekehrt interessiert sich die DDR für den Picasso des Westens. Als Vermittler tritt Peter Ludwig auf. Der Schokoladenfabrikant und Mäzen aus Aachen verleiht 1977 Teile seiner Picasso-Sammlung an die Nationalgalerie. In einem Interview im DDR-Fernsehen begründet er diesen Schritt:
"Ich glaube, dass Kunst ihrer Natur nach für die Öffentlichkeit bestimmt ist und der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte. Von diesem Gesichtspunkt habe ich mich leiten lassen."
Die Kölner Ausstellung ist eine Ausstellung über das Ausstellen. Originalwerke sind darin nur wenige zu sehen, dafür aber jede Menge Reproduktionen und sehr viel Lektüre- und Filmmaterial. Wer sich Zeit nimmt, lernt viel über das Wahrnehmen und über die jüngere Geschichte, die auch den Blick auf die Kunst geprägt hat.
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