Freitag, 19. April 2024

Archiv

Flüchtlinge
Rat für Migration kritisiert Anti-Asyl-Wahlkampf

Der Rat für Migration, ein Zusammenschluss von 150 Wissenschaftlern, hat Alternativen zur Flüchtlingspolitik formuliert. Betroffenen eine Bleibeperspektive zu verwehren, sei kontraproduktiv. Teilhabe müsse auch für Zugewanderte gelten. Die Einschränkungen beim Asylpaket I und II müssten revidiert werden.

Von Paul Vorreiter | 08.09.2017
    Eine Demonstrantin in Berlin-Kreuzberg hält bei Protesten für ein Bleiberecht für Flüchtlinge ein Schild mit der Aufschrift "Mehr Utopie wagen: Eine Welt ohne Grenzen". (5.7.2014)
    Eine Demonstrantin in Berlin-Kreuzberg hält bei Protesten für ein Bleiberecht für Flüchtlinge ein Schild mit der Aufschrift "Mehr Utopie wagen: Eine Welt ohne Grenzen" (5.7.2014) (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Der Rat für Migration ist enttäuscht. Enttäuscht über eine Migrationsdebatte, wie sie wenige Wochen vor der Bundestagswahl geführt wird. Von einer 2015 dominierenden Willkommenskultur ist nach Ansicht des Forschergremiums ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen dominiere ein Diskurs, bei dem es um Abschottung geht. Der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer:
    "Unter der Federführung des Innenministeriums ist die Politik mit dem Asylpaket I und II zu einer Politik von Grenzziehung und Abschreckung zurückgekehrt. Stichpunkte 'Vermeidung falscher Anreize', 'Grenzkontrollen'. Fortschritte, die in den vergangenen Jahren im Bezug auf den Umgang mit Sans Papiers oder auch im Bezug auf Umgang mit Duldung gemacht wurden, wurden sukzessive rückgängig gemacht."
    Rücknahme der Einschränkungen beim Asylpaket I und II gefordert
    Der Rat für Migration ist ein bundesweiter Zusammenschluss von rund 150 Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Forscher stellten in Berlin ein Manifest vor, das Alternativen zur aktuellen Politik aufzeigen soll. Der Rat fordert unter anderem eine Rücknahme der Einschränkungen beim Asylpaket I und II. Diskussionen, die Flüchtlingen eine Bleibeperspektive verwehren, hält der Rat für kontraproduktiv: Soziologe Albert Scherr:
    "Ein ganz aus meiner Sicht zentraler Punkt besteht darin, dass Integration für die Betroffenen eine verlässliche und dauerhafte Bleibeperspektive voraussetzt, weil es relativ einsehbar ist, dass Integrationsbemühungen dann sinnvoll und auch möglich sind, wenn man eine längere Zeitperspektive vor Augen hat."
    Kritik gibt es deshalb von den Forschern auch mit Blick auf Vorstöße aus Bayern. CSU-Chef Seehofer hatte zuletzt angeregt, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte dauerhaft ausgesetzt werden soll.
    Es herrsche das Motto "Aus den Augen aus dem Sinn"
    Dem setzt der Rat für Migration die Forderung entgegen, dass Teilhabe von Anfang an Einheimischen und Zugewanderten gleichermaßen zuteil werden sollt. Das betrifft auch Fragen der Integration von Muslimen. Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus kritisierte hier langjährige Versäumnisse, die nun im Streit mit der Türkei zutage treten:
    "Nun reicht aber ein Windstoß aus Ankara, um die Kooperationen wieder in Frage zu stellen. Hier sehen wir, dass nicht langfristig gedacht wurde. Das war im Prinzip schon lange vorauszusehen, dass so etwas passieren könnte, aber es wurde eben nicht darauf gesetzt, muslimische Strukturen hier tragfähig zu machen, im Land als selbständige Strukturen aufzubauen."
    Mit Blick auf internationale Politik kritisiert der Rat, dass das Elend von Flüchtlingen aus Europa herausgehalten würde nach dem Motto "Aus den Augen aus dem Sinn". Unter diesem Gesichtspunkt halten die Forscher wenig von den Beschlüssen des Pariser Flüchtlingsgipfels Ende August. Zentraler Beschluss dort: Asylverfahren sollen künftig schon in nordafrikanischen Ländern durchgeführt werden, unter Beobachtung des UN-Flüchtlingshilfswerks.
    Deutschland soll mehr Flüchtlinge im Zuge des Resettlement-Programms aufnehmen
    Kulturanthropologin Sabine Hess verwies darauf, dass Länder wie Tschad und Niger Flüchtlinge militärisch abwehren. Sie bezweifelte ebenso, ob das Flüchtlingshilfswerk zu fairen Asylverfahren beitragen wird und verwies dabei auf Erfahrungen aus der Türkei:
    "Die Türkei hat alle Syrer aus dem Asylverfahren grundsätzlich ausgeschlossen. Syrer haben grundsätzlich keinen Zugang zum UNHCR-Flüchtlingsprogramm. Das hat der UNHCR mitgemacht. Der UNHCR in der Türkei hat sukzessive ganz große Flüchtlingsgruppen, je mehr sie werden, aus dem UN-System ausgeschlossen, wie davor zum Beispiel schon die Afghanen."
    Trotz der Kritik fordert der Rat für Migration eine höheren Etat für das UN-Flüchtlingshilfswerk. Außerdem solle sich Deutschland dazu bereit erklären, mehr Flüchtlinge im Zuge des Resettlement-Programms aufzunehmen. Darüber kann eine gewisse Anzahl an Hilfsbedürftigen abseits des Asylverfahrens Schutz in einem Drittland erhalten.