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"Auch im Internet muss Anonymität möglich sein"

Die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft stellt nach dreijähriger Arbeit im Bundestag ihren Abschlussbericht vor. Eine zentrale Forderung darin laute, dass es im digitalen Raum anonyme Kommunikationswege geben sollte, betont Kommissionsmitglied Markus Beckedahl: "Das kann man nur immer wieder jedem älteren Innenpolitiker unter die Augen reiben."

Markus Beckedahl im Gespräch mit Friedbert Meurer | 18.04.2013
    Friedbert Meurer: Für jüngere Leute sind es Geschichten aus der Steinzeit, dass es einmal eine Zeit gegeben hat ohne Computer und Internet, unfassbar, und dass man zum Telefonieren in eine Telefonzelle gegangen ist. Aber das ist ja alles noch nicht so wahnsinnig lange her. Bis vor wenigen Jahren hat sich auch die Politik eher wenig für solche Themen interessiert. Dann erschien auch noch die Piratenpartei am politischen Horizont und spätestens dann wurde klar, welche unmittelbaren Auswirkungen die Digitalisierung für alle Lebensbereiche hat, auch für die Politik. Vor drei Jahren wurde im Bundestag die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft aus der Taufe gehoben, ihr Abschlussbericht wird heute im Bundestag debattiert.

    Markus Beckedahl ist Netzaktivist und war als Sachverständiger in der Enquete-Kommission die ganzen drei Jahre lang dabei, und vor der Sendung habe ich mit ihm ein Gespräch aufgezeichnet. Guten Morgen, Herr Beckedahl.

    Markus Beckedahl: Guten Morgen!

    Meurer: Wie oft haben Sie in den drei Jahren grinsen müssen über die Internetkenntnisse der Politiker?

    Beckedahl: Das ist ja innerhalb der drei Jahre besser geworden. Am Anfang gab es dort natürlich auch schon junge intelligente Politiker, die wussten, was das Internet ist, die es auch selbstverständlich nutzten, wenn auch nicht alle, aber man hatte dann im Laufe der Enquete-Kommission das Gefühl, dass es so einen kollektiven Lernprozess gab und dass alle mitgenommen wurden und zumindest der Wissensstand eindeutig in den drei Jahren verbessert wurde.

    Meurer: Am Ende kommt ein Bericht heraus, heute wird er verabschiedet, 2000 Seiten ist er lang. Empfehlen Sie irgendjemandem, diesen Bericht zu lesen?

    Beckedahl: Dieser Bericht ist sicherlich sinnvoll, vor allen Dingen für Politikwissenschaftler, die jetzt mal zitierfähige Quellen haben über den mehr oder weniger aktuellen Stand von Netzpolitik in der deutschen Debatte beziehungsweise im Deutschen Bundestag. Es sind auch sicherlich viele, wenn auch nicht alle Handlungsempfehlungen dem Bundestag, der Politik zu empfehlen, sie vielleicht mal umzusetzen, und das ist ja auch die Aufgabe einer Enquete: möglichst über den Horizont hinausschauen - ob das gelungen ist, ist ein bisschen unklar -, aber zumindest mal den Status quo aufzuschreiben und Politikberatung zu betreiben, was man denn konkret umsetzen könnte.

    Meurer: Neben den Politikwissenschaftlern, die das jetzt studieren können, was sind denn so für Sie die wichtigen Handlungsempfehlungen oder einige Empfehlungen?

    Beckedahl: Eine Handlungsempfehlung, die man sicherlich herausstellen kann, ist, dass die Enquete-Kommission eindeutig empfiehlt, dass es auch im Internet, im digitalen Raum anonyme Kommunikationswege geben sollte. Das kann man nur immer wieder jedem älteren Innenpolitiker unter die Augen reiben, wo fast täglich die Vorratsdatenspeicherung gefordert wird, wo fast täglich ein Staatstrojaner wieder eingeführt werden soll, und die Enquete-Kommission sagt eindeutig: Auch im Internet muss Anonymität möglich sein.

    Meurer: Wieso? Das führt doch dazu, dass im Internet viel Beleidigendes gesagt wird unter dem Deckmantel eines Pseudonyms.

    Beckedahl: Wir haben auch im Internet Grundrechte, die wir im analogen Raum haben. Auch im analogen Raum gibt es keine Videoüberwachung in Ihrem Wohnzimmer, wo mal über diese Videoüberwachung geschaut werden kann, ob Sie dort jemanden beleidigen. Warum sollte das im digitalen Raum eingeführt werden, wo wir ...

    Meurer: Die Zeitungen drucken Leserbriefe nur ab, wenn da auch der Name druntersteht. Wenn es anonym ist, werden die in der Regel nicht abgedruckt.

    Beckedahl: Ja, aber das ist den Zeitungen vorbehalten. Bei Ihnen zu Hause können Sie ja auch irgendwie sagen, was Sie wollen. Wenn Sie rausgehen, sich mit anderen Leuten unterhalten, können Sie auch sagen, was Sie wollen. Wollen Sie das jetzt verbieten, nur weil die Zeitungen Leserbriefe irgendwie vorzensieren?

    Meurer: Anonyme Kommunikationswege muss es weiterhin geben im Internet. Gab es Beschlüsse, die in die Richtung gehen, dass es - das ist ja so die Idee oder die Philosophie bei den Piraten - mehr direkte Demokratie über Netz- und Internetwege in der Politik geben soll?

    Beckedahl: Ja! Es gab ganz klar auch Handlungsempfehlungen in die Richtung, dass sich politische Prozesse im Bundestag öffnen sollen, dass neue Werkzeuge ausprobiert werden sollen. Die Enquete-Kommission ist da auch ein bisschen vorangegangen, hat ein Werkzeug verwendet, wo interessierte Bürger sich mit eigenen Handlungsempfehlungen mehr oder weniger in die Enquete-Debatte einmischen konnten, Vorschläge machen konnten, und das wird jetzt auch dem Bundestag empfohlen, einfach mal mehr auszuprobieren, sich zu öffnen, die ganzen Entscheidungswege transparenter zu machen.

    Meurer: Es gab während der Kommissionsphase eine Beteiligungsplattform, Sie haben sie, glaube ich, gerade angesprochen - Adhocracy heißt sie. Was ist da passiert?

    Beckedahl: Dort hatten zumindest in der zweiten Hälfte der Enquete die Bürger die Möglichkeit, sich zu beteiligen, eigene Vorschläge zu machen, was in den Abschlussbericht an Handlungsempfehlungen reinkommt, und die Vorschläge von anderen zu bewerten. Das war eine kleine Revolution für den Bundestag. Für die einen war es der Einstieg in die Abschaffung der parlamentarischen repräsentativen Demokratie, für die anderen war es ein schönes Experiment, um mal auszuprobieren, wie wir alteingesessene festgefahrene Prozesse wieder neu beleben können.

    Meurer: Sie gehören wahrscheinlich zur zweiten Gruppe, Herr Beckedahl, die davon eher angetan ist. Hat das Beispiel der Piraten in der letzten Zeit nicht gelehrt, dass bei Liquid Democracy, flüssiger Demokratie, die Sache eher im Chaos endet?

    Beckedahl: Ich glaube jetzt nicht, dass unbedingt das Beispiel der Piraten zeigt, dass neue Werkzeuge zur Partizipation automatisch ins Chaos führen werden. Wir müssen Erfahrungen sammeln mit diesen neuen partizipativen Werkzeugen, sie bieten viele Möglichkeiten an, das Interesse an Demokratie bei vielen vielleicht sogar wiederzubeleben.

    Meurer: Nennen Sie eine Möglichkeit, wie Sie sich das vorstellen.

    Beckedahl: Meiner Meinung nach müssen wir viele Wege ausprobieren, wie wir Prozesse öffnen können. Beispielsweise haben wir einen Gesetzesprozess, der ziemlich festgefahren ist ..., oder nicht festgefahren, sondern der nach dem üblichen Muster in einem Prozess abläuft. Das heißt: Es gibt Kabinettsentwürfe, es gibt vorher Referentenentwürfe, es gibt dann einen Kabinettsbeschluss, es gibt dann eine Überführung in den Bundestag, es gibt dort Diskussionen. Wieso ermöglichen wir nicht Partizipation, wieso ermöglichen wir nicht Stellungnahme in all diesen Prozessmeilensteinen, dass jeder sich daran beteiligen kann, an der Diskussion, und auch in früheren Phasen schon Feedback geben kann.

    Meurer: Im Abschlussbericht wird ein Koordinator für Netzpolitik gefordert, Herr Beckedahl, vielleicht sogar ein Staatsminister. Lacht sich da die Netzgemeinde nicht kaputt, wenn es bald einen Staatsminister fürs Internet gibt?

    Beckedahl: Nein, weil das ist einfach mal überfällig, es kommt eigentlich schon ein paar Jahre zu spät. Wir haben ja die absurde Situation, dass wir uns einen Beauftragten für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt leisten, der eigentlich auch fürs Internet zuständig ist und der eigentlich auch der internetfeindlichste aller Minister und Staatsminister am Kabinettstisch ist. Das ist unser Bundesbeauftragter für Kultur und Medien, Staatsminister Neumann, weil in all seinen Äußerungen, die er macht, eher eine kulturpessimistische, internetfeindliche Meinung zum Ausdruck kommt, die vielleicht damit zu tun hat, dass er eher aus dem kulturpolitischen Raum kommt, wo man das Internet eher skeptisch sieht. Und unserer Meinung nach müsste auch mal jemand am Tisch sitzen, der das Internet ein bisschen positiver sieht. Gleichzeitig haben wir die Situation, dass wir in vielen Ministerien mittlerweile Abteilungen haben, die gar nicht so genau koordiniert werden innerhalb der Bundesregierung.

    Meurer: Markus Beckedahl war das, Netzaktivist und er war als Sachverständiger Mitglied in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft. Heute wird der Abschlussbericht im Bundestag vorgestellt. Herr Beckedahl, besten Dank, auf Wiederhören!

    Beckedahl: Ja, vielen Dank!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.