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Auf Augenhöhe in Berlin
Auftakt beim inklusiven Festival "no limits"

Sich den eigenen Ängsten stellen, Hoffnung finden und die Verletzlichkeiten miteinander teilen: Viele Menschen schauen bei den Themen Behinderung und psychische Erkrankungen weg. Nicht so die Macher des Festivals "no limits" in Berlin. Im Gegenteil: Sie holten sowohl Künstler mit und ohne Handicap auf die Bühne.

Von Elisabeth Nehring | 14.11.2017
    Theater-Performerin und Aktivistin Neve Be auf der Bühne des HAU2 beim "No Limits"-Theaterfestival in Berlin
    Theater-Performerin und Aktivistin Neve Be auf der Bühne des HAU2 beim "No Limits"-Theaterfestival in Berlin (Michael Bause)
    Neve Be, die hier spricht, singt und tanzt, arbeitet als Performerin, Theatermacherin, Modell. Die amerikanische Darstellerin mit den dunklen Haaren bezeichnet sich selbst als queer, multi-gender (in diesem Fall: weiblich, aber nicht nur), mixed raced, also mit verschiedenen ethnischen Hintergründen – und Rollstuhlnutzerin. Auf der Bühne des HAU2 vertont und vertanzt Neve Be gelebte Disability- und Gender-Studies: Wer bestimmt, auf welchen Körper man stolz sein und welcher Körper auf der Bühne tanzen darf? Ihre poetischen, anspruchsvollen Texte über Selbstbestimmung und die Freiheiten eines Körpers jenseits der Norm korrespondieren mit ihrer Performance, bei der sie sich schlangengleich und sehr lustvoll aus dem Rollstuhl hinaus und wieder hineinschält.
    Depression als Teil der Kunst
    Neve Bes Performance ist Teil des Abends "Tender Provocations of Hope and Fear", bei dem verschiedene Künstler mit und ohne Behinderung auftraten. So auch Mit-Initiator James Leadbitter, der aus seiner schweren klinischen Depression Kunst macht. In seiner Lecture-Performance "Ship of Fools" berichtet der freundliche Brite mit dem Schnauzbart in Texten und Bildern von seinem 28-tägigen Kunstprojekt, mit dem er einer Einweisung in die Anstalt entgangen ist. Diese Tage, so berichtet er vor seinem Laptop sitzend, waren gefüllt mit Besuchen von Freunden, Telefonaten mit Anwälten und Ärzten – und einem Online-Gesundheitstest auf Symptome von Selbstmordabsichten.
    Aber James Leadbitter hat nicht die britische Notfallnummer 999 gewählt, sondern, zum Glück der Zuschauer, diesen erstaunlichen, witzigen, ehrlichen und bewegenden Performanceabend organisiert, in dem sich Kunst und Aktivismus überaus gelungen miteinander verbanden.

    Sich den eigenen Ängsten stellen, Hoffnungen suchen, finden, verlieren und wiederbeleben – darum ging es nicht nur bei "Tender Provocations of Hope and Fear", sondern auch bei dem Symposium "Take Care", das über drei Tage dem No Limits-Festival eine theoretisch-akademische Note gab, zugleich aber auch tief in die persönlichen Erfahrungen verschiedener Behinderungen ging.
    "Es gab viele Gründe, warum ich von meiner Familie wegwollte – aber die Art und Weise, wie sie dachten, mich pflegen zu müssen, war einer der wichtigsten."
    Verletzlichkeiten miteinander teilen
    Loree Erickson, rollstuhlfahrende Performerin und Verfechterin queerer Identitäten, berichtete in ihrem Vortrag von einem Modell von Pflege, das sie aufgrund fehlender finanzieller Mittel entwickelt hat. Da sie als Amerikanerin in Kanada keine Sozialhilfe erhält, hat sie ein "care collective organisiert, in dem sie mit ihren ehrenamtlichen Pflegepersonen feste Freundschaften und sehr persönliche Verhältnisse eingeht.
    "Ich organisiere meine Pflege unter der Prämisse, dass wir unsere Verletzlichkeit miteinander teilen. Wir sind zwei Menschen, die sich treffen und in die Situation ihr ganzes Selbst miteinbringen. Wir kommen zusammen, reden, lachen und manchmal weinen wir auch. Die Pflege und damit das Füreinander-Sorgen funktioniert also nicht nur in eine, sondern in verschiedene Richtungen."
    Beeindruckende Performances
    Die gesellschaftsrelevante und aktivistische Dimension von Pflege – und damit von Themen wie "Selbstermächtigung, Emanzipation und Ethik" wurden gerade im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen und mitunter sehr beeindruckenden Performances und Lesungen von körperlich, geistig, psychisch oder nicht behinderten Künstlerinnen und Künstlern deutlich.