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Atomkatastrophe vor 32 Jahren
Die Kinder von Tschernobyl

Nach der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl gründeten sich Hilfsvereine, die Kinder in deutsche, österreichische und Schweizer Gastfamilien holten. Noch heute reisen Jungen und Mädchen aus dem verstrahlten Gebiet regelmäßig nach Deutschland. In der Heimat haben sie mit den Folgen des GAUs zu kämpfen.

Von Nastassia Reznikava und Jutta Schwengsbier | 26.04.2018
    Kinder winken auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen (Niedersachsen) zur Begrüßung, nachdem sie zuvor aus der Republik Belarus (Weissrussland) eingetroffen sind
    Kinder aus einer von der Tschernobyl-Reaktorkatastrophe betroffenen Region in Weißrussland kommen für eine Ferienaktion in Hannover an (picture alliance/ dpa/ Holger Hollemann)
    In Buda-Koschelevo leben noch rund 30.000 Menschen. Die Straßen der kleinen weißrussischen Stadt wirken leer. Buda-Koschelevo ist nur 200 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Viele sind weggezogen. Vor der Atomkatastrophe lebten noch fast doppelt so viele Menschen hier. Große Teile der Kleinstadt wirken so, als sei die Zeit stehen geblieben. Nur ein Gebäude ist das Kontrastprogramm zur Tristesse rundherum. Es ist die einzige Schule der Stadt. Mit 600 Schülern. Die meisten bereiten sich gerade auf ein großes Abenteuer vor. Wie jedes Jahr dürfen die Kinder im Sommer zum Urlaub ins Ausland.
    "Ich war im vorigen Jahr zum ersten Mal in Deutschland. Das war toll. Ich kann dabei Deutsch lernen, weil ich Dolmetscherin werden will."
    Volia Tsetiuk ist erst dreizehn. Nach ihrem ersten Besuch in Radeberg in Sachsen hat sie beschlossen Übersetzerin zu werden. Genauso wie ihre Freundin Dascha. Die war schon vier Mal in Deutschland zu Besuch.
    "Die Leute sind extrem freundlich. Alle lächeln uns immer an. Und haben mir immer geholfen, wenn ich Hilfe gebraucht habe. Die Kinder waren genauso neugierig wie wir und wollten alles von uns wissen."
    Voila und Dascha erzählen viel von der frischen Luft und von den Bergen, die sie auf ihren Reisen gesehen haben. So etwas kennen sie aus Belarus nicht. Nur warum sie jedes Jahr nach Deutschland reisen dürfen, hat ihnen noch niemand erklärt. Über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wissen sie nicht viel.
    "Rund 20 Prozent der Paare können keine Kinder bekommen"
    Unweit von der Schule ist das Büro des Vereins "Hilfen für Tschernobyl-Kinder". Daneben sind in einer Garage und einer Scheune Hilfsgüter aus Deutschland gestapelt.
    "Viele denken ja, humanitäre Hilfe kommt nicht an. Aber sehen sie uns an. Was wir in all den Jahren erhalten haben. In der 90er-Jahren hatte unsere Schule keine Möbel. Keine Küche. All das haben wir aus Deutschland bekommen."
    Valentina Smolnikava lädt uns ein zu einem Kaffee. Und stellt dabei auch Speck auf den Tisch. Keine Angst, sagt sie, der Speck kommt aus einem Dorf, das nicht mit Strahlung belastet ist.
    Die 76-jährige hat ihr ganzes Leben in Buda-Koschaleva verbracht. Als der Atomunfall passierte, arbeitete sie hier als Kinderärztin. Damals durfte sie nichts über Strahlenschäden oder Genmutationen in die Patientenakten schreiben. Offiziell gab es so etwas nicht, sagt Valentina Smolnikava. Die Patienten sollten nichts davon wissen.
    "Kinder bekamen Schlafstörungen. Schweißausbrüche. Herzschmerzen. Lymphknoten und Schilddrüsen vergrößerten sich. Als Erwachsene waren viele unserer Kinder unfruchtbar. Ungefähr 20 Prozent unserer jungen Paare können immer noch keine Kinder bekommen. Tschernobyl hat viele sterilisiert."
    An den Bäumen hängen Schilder: "Vorsicht Strahlung"
    In der Region um Buda-Koschelevo sind heute viele Dörfer unbewohnt. Wer konnte, zog nach der Reaktorkatastrophe weg. Die Gärten sind völlig verwildert. Viele Häuser haben keine Fenster mehr. An den Bäumen hängen Warnschilder. Sie bedeuten: Vorsicht Strahlung. Es sind Erinnerungen an Tschernobyl.
    Valiantina und ihre Kollegin Zinaida sprechen oft über ihre Freunde und über Bekannte, die in den letzten Jahren an Krebs gestorben sind. Zinaidas Tochter ist auch gestorben. Zwei Jahre nach dem Atomunfall bekam sie Gebärmutterkrebs. Deswegen engagiert sich auch Zinaida im Kinderhilfsverein.
    "Wir alle sind so etwas wie eine Familie geworden. Meine eigenen Enkel studieren in anderen Städten. Ich lebe alleine hier. Wir helfen uns gegenseitig. Ich verteile die humanitäre Hilfe, zum Beispiel Möbel an arme Familien oder Waisen."
    Wie Valiantina und Zinaida engagieren sich viele Ältere ehrenamtlich im Kinderhilfsverein. Gemeinsam haben sie über 3.000 Kinder aus Buda-Koschelevo nach Deutschland zur Erholung geschickt. Auch Alexander Tamkovitsch hat sich viele Jahre gemeinsam mit Valentina und anderen Helfern engagiert. Vor zwei Jahren hat er ein Buch über die Hilfsprojekte geschrieben. Titel: "Der Tschernobyl-Weg". Er sagt:
    "Mehr als 600.000 Kinder und Jugendliche aus den verstrahlten Gebieten haben inzwischen Erholungsurlaub im Ausland gemacht oder sind dort medizinisch behandelt worden. Mindestens ein Drittel von ihnen in Deutschland. Heute fahren schon die Kinder der Tschernobyl-Kinder. Viele der ersten Generation sind ausgereist nach Deutschland oder haben Deutsch studiert."
    "Furcht, sie könnten Mutanten gebären"
    In seiner Dokumentation hat Tamkovitsch auch Belege für Erbkrankheiten gesammelt. Sein Resümee: Noch heute werden mehr als 50 Prozent aller Babys in Buda-Koschelevo mit Strahlenschäden geboren:
    "In Fernsehberichten sieht man bei uns keine Probleme. Aber viele junge Frauen finden keinen Partner. Niemand will sie heiraten aus Furcht, sie könnten Mutanten gebären. Das klingt vielleicht lustig. Tatsächlich ist es aber ein großes Problem. Bei uns wird vieles verschwiegen: Die Strahlung in dieser Region darf offiziell nur von staatlichen Behörden untersuchen werden. Kein Arzt sagt dir genau, welche deiner Krankheiten die Folge von Tschernobyl ist."
    In Belarus sind offiziell nur 18 Krankheiten als Folgenschäden von Tschernobyl anerkannt. In der Ukraine sind es 176 und in Russland 150. Werden in Belarus also weniger Menschen krank als anderswo? Nein. Natürlich nicht, sagt Aliaxander Tamkovitsch. Es werden in Belarus nur weniger Kranke anerkannt, weil der Staat dadurch Krankengeld und Beihilfen spart.