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Atomkraft - ja bitte

Von der Tschernobyl-Wolke bekam Skandinavien damals besonders viel Regen ab, mit den entsprechenden Konsequenzen. Dennoch baut Finnland heute, 20 Jahre später, gerade ein neues Atomkraftwerk, und auch in Schweden gibt es mittlerweile wieder eine Mehrheit für die Nutzung der Kernenergie. Über diese Entwicklung und ihre Ursachen macht sich in der Europakolumne Hannes Gamillscheg Gedanken. Er ist Skandinavien-Korrespondent unter anderem der Frankfurter Rundschau und lebt und arbeitet in Kopenhagen.

24.04.2006
    Es war hier in Skandinavien, als die ersten Alarmglocken läuteten, damals, vor zwanzig Jahren. In Finnland und Schweden hatten Messstationen erhöhte Radioaktivität registriert, es gab Gerüchte über ein mögliches Leck im schwedischen AKW Forsmark. Bald stellte sich heraus, dass die Quelle der Strahlenwerte weiter weg war, in der damals noch sowjetischen Unkraine, und das Ausmaß des Unglücks viel dramatischer. Auch weite Teile Skandinaviens wurden damals von dem GAU in Tschernobyl direkt in Mitleidenschaft gezogen. Es waren die Wochen, in denen Eltern nicht wagten, ihre Kinder zum Spielen in die Sandkiste im Garten zu schicken, und Becquerel-Werte eine Maßeinheit wurden, von der man so selbstverständlich sprach wie von Celsius-Graden oder Kalorien. Pilze, Beeren und Fische waren so verstrahlt, dass sie niemand mehr essen konnte, und die samischen Rentierzüchter mussten ihre geschlachteten Tiere direkt in die Verbrennungsanlagen fahren und wussten nicht, ob sich ihr traditioneller Broterwerb je wieder erholen würde.

    Zwanzig Jahre später gibt es in Mittelschweden, wo der Frühlingsregen damals verseucht war, immer noch Gegenden mit überhöhten Strahlenwerten. Doch die Angst vor der Atomkraft hat sich verzogen. 1986 waren 75 Prozent der Schweden gegen mehr Nuklearenergie, nur zehn Prozent dafür. Jetzt hat die Uni Göteborg, die jährlich die Einstellung zur Atomkraft misst, erstmals eine absolute Mehrheit von Befürworten der strahlenden Energiequelle registriert - 50 Prozent dafür, 33 dagegen - und Projektleiter Sören Holmberg hat dafür keine plausiblere Erklärung, als dass es seit Tschernobyl eben kein weiteres ernsthaftes Unglück gegeben habe.

    In Finnland bauen sie gar schon ein neues AKW, ein fünftes, das erste, das in der EU seit Tschernobyl in Auftrag gegeben wurde. Das war ein für die Atomlobby wichtiger Durchbruch, seither ist die Kernenergie in der europäischen Tagesordnung wieder ganz nach oben gerückt. Dass er in Finnland kam, war kein Zufall. Dort war die Anti-Atom-Bewegung nie sonderlich stark, früher aus Staatsraison, weil Finnland die AKW-Technik teils aus der Sowjetunion importierte und Kritik am großen Nachbarn damals tabu war. Dass die Finnen dann die Ost-AKWs mit modernster westlicher Technik nachrüsteten, spricht für ihren Realitätssinn. Später bremste die hohe Arbeitslosigkeit den Widerstand. Über den Standort des fünften AKW sowie einer Endlagerstätte für den Atomabfall gab es heftige Debatten, aber nicht etwa von Gegnern, die den Bau verhindern wollten. Beide Orte, an denen die ersten vier Reaktoren stehen, wollten den neuen haben. Olkiluoto an der Südwestküste hat schließlich "gewonnen".

    Und auch in Schweden, wo man eigentlich einem Volksentscheid folgen müsste, aus der Nuklearenergie auszusteigen, ist die Stimmung atomkraftfreundlich geworden. Zwei Reaktoren hat man abgeschaltet. Die lagen in unmittelbarer Nähe der Großstädte Malmö und Kopenhagen extrem ungünstig. Doch zehn Meiler produzieren weiter, und sie produzieren dank Kapazitätserweiterung mehr Atomkraft als früher die zwölf. Jetzt hat Ministerpräsident Göran Persson eine neue Vision entwickelt. Bis 2020 solle Schweden von Erdöl unabhängig sein. Das klingt gut in Zeiten galoppierender Rohölpreise. Doch auch wenn Schweden viel Wasserkraft hat und erfolgreich mit Biobrennstoffen experimentiert: gleichzeitig mit dem Ausstieg aus der Atomkraft lässt sich der Verzicht aufs Öl nicht bewerkstelligen.

    So macht man weiter mit der Atomkraft, in Schweden, in Finnland, in anderen Ländern Europas, auf anderen Kontinenten. Für die menschliche Vergesslichkeit sind zwanzig Jahre lang, für den Abbau radioaktiver Strahlung sind sie eine Winzigkeit.