Aufbruch im Osten

Wird Görlitz das neue Hypezig?

11:39 Minuten
Ausblick von der Kirche St. Peter und Paul nach Südwest mit Rathausturm und Landeskrone, Görlitz, Sachsen.
Schafft Görlitz eine Trendwende und wird zur neuen Boomtown - nach dem Vorbild "Hypezigs" alias Leipzig? © imago images / Hanke
Von Christine Reißing · 05.07.2021
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Jahrelang sank in Görlitz die Einwohnerzahl, heute hat sie sich stabilisiert, steigt sogar leicht. Mittlerweile leben dort wieder 56.000 Menschen. Gerade für Junge gibt es einiges zu entdecken, sodass schon von einem Hype wie in Leipzig die Rede ist.
Monumental thront es in der Mitte von Görlitz, das historische Jugendstilkaufhaus. Es diente als Kulisse für Wes Andersons "Grand Budapest Hotel". Einem von über 100 Filmen, die in der gut erhaltenen Stadt gedreht worden sind – und ihr den Spitznamen "Görliwood" einbrachten. Rund 4000 Kultur- und Baudenkmäler stehen in der Stadt.
"Und da könnte man ja eben unterstellen: Naja, das ist so ne richtig verschlafene Museumsstadt. Aber das ist gerade nicht der Fall", ist Hartmut Wilke überzeugt. Der Amtsleiter für Stadtentwicklung in Görlitz.
"Sondern es gibt ganz viele Menschen, die eben gerne experimentieren. Die ausprobieren wollen: Wie geht es, in der historischen Stadt modern zu leben?"


Stolz erzählt er von zehn, 15 Jahre alten Prognosen. Die hätten für Görlitz heute weniger als die Hälfte der Bevölkerung prognostiziert, ein Schrumpfen von einst über 100.000 Einwohner:innen auf unter 50.000 im Jahr 2020. Tatsächlich aber leben nun wieder etwas mehr Menschen in Görlitz: rund 56.000. Dieser Wert ist seit mehreren Jahren stabil. Das Bild von der immer leerer werdenden Stadt nach dem Ende der DDR stimmt also nicht.
"Und da muss man sagen, das ist natürlich schon ein Zeichen dafür, dass in Görlitz Entwicklungen stattgefunden haben und auch unterstützt wurden, die eben dazu geführt haben, dass Menschen nicht so viel weggezogen sind – und dass im Gegenteil auch Menschen zuziehen. Und wenn sich das jetzt auch noch nicht so wirklich durchschlägt: Aber es sind eben doch zunehmend auch junge Menschen, die sich für die Stadt interessieren. Und das ist natürlich besonders positiv."
Auch viele aus Polen zögen her. Trotzdem ist Görlitz voll von leer stehenden Häusern.

Jugendkultur auf einem ehemaligen Industriegelände

Ortswechsel: eine ehemalige Hefefabrik am Rand der Altstadt. Deren Silos stehen noch – sind mittlerweile aber mit Graffitis überzogen.
"Die sind, glaube ich, auch zu großen Teilen beim Fokus-Festival entstanden. Wo dann irgendwie Streetart-Künstler:innen eingeladen wurden, hier tatsächlich sich dann auch zu verewigen", erklärt Marielene Groß.
Die 26-Jährige arbeitet für Rabryka – ein Zentrum für Jugend- und Soziokultur. Das organisiert besagtes Urban-Art-Festival mit.
"Es ist quasi eine Mischung aus dem Wort ‚Fabryka‘ – Polnisch für Fabrik. Und das R kommt von den roten Backsteinfassaden."

2020 ist Rabryka in das nun sanierte Waggonwerk eingezogen – direkt neben dem Hefefabrikgelände.
Rabryka beherbergt Konzertsaal und Kneipe, Tonstudio, einen selbstverwalteten Jugendklub, Gemeinschaftsgarten, Holzwerkstatt. Und einen sogenannten Makerspace.
"3D-Drucker, Lasercutter, Siebdruck gibt’s hier auch. Es laufen jetzt auch wieder so regelmäßig die ganzen Angebote."
Eine junge Frau mit langen braunen Haaren sitzt auf einer Mauer.
Marielene Groß auf dem Gelände der ehemaligen Hefefabrik: "Ich darf es nicht weiterempfehlen, weil ich nicht möchte, dass es zum nächsten Hypezig wird.“© Deutschlandradio / Christine Reißing

Förderung kommt von der Stadt Görlitz

Offene Werkstätten und Schul-AGs etwa. Und Marielene Groß organisiert gerade ein Medienbildungsprojekt, zu Verschwörungsideologien. Rabryka sei eine Plattform, es gehe um "gemeinschaftsorientierte Stadtentwicklung", heißt es auf der Website. Die Stadt selbst fördert das. Der einst kleine Jugendklub hat sich institutionalisiert.
"Und das ist ein Prozess, der so ein bisschen Vor- und Nachteile mit sich bringt. Wir haben natürlich jetzt coole Infrastrukturen. Aber wir versuchen auch irgendwie trotzdem, wir zu bleiben. Und trotzdem Rabryka zu bleiben. Und trotzdem irgendwie niedrigschwellig für Leute, die sich beteiligen wollen, zu bleiben. Und so ein bisschen das Flair, was wir hier haben, auch mit zu behalten."
Marielene Groß kommt eigentlich aus dem Raum Köln. Sie ist für einen Freiwilligendienst nach Görlitz gezogen, hat dann in der Stadt studiert.
"Ich darf es nicht weiterempfehlen, weil ich nicht möchte, dass es zum nächsten Hypezig wird." Sagt sie und lacht.

Hypezig – so wird das rund 200 Kilometer entfernte Leipzig genannt, das rasant gewachsen ist. Könnte so was auch in Görlitz passieren? Stadtplaner Hartmut Wilke:
"Denkbar ist es schon. Ich denke nur, wenn man realistisch ist, muss man sagen: Das wird nicht so in der Masse passieren und das wird auch nicht so rasant passieren. Es wird eben gerade vielleicht keinen Hype geben. Aber eine solide Entwicklung in kleineren Schritten ist vielleicht eben auch eine nachhaltigere."
Das dürfte Marielene Groß freuen, die derzeitige Wahl-Görlitzerin. Ihre Bilanz:
"Wenn man sich irgendwie an dem Kleinstädtischen nicht stört. Und wenn man auch bereit dazu ist, die gleichen Gesichter immer wieder zu sehen. Und in verschiedenen Projekten und Ebenen und Räumen und Orten immer wieder die gleichen Leute zu treffen und mit denen auch cool zu sein: Dann ist man hier auf jeden Fall glücklich. Aber wenn man irgendwie eine Angebotsvielfalt in einer Breite sucht und irgendwie so eine Anonymität, die ja auch schön sein kann, sucht: Dann ist man hier fehl am Platz. Und das wird sich, glaub ich, auch nicht ändern."
Ein Wandgemälde auf einem alten Industriegebäude.
Auf dem ehemaligen Gelände der Hefefabrik in Görlitz ist ein Freiraum für junge Menschen und Streetartkünstler:innen entstanden.© Deutschlandradio / Christine Reißing

Um weiterhin neue Einwohner:innen nach Görlitz zu locken, gab es von Januar 2019 bis März 2020 das Projekt "Stadt auf Probe". Dabei durften insgesamt 62 Personen für je vier Wochen in Görlitz wohnen und arbeiten, mietfrei. Organisiert hat das das Interdisziplinäre Zentrum für transformativen Stadtumbau (am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung). Christine Reißing hat mit dessen Leiter, dem Raumplaner Robert Knippschild, darüber gesprochen, was aus dem Projekt geworden ist. Das Interview hören Sie im Audio im Anschluss an diese Reportage.

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