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Atomkraft in Belgien
Tihange-1 gefährlicher als angenommen?

Belgiens Atomkraftwerke sind gefürchtet – zumindest die beiden Reaktoren Tihange-2 und Doel-3. Sie haben Risse in den Reaktorbehältern und bedrohen die gesamte Grenzregion rund um Aachen. Doch Belgien betreibt insgesamt sieben Atomreaktoren – und zumindest einer, nämlich Tihange-1 – ist offenbar genauso riskant.

Von Jürgen Döschner | 01.02.2018
    Teilnehmer bilden (25.06.17) vor dem Atomkraftwerk Tihange (Belgien) eine Menschenkette.
    Teilnehmer bilden (25.06.17) vor dem Atomkraftwerk Tihange (Belgien) eine Menschenkette. (dpa / belga / Anthony Dehez )
    Viele Katastrophen kündigen sich an, haben Vorläufer, die auf das drohende Unheil hinweisen. Das gilt auch für die Atomkraft. Hier sprechen die Techniker von "Precursor", zu Deutsch "Vorboten":
    "Ich erinnere daran, dass Tschernobyl einen Vorläufer hatte, dieser Vorläufer wurde nur nicht beachtet. Tschernobyl hätte nicht stattfinden können und nicht stattfinden dürfen, wenn man sachgerecht untersucht hätte, also eine Precursor-Analyse durchgeführt hätte", sagt Manfred Mertins, langjähriger Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, GRS.
    Precursor-Analysen sind also enorm wichtig. Die GRS selbst spricht von "Vorboten für Schäden im Reaktorkern". In vielen Ländern werden sie seit Jahren systematisch erfasst. Dem WDR liegt nun ein Schreiben der Brüsseler Atomaufsicht vor, in dem erstmals Zahlen über Precursor-Ereignisse in den belgischen Atomkraftwerken genannt werden. Demnach gab es in Belgien zwischen 2013 und 2015 insgesamt 14 Precursor-Fälle – davon mehr als die Hälfte in dem Reaktor Tihange-1. Atomexperte Mertins ist alarmiert:
    "Precursor kann man schon einstufen als einen Indikator für den Sicherheitszustand der Anlage. Die Anzahl der Precursor, und das zeigt sich ja in Tihange-1, zeigt, dass wir hier eine deutliche Häufung haben, gegenüber anderen Anlagen in Belgien, so dass man schon allein aus diesem Indikator heraus feststellen kann, dass die Sicherheit der Anlage hier Probleme aufweist."
    Atomsicherheit - Angelegenheit der jeweiligen Regierungen?
    Der ehemalige Chef der deutschen Atomaufsicht im Bundesumweltministerium, Dieter Majer, drückt es noch drastischer aus:
    "Diese Zahlen sind erheblich höher als üblich. Da müssen eigentlich die Alarmglocken bei allen Verantwortlichen, sowohl bei den Betreibern in Belgien, bei der Behörde in Belgien und auch bei den Nachbarländern, also sprich bei der deutschen Behörde, beim deutschen Bundesumweltministerium müssten alle roten Lampen angehen."
    Die Bundesregierung jedoch wiegelt ab. Atomsicherheit sei Angelegenheit der jeweiligen Regierungen, so das Umweltministerium gegenüber WDR-Hörfunk und Monitor. Im Übrigen seien Precursor, Zitat, "nicht geeignet, direkte Rückschlüsse auf das Sicherheitsniveau einer Anlage zu ziehen". Fast wortgleich äußert sich auf Anfrage die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC. Dem widersprechen nicht nur die Atomexperten Majer und Mertins. In einem Bericht der EU-Kommission von 2009 heißt es:
    "Aus den Erfahrungen ergibt sich, dass schweren Unfällen in der Regel relativ harmlose Vorläuferereignisse vorausgehen, und dass eine signifikante Verschlechterung des Zustandes der Anlagen oder der Sicherheitskultur in der Regel aus frühen Anzeichen erkennbar ist."
    In öffentlichen Stellungnahmen spielte Tihange-1 bislang
    Precursor-Ereignisse können also durchaus ein Zeichen für Mängel im der Anlage oder beim Personal sein – zumal, wenn es so viele sind und weitere Probleme, z.B. häufige Reaktorschnellabschaltungen und lange, außerplanmäßige Stillstände, hinzu kommen – wie im Fall Tihange-1. Nuklearexperte Mertins kommt daher zu dem Schluss:
    "Man muss einfach feststellen, dass das Risiko der Anlage Tihange-1 vergleichbar ist mit dem Risiko der beiden anderen genannten Anlagen, also Doel-3 und Tihange-2, so dass man hier auch darauf dringen müsste, die Anlage in überschaubarer Zeit abzustellen."
    Obwohl man im Umweltministerium nach eigenem Bekunden über die Precursor-Fälle in Belgien informiert ist: In den öffentlichen Stellungnahmen der Bundesregierung spielte Tihange-1 bislang keine Rolle. Ein grobes Versäumnis, meint Sylvia Kotting-Uhl, Atomexpertin der Grünen im Bundestag:
    "Die Bundesregierung müsste in ihrer Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung darauf drängen, dass untersucht wird, was ist mit diesem Reaktor los, warum hat er diese vielen Vorfälle, und dass er dann eventuell in der Konsequenz auch abgeschaltet wird."
    Die grüne Atomexpertin meint, dass jetzt auch noch einmal neu über die Lieferung deutscher Brennelemente an Doel und Tihange nachgedacht werden müsse.