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Atomtests und Altlasten

Vor 50 Jahren wurde in Algerien die erste französische Atombombe gezündet. Die gesundheitlichen und psychischen Folgen wirken noch in der heutigen Generation weiter - doch die Politik tut sich schwer in der Aufarbeitung.

Von Suzanne Krause | 12.04.2010
    Mitten in der algerischen Sahara, zweieinhalb Fahrtstunden von Tamanrasset entfernt, steht ein gutes Dutzend Jeeps und ein Reisebus. Die algerische Regierung hat eine internationale Delegation eingeladen, die ehemalige französische Atomtestbasis zu besichtigen: zum 50. Jubiläum des ersten Nuklearversuchs 1960. Die Fahrzeuge parken direkt neben der zweispurigen Wüstenstraße, über die Laster über Laster mit großen Staubwolken donnern. Den Straßenrand säumen einen Meter breite Rohre, die gerade verbuddelt werden. Durch diese Leitungen soll bald Wasser aus 700 Kilometer Entfernung fließen, zur wirtschaftlichen Entwicklung der Region. Dahinter steigt der Tan Affela tausend Meter in den Himmel. Der Zugang zum Berg ist weiträumig von einem hohen Drahtzaun versperrt. Arabische Schilder warnen: Gefahr! Vor dem Portal hat Ammar Mansouri vom staatlichen algerischen Atominstitut eine Gruppe Journalisten um sich versammelt:

    "Bis 1966 hat Frankreich hier insgesamt 13 unterirdische Atomtests im Berggestein durchgeführt. Vier gingen schief. Am 1. Mai 1962, zwei Monate vor der algerischen Unabhängigkeit, passierte der schlimmste Unfall: Es war weltweit der erste GAU vom Typ Tschernobyl. Dabei schmolz Gestein, es wurde viel hochverstrahlte Lava aus dem Berg geschleudert. Und radioaktive Gase formten eine mächtige schwarze Wolke, die weit über das Land zog. Davon kann Ihnen der Zeitzeuge an meiner Seite berichten: Michel Dessoubrais."

    Und Dessoubrais erzählt voll Verve. Dass er damals mit acht anderen französischen Wehrpflichtigen auf Wachpatrouille war, einige Kilometer entfernt. Wie sie sich plötzlich mitten in der Wolke wiederfanden und jeglicher Kontakt zum Rest der Truppe abgebrochen war. Dass sie nach langem Irrmarsch von Männern in Schutzkleidung empfangen und sofort in ein eilends errichtetes Dekontaminierungslager gebracht wurden. Und eine Woche später in die Heimat ausgeflogen wurden – in ein Militärkrankenhaus. Es ist der Aufklärungsarbeit von Vereinen zu verdanken, dass die Öffentlichkeit heute überhaupt von diesem schweren atomaren Unfall weiß: Jahrzehnte beharrte Paris auf dem Mythos der "sauberen Atomtests". Michel Dessoubrais sagt, er verspüre keine gravierenden gesundheitlichen Folgen. Aber dennoch hätten die Schrecken dieses Tages bei ihm unauslöschbare Spuren hinterlassen. Auch am Unglücksort sind die Spuren längst noch nicht beseitigt. Ammar Mansouri zeigt auf die Risse im Berg: Der algerische Atomphysiker fürchtet, sie könnten weiter aufreißen und noch mehr Strahlung freisetzen. Am Fuße des Tan Affela begrenzt er die Besichtigung strikt auf eine Viertelstunde: aus Sicherheitsgründen. Dabei heißt es in zwei Studien der französischen Regierung und der Internationalen Atomenergiebehörde, die radioaktive Belastung sei gering. Gefahr für Mensch und Umwelt bestünde nicht. Den Geigerzähler in der Hand, straft Bruno Barrillot die Behörden Lügen. Seit über zwei Jahrzehnten kämpft der Franzose mit einem Vereinsnetzwerk dafür, dass Frankreich sich seiner Verantwortung für die Folgen seiner Atomtests stelle. Er zitiert die kürzlich veröffentlichte Vorstudie eines unabhängigen französischen Strahlenmessinstituts. Deren Ergebnis: die radioaktive Strahlung der Lavaschicht ist tausend Mal höher als die normale Hintergrundstrahlung in der Region. Barrillots Geigerzähler schrillt beängstigend:

    "Jetzt kommt der Geigerzähler nicht mehr mit. Da lassen sich die Werte nur noch im Labor bestimmen. Nur so viel: Wenn Sie zehn Stunden hier verbringen, haben Sie die höchstzulässige Strahlendosis für ein Jahr weg. Es ist also sehr gefährlich hier. Vor allem auch, weil Kamele und Ziegen Lücken im Zaun finden und zum Weiden herkommen. Über deren Fleisch, deren Milch gelangt die Radioaktivität dann in die menschliche Nahrungskette."

    Die schweren Baumaschinen zum Tunnelbau, die mal auf dem Bergplateau standen, sind spurlos verschwunden. Die Explosionswelle schleuderte sie wie Spielzeug durch die Luft. Und Schrotthändler räumten nach dem Abzug der Franzosen illegal bis auf die letzte Schraube ab. Sie buddelten auch einen Gutteil des verstrahlten Materials aus, das nach den Tests im Wüstensand vergraben wurde. Wo noch was liegt, weiß in Algerien heute keiner. Die entsprechenden Karten ebenso wie die Unterlagen zur Sprengkraft der gezündeten Bomben nahmen die Verantwortlichen der Atomtests mit nach Frankreich. Dort liegen sie nun in den Militärarchiven. Und mit dem neuen Archivgesetz aus dem Jahr 2008 hat Frankreich diese Akten als Geheimdokumente eingestuft, damit sind sie auf ewig unter Verschluss. So tut sich Algerien schwer, das strahlende Erbe der Nuklearversuche in der Wüste zu beseitigen. Bis heute gibt es allenfalls erste Erkenntnisse über das wahre Ausmaß der Folgen der Atomtests. 2007 veranstaltete die Regierung in Algier erstmals ein Kolloquium zu diesem Thema. Und lädt nun, zum 50. Jahrestag des ersten Atomtests der ehemaligen Kolonialherren, zu einer neuen Bilanz. Dazu fliegt auch Meloui Zina ein. Zina kam vor fünf Jahren in die Wüste. Als sie im Krankenhaus von Tamarasset als allererste Hämatopathologin den Dienst antrat.

    "Anfangs wusste ich gar nicht, dass in der Region Atomtests durchgeführt worden waren. Doch im Laufe meiner Arbeit wurde ich hellhörig. Denn ich war mit sehr vielen Fällen von Schilddrüsenkrebs konfrontiert. Ich war sehr schockiert und habe darüber mit Professoren in Algier gesprochen. Sie bestätigten mir, dass es im Süden weit mehr Patienten mit Schilddrüsenkrebs gibt als in Algier."
    "In meiner Statistik steht bei unseren weiblichen Patienten der Brustkrebs, wie gewöhnlich, an erster Stelle. Nicht normal hingegen ist: An zweiter Stelle folgt Hautkrebs, bei Männern und bei Frauen, quer durch alle Altersgruppen. An dritter Stelle findet sich der Schilddrüsenkrebs. Und normalerweise ist das zweithäufigste Krebsleiden bei Frauen der Gebärmutterhalskrebs. In Tamanrasset jedoch ist es der Schilddrüsenkrebs - der strahlenbedingt sein kann. Das bedeutet: Unsere Region unterliegt einem ganz eigenen Umweltfaktor. Und dabei kann es sich eigentlich nur um die Folgen der radioaktiven Strahlung aus den Atomtests handeln. Zum einen brauchen wir eine vertiefte Studie, um alle Krebserkrankungen bei uns genau zu bestimmen. Und zum anderen brauchen wir ausreichende Mittel, um die Kranken anständig zu versorgen."

    Zur Eröffnung des internationalen Kolloquiums in Algier ertönt die Nationalhymne. Eingeladen hat das Ministerium für die Mudschahedin. Auf dem Podium sitzen, neben Experten aus Australien und Großbritannien, auch Vertreter der beiden französischen Opfervereine, die sich 2001 mit jeweils mehreren Tausend Mitgliedern gründeten. "Aven" in Frankreich versammelt ehemalige Wehrpflichtige und Militärs, die bei den Nuklearversuchen Dienst taten. "Moruroa e Tatou" gehören Arbeiter der französischen Atomtestbasis in Polynesien an. Ihre gemeinsame Lobbyarbeit führte zur sogenannten Loi Morin, zum französischen Entschädigungsgesetz, das zu Jahresbeginn in Kraft trat, benannt nach dem Verteidigungsminister, Hervé Morin. Beim Kolloquium in Algier kommentieren die Präsidenten der Opfervereine den französischen Gesetzestext. Ammar Belkacem lauscht ihnen aufmerksam. Der Endvierziger ist groß, stämmig gebaut, doch sein Antlitz wirkt, wie aus den Fugen geraten: Die beiden Gesichtshälften sind völlig ungleich:

    "Ich bin ein Opfer der französischen Atomtests in Algerien. Als junger Mann wog ich 60 Kilo und war rundum gesund. Dann wurde ich beim Armeedienst in der Region von Tamanrasset eingesetzt, zum Bau der Wüstenstraße. Ab 1987 war ich zwei Jahre lang direkt am ehemaligen Atomtestgebiet. Drei Monate nach meiner Ankunft ging mein Körper plötzlich auf wie ein Hefekuchen, bis ich 120 Kilo wog. Meine Knochen wucherten. Später erstarrte mein rechter Arm, er ist heute völlig gelähmt. Auch meine Beine machen Probleme. Und als man mich endlich mal richtig untersuchte, in einem Krebszentrum in Algier, fand man eine ganze Latte von Krankheiten: Drüsenkrebs, Herzprobleme, Cholesterol. Alles Leiden, die sich auf der Liste strahlenbedingter Krankheiten wiederfinden, die in Frankreich für das Entschädigungsgesetz erstellt wurde."

    Belkacem fühlt sich als spätes Opfer der Atomversuche. Doch selbst wenn dies wahr sein sollte: Einen Anspruch auf Entschädigung hat er laut der Loi Morin nicht. Denn er war nicht unmittelbar während der Nuklearversuche am Tan Affela, sondern erst ein Vierteljahrhundert später. Doch die Loi Morin verspricht nur denen Entschädigung, die zum Zeitpunkt der Bombenversuche auf der Testbasis waren. Damit dürfte es auch vielen anderen potenziellen Opfern in Algerien schwerfallen, gesundheitliche Schäden anerkannt zu bekommen. Das Drängendste für die Regierung in Algier sind vorerst zwei Punkte: Paris soll Details zur damaligen Strahlung offenlegen. Und angeben, wo der radioaktive Müll entsorgt wurde. Denn der strahlt bis heute weiter. Die algerische Presse berichtet ausführlich über das zweitägige Kolloquium. Und in derselben Woche druckt die Tageszeitung El Watan ein ganzseitiges Interview mit Jurien de la Gravière ab. Dem Verantwortlichen der Pariser Kommission, die sich seit fünf Jahren um die Folgen der französischen Atomtests kümmert. Gravière macht im El-Watan-Interview erstmals publik, dass seit Ende 2007 eine französisch-algerische Arbeitsgruppe in Geheimverhandlungen zum Thema tagt. Mit dem Ziel, eine ausführliche Expertise zu erstellen. Immerhin kündigt Jurien de la Gravière Mitte März in einer Diskussionssendung im französischen Fernsehen knapp an, dass Paris Hilfestellung beim Aufräumen leisten wolle.

    "Warten wir ab, dass die Expertise fertig ist. Und dann können wir uns anschauen, wie genau zu verfahren ist.
    Da hakt die Moderatorin nach ... ..
    Dass alles so lange dauert, ist nicht meine Schuld. Die beiden Staatspräsidenten, Sarkozy und Bouteflika, haben sich im Dezember 2007 erstmals getroffen und auch die Atomtests angesprochen. Das ist ja noch nicht so lange her."

    Zweifelsohne ist das Atomtestdossier ein Stachel in den franko-algerischen Beziehungen. Aber bei Weitem nicht der einzige, meint Dominique David. David leitet in Paris das "Ifri", das "Institut français des relations internationales". Eine der wichtigsten Denkfabriken des Landes.

    "Die beiden Staaten haben es bislang auf beiden Seiten selbst am Minimum an intellektueller Verantwortung fehlen lassen, um ihre historischen Probleme aus der Kolonialzeit zu regeln. Die diplomatischen Beziehungen sind geprägt von tiefem Groll, der auf beiden Seiten instrumentalisiert wird. Aus innenpolitischen Gründen will Frankreich bestimmte Dinge nicht anerkennen, um einen Teil seiner politischen Elite und gewisse Praktiken in der Vergangenheit nicht bloßzustellen. Selbst wenn wir mittlerweile eingestanden haben, dass wir einen Kolonialkrieg gegen Algerien führten. Die Regierung in Algier ihrerseits sieht sich im Erbe der Generation, die Algerien in die Unabhängigkeit führte. Und sie setzt auf eine anti-französische Stimmung, um ihre Politik und die Machtkontrolle zu steuern."

    Am 13. Februar 1960, nach dem ersten Nuklearversuch in der damaligen Kolonie Algerien, jubelt General de Gaulle, Frankreich sei nun eine Atommacht. 50 Jahre später unterlassen es das Verteidigungsministerium und das Kommissariat für Atomenergie wohlweislich, das Jubiläum zu zelebrieren. Die gesundheitlichen Folgen der Atomtests, die endlich aufgedeckt wurden, sind dabei ein Grund. Ein anderer, so Dominique David vom Forschungsinstitut "Ifri", sei die laufende Debatte um nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen. Was die Vorschläge des US-Präsidenten betrifft, steht Paris auf dem Standpunkt, sein Soll schon mehr als erfüllt zu haben. Tatsächlich hat Frankreich nach weltweiten Protesten seine Nukleartests unter Präsident Chirac 1996 beendet. In dieselbe Zeit fiel die Reduktion der nuklearen Sprengköpfe um ein Drittel. Doch "Global Zero", wie es Obama als Vision mit seiner Rede in Prag formuliert hat, die komplette atomare Abrüstung, steht für Frankreich nicht an, meint Militärexperte David:

    "Frankreichs Einstellung zur Atombombe ist einfach und unverändert. Erstens: Wir sind eine Atommacht. Wären wir das nicht, würden wir eventuell anders denken. Aber wir sind nun mal eine Atommacht. Zweitens: Es ist nicht vorhersehbar, was in der Welt passieren kann. So ist Frankreichs Standpunkt folgender: Solange wie die Welt unberechenbar ist, wie das Gleichgewicht der Mächte langfristig nicht absehbar ist, wie das Proliferationsproblem nicht gemeistert ist – solange haben die Atomwaffen für die Sicherheit unseres Landes noch ihre Rolle zu spielen."

    Im kommenden Mai geht es bei den Vereinten Nationen in New York, wie alle fünf Jahre, um eine Überprüfung im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags. Die letzte Runde, 2005, scheiterte. Vor allem an der starren Haltung der Vereinigten Staaten, der Bush-Regierung. Diesmal könnte der Schwarze Peter Frankreich zukommen. Atomwaffengegner wie der in Lyon ansässige Verein "Observatoire des armements", Beobachtungsstelle für Nuklearwaffen, hoffen, Paris wenigstens zu einigen Zugeständnissen bewegen zu können. Wie beispielsweise, dass die atomaren Sprengköpfe nicht automatisch einsatzfähig montiert werden. Sondern erst im Falle einer unmittelbaren Bedrohung. Den Vorsitz des "Observatoire des armements" führte lange Jahre Bruno Barrillot. Heute dokumentiert er im Auftrag der Regionalregierung in Polynesien, dem französischen Überseedepartement in der Südsee, die Folgen der dortigen Atomtests. Gleichfalls setzt er sich mit einem internationalen Netzwerk für ein Ziel ein: die Schaffung weltweiter Normen für den Umgang mit den Folgen der Nuklearversuche. Eine Idee, für die Bruno Barrillot auch beim Atomtestkolloquium der algerischen Regierung im Februar wirbt:

    "Um solche internationalen Normen einzuführen, müssen wir meiner Meinung nach denselben Weg gehen wie bei unserer früheren Initiative gegen die Landminen. Da konnte ein großes Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen das Thema weltweit publik machen. Und wir brachten Norwegen, Kanada und Belgien auf unsere Seite. Deren diplomatischer Einsatz führte 1997 zum Ottawa-Abkommen, zum Verbot der Landminen."

    Auch Lynn Anderson strebt solche Normen an: um politisch Druck machen zu können. Jahrelang setzte sich die Australierin in ihrem Parlament für angemessene Mittel ein, die Folgen der britischen Atomtests im australischen Busch zu beseitigen. Nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten, die einen Teil ihres Testgebietes in Nevada und ein Südseeatoll rehabilitierten. Doch wo sonst rund um den Globus Atomtests in der Atmosphäre für radioaktiven Fallout sorgten, sind die Gebiete bis heute überall Sperrbezirk. Unbrauchbar gewordenes, gefährliches Land. In Algier resümiert Lynn Anderson:

    "Die australische und die britische Regierung haben beide entschieden, den Fall als abgeschlossen zu betrachten. Im vergangenen Dezember haben sie einen Teil des ehemaligen Testgebietes gesäubert seinen Besitzern, den Ureinwohnern, zurückgegeben. Doch Atomtests wirken ewig nach. Irgendwann wird man feststellen, dass man nicht genug getan hat, und dann muss man erneut anfangen, die Umwelt zu säubern."

    Immerhin: Die Opfer der französischen Atomtests nutzen das Kolloquium zum symbolischen Schulterschluss. Vor seinen Kollegen aus Frankreich und Algerien stimmt John Doom, Präsident des polynesischen Vereins, bei einer kleinen Feier ein gerührtes Dankeslied an:

    "Seit Langem warten wir auf diese internationale Solidarität, und nun ist sie Realität. Jetzt geht es erst richtig los. Heute sind wir drei Vereine nichts als Sandkörner. Aber gemeinsam wollen wir einen Sandsturm auslösen. Um unser Ziel zu erreichen: Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer der Atomtests, in Algerien, in Polynesien - und überall in der Welt, wo Atomtests stattfanden."