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Attentat
Mit ungeheurer Wucht

Nach Anschlägen sind Notfallseelsorger im Dauereinsatz: Sie stehen den Angehörigen der Opfer bei, helfen leicht Verletzten, klären Organisatorisches oder hören einfach nur zu. Wie gehen sie mit dem Erlebten um? Eine Recherche rund um den Berliner Breitscheidplatz.

Von Klaus Martin Höfer | 24.05.2017
    Sie sehen den Sattelschlepper, mit dem der Anschlag verübt wurde, Arbeiter befestigen ihn am 20.12.2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin an einem Abschleppwagen.
    Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Eine erste Hilfe für Angehörige von Opfern bieten Notfallseelsorger. (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Den Einsatzbefehl erhielt Matthias Motter mit einer Textnachricht auf seinem Mobiltelefon, so wie immer, wenn er als Notfallseelsorger gebraucht wird.
    "Ich habe mich dann zurückgemeldet, also auch per SMS, und dann den Anruf bekommen, dass ich dorthin fahren soll, hab mir dann ein Auto genommen und bin dorthin gefahren", sagt Motter.
    "Genau, ich habe auch die SMS bekommen und bin dann auch losgefahren und wir haben uns dann direkt an der Absperrung getroffen und sind dann gemeinsam auf die Unfallstelle", sagt Daniela Birk.
    Sie ist ebenfalls Notfallseelsorgerin, allerdings keine Theologin wie Pfarrer Motter. Sie gehört seit acht Jahren zum Berliner Kriseninterventionsteam, zusammen mit rund 140 anderen ehrenamtlichen Helfern. Bei dem Einsatz nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz begann es so, wie bei anderen Anforderungen auch: Erst mal erfahren die Notfallseelsorger ziemlich wenig, worum es geht. Sie können allerdings davon ausgehen, dass es keine Bagatellen sind.
    Einfach "da sein"
    "Die Sorge ist auch immer dabei, ob ich wirklich dem Einsatz gerecht werden und dass ich helfen kann. Das denke ich jedes Mal davor: Kann ich den Menschen helfen? Und: Hoffentlich gelingt es mir", sagt Daniela Birk.
    Bei dem Anschlag am Breitscheidplatz hat sie der Einsatzleiter der Feuerwehr erst in einen Großraumbus gebeten. Dort saßen zunächst Menschen, die nur leicht verletzt waren oder die als Zeugen noch unter dem Eindruck des Erlebten standen. Während draußen die Schwerverletzten versorgt wurden, waren die Notfallseelsorger erste Absprechpartner, erläutert Justus Münster, der Leiter der Berliner Notfallseelsorger:
    "Wir hatten an dem Abend es ja auch mit sehr vielen Menschen zu tun, die einfach nicht wussten, wo sind meine Angehörigen, wo ist meine Schwester, wo mein Bruder, wo ist meine Tochter, wo mein Sohn, wo meine Mutter, mein Vater. Und in der Situation der Ungewissheit, wo man Informationen haben möchte, standen wir ihnen zur Seite, bis die Informationen da waren oder eben nicht da waren."
    Einfach "da sein", auch wenn man keine Antworten hat - weder auf konkrete nach den Verwandten, noch auf vielleicht schwerwiegendere nach dem Warum und "Was ist da geschehen?" - auch für die Notfallseelsorger war der Einsatz bei dem Anschlag am Breitscheidplatz eine Ausnahmesituation.
    "Ich konnte erst einmal gar nicht schlafen"
    "Bei mir war es auch so, dass ich das auch erst nach einer bestimmten Zeit realisiert habe, also es auch mit meiner Fantasie abgeglichen habe, dann diesen Lkw die ganze Zeit gesehen habe. Und erst nach anderthalb, zwei Stunden wurde mir auch die Tragweite dessen bewusst, was da tatsächlich passiert ist."
    Seelsorger am Tatort
    Notfallseelsorger und Polizisten nach dem Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz (imago stock&people/olaf Wagner)
    Nach Stunden, erst in dem großen Bus, dann in einem extra bereitgestellten Hotelsaal, kamen alle spät nach Hause, erinnert sich Justus Münster.
    "Ich konnte erst einmal gar nicht schlafen, gar nicht daran zu denken. Ich muss erst mal ein Stück runterfahren von diesem Einsatz: Was macht das jetzt eigentlich mit mir? Kurz noch mal entwerfen: Was macht das mit uns auch als Familie? Was bedeutet das für uns als Berlinerinnen und Berliner. Das sind ja doch andere Dimensionen."
    Hilfe für die Helfer
    Für andere sind sie da, doch auch die Notfallseelsorger selbst müssen es schaffen, mit dem Erlebten und dem Erzählten umzugehen. Intensive Tage sind es auch für sie, anders noch einmal als bei den meisten Einsätzen.
    "Es gibt Einsätze, die treffen mich mit ungeheurer Wucht, andere weniger. Also macht der Breitscheidplatz noch mal mehr mit mir als Betreuer."
    Notfallhelfer helfen Verletzten nach dem Attentat auf die Manchester Arena am 22. Mai 2017
    Notfallhelfer uns Seelsorger im Einsatz nach dem Attentat auf die Manchester Arena (imago stock&people/Zumba Press)
    Das ging nicht nur Justus Münster so. Alle etwa 50 am Breitscheidplatz eingesetzten ehrenamtlichen Kriseninterventionshelfer und Notfallseelsorger besuchten deswegen eine dreistündige Nachbesprechung.
    Solche Treffen werden nach jedem Einsatz angeboten. Sie helfen, das Erlebte erst einmal rational zu verarbeiten. Es geht um organisatorische Belange, die beim nächsten Mal besser laufen sollten. Doch auch die emotionale und psychologische Aufarbeitung ist wichtig.
    "Die Grundhaltung, mit der wir reingehen, ist ja eine sehr empathische. Allerdings natürlich auch mit einer professionellen Distanz. Aber das schützt nicht vor einer sekundären Traumatisierung an der Stelle. Und dann müssen wir natürlich auch sehr stark aufpassen, denn auch wir wissen alles, was wir in einem Einsatz sehen, was wir hören, was wir riechen, was wir schmecken, und vielleicht wird es ja auch zu unserem."
    Vorbereitung durch intensive Ausbildung
    Mitfühlend sein, aber die Ereignisse dann doch nicht so nahe heran lassen, dass sie belasten - das ist die Herausforderung, auf sich die Notfallseelsorger durch eine intensive Ausbildung vorbereiten: Eine 80-stündige Schulung müssen sie absolvieren, so sieht es eine deutschlandweite Vereinbarung vor. In Berlin sind es noch einmal 30 Stunden mehr. Dabei lernen sie auch, ihre eigenen Grenzen zu sehen. Zum Beispiel, sich nicht verantwortlich für Unglücke zu fühlen, sondern, dass sie eine Situation vorfinden, die sie erst einmal akzeptieren müssen.
    Die Helfer haben zudem sehr individuelle Lösungen entwickelt. Daniela Birk, zum Beispiel:
    "Man vergisst nie die Orte, wo man zu einem Einsatz war. Wenn man daran vorbei fährt, dann kommen kurz Bilder und Gefühle zurück. Beim Breitscheidplatz war es anderes. Da bin ich bewusst noch mal zurück an diesen Ort und habe mich noch mal in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gesetzt. Ich habe eine Kerze angezündet, und ich habe für mich eine Art Abschluss gesucht."
    Einen Rahmen, einen Abschluss finden - das ist eine Möglichkeit für die Notfallseelsorger, mit dem Erlebten fertig zu werden. Dann spielt noch das private Umfeld eine Rolle. Matthias Motter:
    "Ich glaube die Haupthilfe, damit ich diese Arbeit tun kann ist, dass ich mit meiner Frau darüber reden kann. Und ich kann diese Arbeit auch nur tun, weil ich weiß, wo ich hin kann mit meiner Sorge. Und da spielt mein Glaube einfach eine ganz große Rolle, der auch eine Motivation ist, das zu tun. Dass ich als Christ sagen kann, wo meine Grenzen sind, wo die Grenzen dessen sind, was ich in dieser Welt sehe. Da hat Gott immer noch Möglichkeiten und dem kann ich das auch befehlen. Klingt jetzt etwas komisch, aber diese Arbeit hat mich sehr viel dankbarer noch werden lassen. Für all das Schöne, was wir zusammen erleben, weil wir alle in dieser Arbeit immer erleben, wie schnell sich ein Leben ändern kann und wie schnell etwas passieren kann, wo niemand oder man selber auf jeden Fall nichts dafür kann. Und plötzlich ist alles anders."