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Auf dem Campus

Wolfram Fleischhauer gehört zu den wenigen deutschen Autoren, die auch im Ausland erfolgreich sind. Das liegt wohl vor allem daran, dass er es versteht, in seinen Kulturthrillern Spannung und Erkenntniswert miteinander zu kombinieren. Der autobiographisch gefärbte Roman "Der gestohlene Abend" führt den Leser in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ort des Geschehens ist eine amerikanische Elite-Universität, in der nicht nur die Gedanken Funken schlagen.

Von Ralph Gerstenberg | 29.01.2009
    Campus-Romane sind hierzulande eher eine Seltenheit. Vielleicht gilt der akademische Alltag an deutschen Universitäten als zu weltfern und staubtrocken, als dass Verlage und Autoren ihn einer breiten Leserschaft als setting anzubieten wagen. Möglicherweise ist auch der Respekt vor deutschen Professoren zu groß, um sie in die Niederungen des Menschlich-Allzumenschlichen hinabzuzerren, von denen Romane nun mal zu handeln pflegen. Die Chuzpe, Machtmissbrauch, Korruption und moralische Verwahrlosung den Lehrkörpern deutscher Hochschulen anzudichten, hatte bislang wohl nur Dietrich Schwanitz.

    "Der gestohlene Abend" von Wolfram Fleischhauer ist nun ein weiterer Versuch eines deutschen Autors, eine Geschichte im Milieu einer akademischen Bildungseinrichtung anzusiedeln. Allerdings spielt Fleischhauers Roman nicht in Marburg oder Tübingen, sondern an der fiktiven kalifornischen Eliteuniversität Hillcrest, die vermutlich der University of California Irvine nachempfunden wurde, an der Fleischhauer selbst studiert hat. So wie einst der Autor kommt nun auch seine Hauptfigur Matthias Theiss in den achtziger Jahren als Gaststudent nach Kalifornien, um an einem renommierten Collage Literaturwissenschaften zu studieren. Bald muss Theiss jedoch feststellen, dass die interessanten Seminare, vor allem die der berühmten Professorin Candall-Carruthers, von Gaststudenten laut Studienordnung nicht besucht werden dürfen. Enttäuscht und etwas desillusioniert besucht er unspektakuläre Einführungsveranstaltungen, bei denen ihm jedoch die Campusschönheit Janine auffällt, die er beim Training im universitätseigenen Swimmingpool wieder trifft.

    "Hi", sagte sie, bevor ich etwas herausbrachte. Und schon war sie vorbei. Ihre schwarzen Locken waren noch feucht, flogen aber trotzdem im Wind. Ich hätte ihr leicht folgen können. Wir saßen ja beide in Miss Goldensons Filmkurs. Ich hätte sie fragen können, ob sie Eisenstein mochte, oder ob sie mit der Filmtheorie von Christian Metz klarkam. Das entsprechende Referat war ja an sie gefallen, während Todorov an mich ging. Aber ich fragte sie gar nichts, sondern schaute ihr nach. Schließlich war sie die Freundin von David Levell.

    David Levell gilt als strahlendes Wunderkind, ein Zögling von Marian Candall-Caruthers, die in ihren Ästhetik-Seminaren an einem eigenen Institut die umstrittenen Lehren des Literaturtheoretikers Jacques De Vander verbreitet und eine Schar von Gläubigen heranzieht. Nach und nach gelingt es Matthias Theiss in den auserwählten Kreis vorzudringen und das Interesse von Janine zu wecken. Während die beiden miteinander eine Affäre beginnen, wendet sich David Levell überraschend von seiner akademischen Ziehmutter Candall-Caruthers ab. Auch die Theorie des einst verehrten Jacques De Vander bezeichnet er als "erledigt". Wenig später brennt die Universitätsbibliothek, und David stirbt in den Flammen. Den polizeilichen Ermittlungen zufolge hat er selbst das Feuer gelegt, in dem er verbrannt ist. Aber warum? Matthias Theiss lässt diese Frage keine Ruhe. Er stellt eigene Nachforschungen an und stößt in Brüssel auf Artikel, die der aus Belgien stammende Jaques De Vander in den frühen vierziger Jahren in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte, die "Le Soir" - "Der Abend" - hieß und nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten, die das Blatt zu Propagandazwecken missbrauchten, von der belgischen Bevölkerung "Der gestohlene Abend" genannt" wurde.

    Obwohl ich mich allmählich an die Rhetorik gewöhnt hatte, mit der De Vander die Naziideologie zu einer seriösen Gesellschaftsphilosophie hochstilisierte, war ich dennoch nicht vorbereitet auf das, was am 4. März 1941 in einer Sonderbeilage unter dem Titel Die Juden und wir. Die kulturellen Aspekte zu lesen war. ( ... ) Die zeitgenössische Literatur sei keineswegs jüdisch verseucht, argumentierte er. Jüdische Schriftsteller seien immer zweitrangig gewesen, was für die westlichen Intellektuellen eine beruhigende Feststellung sei. ( ... )
    Er war es nicht. Es konnte nicht sein. Ausgeschlossen, dass diese Sätze von einem Jacques De Vander stammten, dessen Philosophie ich studierte und bewunderte.


    Vorbild für Jacques De Vander ist der 1983 gestorbene Literaturtheoretiker und Philosoph Paul de Man, dessen antisemitische Artikel, die er im Alter von 22 Jahren für belgische Kollaborationszeitungen verfasst hat, 1987 entdeckt wurden. De Man war ein geistiger Verwandter von Jacques Derrida - von dem sich Wolfram Fleischhauer für seine Romangestalt wohl auch den Vornamen ausgeliehen hat. De Mans Sprachkritik spitzte den Widerspruch zwischen Logik und Rhetorik eines Textes zu. Um einen Inhalt oder ein Anliegen überzeugend zu transportieren, müsse ein Text sich rhetorischer Figuren und Metaphern bedienen. Dies führe zwangsläufig jedoch zur Selbstzerstörung des Textes, weil sein rhetorischer Gehalt den logischen hintertreibt. Das Lesen sei somit immer nur eine Interpretation, die komplizierte Auseinandersetzung mit einer Botschaft, die nicht verstanden werden könne, gleichzeitig aber "immer danach verlangt, verstanden zu werden”. Dadurch sei die Welt, die ihren Sinn erst durch die Sprache erhält, unlesbar geworden. Nach der Entdeckung seiner antisemitischen Schmähschriften geriet de Man - ebenso wie die nach seinem Vorbild geformte Romangestalt De Vander - in Misskredit. Seine Theorie erschien plötzlich in einem anderen Licht.

    Möglicherweise hatte De Vanders Theorie von der Unlesbarkeit der Welt einen viel tieferen, tragischeren Sinn gehabt, als ihm selbst bewusst gewesen war. Hatte er am Ende gar keine Theorie verfasst, sondern eine bizarre Form der Abbitte, der Beichte? Vielleicht hatte er die Sprache zum Verstummen bringen und sie zu einem System von widersprüchlichen Zeichen herabwürdigen wollen, um sein persönliches Trauma zu tilgen. Vielleicht hatte er die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen bringen wollen, die ihn täglich an die furchtbaren Sätze erinnerte, die er einmal geschrieben hatte.

    Für seinen Roman "Der gestohlene Abend" hat sich Wolfram Fleischhauer viel vorgenommen. Er will das geistige Klima einer amerikanischen Eliteuniversität in den achtziger Jahren darstellen, die Spannung eines Krimianlromans erzeugen sowie von einer unglücklichen Liebe und der intellektuellen Entwicklung seiner Hauptfigur erzählen. Zugleich gibt er facettenreiche Einblicke in literaturwissenschaftliche Denkgebäude und Lehrmethoden.

    Ein wenig zuviel des Guten und dennoch nicht genug! Was fehlt, sind lebendige Charaktere und eine Sprache, die Emotionen erzeugt. So gleichen die Protagonisten schlechten Schauspielern, denen man ihre Rollen nicht abnimmt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger "Schule der Lügen" lässt Fleischhauers neuer Roman auch in dramaturgischer Hinsicht einiges zu wünschen übrig. Die Kriminalhandlung, ausgelöst durch den Flammentod in der Universitätsbibliothek, kommt erst spät in Gang und ist nach wenigen Seiten schon wieder beendet. Sie dient nur als Vorwand, um die Hauptfigur auf die Spur von De Vanders Naziverherrlichungen ins Brüsseler Archiv zu schicken. Aber wozu dieses komplizierte Konstrukt? Warum erzählt Fleischhauer, der wie seine Hauptfigur am Ende des Romans als Konferenzdolmetscher in Brüssel arbeitet, nicht persönlich von seinen Erfahrungen und Enttäuschungen als Literaturstudent in den achtziger Jahren? Warum lässt er ein Alter Ego agieren, anstatt zu berichten, was ihn noch immer beschäftigt? Das fiktionale Erzählen ist in diesem Fall kein geeignetes Mittel, weil es nicht für mehr Komplexität sorgt, sondern allein den Konventionen des Romanciers Wolfram Fleischhauer zu genügen scheint.

    Wolfram Fleischhauer "Der gestohlene Abend", Piper Verlag, 364 Seiten, 19,90 Euro