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Gegenwartsgedränge (3/3)
Mit dem Fahrrad durch die Stadt - Phase Grün: morgen

Autos bewegen sich autonom durch die Straßen, ohne wie einst Fahrräder gnadenlos abzudrängen. In der Zukunft, so hofft Johannes Ullmaier, ist Radfahren endlich eine entspannte Angelegenheit.

Von Johannes Ullmaier | 16.08.2020
Eine Frau bewegt ein Elektrofahrrad durch Berlin. Die Deutschen nutzen zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit immer häufiger Elektrofahrräder.
Elektrofahrräder werden heute schon oft genutzt; möglicherweise sind sie in Zukunft Normalität - und autonom (dpa / Rainer Jensen)
Im dritten Teil der kleinen Serie zum Fahrradfahren gestern, heute und morgen schaut unser Autor in die schöne neue Welt einer technischen Revolution, die recht ambivalent sein könnte: Einerseits haben die Radfahrer ihren Platz im Verkehr und werden nicht mehr von den Autofahrenden gemobbt. Andererseits hat die digitale Revolution neue arbeitslose Massen geschaffen, die als Fußgänger die Verkehrswege blockieren! Und vom Gesundheitskult haben sich manche Radlerinnen und Radler auch verabschiedet: Sie müssen nicht mehr in die Pedale treten, sondern lassen sich chauffieren.
Der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier ist Akademischer Rat am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Spezialgebiete sind die Literatur des 20. Jahrhunderts, Avantgardebewegungen sowie die akustische Literatur (Lautpoesie, Hörspiel, Lesung und Spoken Word).
In der Serie "Gegenwartsgedränge – Mit dem Fahrrad durch die Stadt" geht die Sendung "Essay und Diskurs" der Frage nach, wie sich das Radfahren verändert hat, wie es in Zukunft aussehen wird – und was das über unsere Gesellschaft aussagt.


02.08. Phase Rot: gestern
09.08. Phase Gelb: heute

Bei dieser Serie handelt es sich um eine Wiederholung aus 2016

Phase Grün: morgen
Ich muss von A nach B und lasse dafür mein Rad hochfahren. Streng genommen ist es gar nicht mein Rad, sondern ein geleastes Bike‑Hybrid. Und streng genommen lasse auch nicht ich es hochfahren, sondern es sind die Daten, die ich in der Wohnung produziere, die das Rad - sobald genug darauf deutet, dass ich umgehend losfahren möchte - automatisch aus der nahegelegenen Security-Tiefgarage, die der größtmögliche Konzern in jedem Viertel unterhält, herausrollen lassen. Das ist praktisch, denn ich brauche keine Schlüssel mehr. Bloß meine Smart-ID.
Draußen naht das Fahrrad jetzt - wie immer just in time - von selbst heran und beugt sich schräg vor mir herab. So wie Nanny Rose, der Pferde‑Avatar aus einem populären Ritter-Blockbuster, mit dessen Streaming-Dienst mein E-Bike-Hersteller einen Lizenzdeal unterhält. Ich schwinge mich mit einem kleinen Cowboy-Hüftschwung auf - was für andere zugegeben blöd aussieht, aber die kleine Turneinlage tut meinen nicht mehr jungen Knochen gut. Jetzt heißt es bloß noch: Helm auf und Pedale finden, Füße einhaken und los. In der grünen Front der Car-Mobiles tut sich wie von Zauberhand kurz eine Lücke auf. Wir rollen auf die grüne Smart-Bahn. Zoom. Die Lücke schließt sich.
Fahrrad, fahr' mich ans Ziel!
Ab jetzt muss ich streng genommen bloß noch treten. Nanny Rose kennt meinen Weg zur Arbeitsstelle. Weiß auch, dass ich da um diese Uhrzeit hin muss. Im Vergleich zum früheren Kampf durch den Berufsverkehr bleibt mir dadurch viel mehr Zeit für eigene Betrachtungen. Wenn ich mich nicht - wie meist - schon während der Hinfahrt in die Arbeit stürze.
Heute lasse ich es jedoch mal ruhiger angehen. Und genieße meine reibungslose Fortbewegung. Lange hab ich mich geziert, auf ein autonomes E-Bike umzusteigen. Hab' auch immer noch mein altes Selbstlenk-Rad. Wenn auch bereits seit Jahren im Keller. Denn außer mitten in der Nacht oder in Afrika ist der Versicherungstarif einfach zu hoch, während ich hier auf Nanny Rose für mein autonomes Fortbewegungs-Treten umgekehrt den Fit-&-Safe-Bonus bekomme.
Heutzutage schwingen sich allenfalls noch ein paar alte, wohlhabende und lebensmüde Sturköpfe auf ihre unvernetzten Drahtesel. Zwar ist es nicht direkt verboten, jedenfalls nicht überall. Aber man sieht sie doch nur äußerst selten. Auf dem Antiquitätenmarkt bringt ein altes Fahrrad jedenfalls inzwischen deutlich mehr ein, auch wenn die jungen Vintage-Freaks, die für Kultmodelle irres Geld ausgeben, selber damit umfallen würden.
Nanny Rose dagegen ist mit dem Leasing-Deal im Basistarif supergünstig. In einer anderen Vertragsoption hätte ich das Bike vom größtmöglichen Konzern sogar geschenkt bekommen, was jedoch eingeschlossen hätte, dass beim Fahren auf dem City-Bildschirm vor mir und an manchen Außenflächen passgenaue Werbung läuft. Ich hatte das am Anfang auch, konnte mich da aber nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Die Jüngeren kommen damit besser klar. Aber ich bin nicht mehr so jung. Nur noch ein paar Jahre bis zur Rente. Da ist die Leasing-Lösung einfach das Vernünftigste.
Allein schon wegen der all-inclusive Mobilitäts-Garantie. Denn bei Nanny Rose kann ich im Gegensatz zu meinen früheren Rädern überhaupt nichts selber reparieren, weil ich von den Mechanismen und den Algorithmen, die da laufen, überhaupt nichts mehr verstehe. Wenn irgendwas kaputtgeht, sendet Nanny Rose automatisch eine Nachricht an den größtmöglichen Konzern, und eine Drohne bringt ruckzuck Ersatz, im Zweifelsfall ein neues Bike. Das darf jedoch nicht allzu oft passieren, sonst wird es unbezahlbar.
Damals, als man noch selber Rad gefahren ist
Früher bin ich sehr gern Rad gefahren. Aber inzwischen reicht es mir, wenn ich den Jüngeren erzählen kann: Ich bin ja meiner Zeit noch selber Rad gefahren - ohne Elektrohilfe, ohne Netz und Navi, sogar ohne Helm! Was? Auf der Fahrbahn? Mit den Cars? Haben sich da nicht alle gegenseitig totgefahren oder selber umgebracht? Eben nicht! Vielmehr haben alle sich zusammengerissen und gemeinsam der Gefahr getrotzt! Und die allermeisten kamen sogar einigermaßen unbeschadet durch, wenn auch weiß Gott leider nicht alle. Aber so war das früher halt - eine heroische Epoche. Eher urzeitlicher Irrsinn, antworten die Jungen, bloß weil die Verkehrsplanung damals noch in den Kinderschuhen steckte.
Und im Grunde haben sie ja Recht. Auch ich hab das dann irgendwann mal eingesehen. Zwar hab ich mich, so wie die Fahrradtechnik insgesamt, sehr lang gesperrt. Denn beim alten Radfahren hat der Lenker ja nicht bloß zur Richtungssteuerung gedient, sondern auch zur Wahrung der Balance, so dass die Selbstlenk-Fundamentalisten sich lange unbezwingbar wähnten: Selber lenken oder umfallen, hieß es. Doch mit dem Two‑Mass‑Skate‑Prinzip, das 2011 in Science erstmals präsentiert wurde, konnte das Balanceproblem vom Lenkproblem entkoppelt werden. Und so bekomme ich nun das Beste beider Welten: einerseits die Segnungen des autonomen Fahrens, also automatische und echtzeit-dynamische Verkehrs- und Zielführung, wie sie sich bei Vier- und Mehrrad-Fortbewegungsmitteln schon seit Längerem durchgesetzt hat; und andererseits die alten Fahrradqualitäten: frische Luft und Fitness. Wobei der E-Hybrid-Antrieb mich nach Bedarf beschleunigt oder eben abbremst und die übertrittige Energie zu späterem Gebrauch einspeichert.
Daran musste ich mich erst gewöhnen. Auch daran, nicht dauernd nach dem Lenker vorzugreifen oder - nachdem die Lenker-Rudimente endgültig entfernt wurden - peinlich in der Luft herumzufuchteln. Jetzt zucke ich bloß noch, wenn das E-Bike beim Umfahren eines wieder mal zu plötzlich aufgetauchten arbeitslosen Fußgängers ins Ruckeln kommt.
Archaisches Treiben, wo die Auto-Partei herrscht
Bei den Autofahrern waren die Kämpfe härter. Die Lenk-Partei hatte zwischenzeitlich fast 30 Prozent. In anderen Ländern ist sie heute an der Macht, aber da herrscht in jeder Hinsicht pure Raserei, eine Art vorzeitlicher Männer-, Kriegs- und Stammeskult. Die meisten hier blieben dann doch lieber gleich angeschnallt, während ihr Auto zusehends alleine fuhr. Autonomes Automobil, das heißt: was sich selbstfahrend von selber lenkt. 'Autonom' bezieht sich dabei selbstverständlich nicht mehr auf die hominiden Insassen, sondern auf die sie befördernden Maschinen. Allerdings ist das Einzige, was wirklich autonom geworden ist, das Leitsystem, das der größtmögliche Konzern in Abstimmung mit der größtmöglichen Koalition nun flächendeckend installiert hat. Dafür kann ich jetzt vom Dekubitus-Sattel aus mit Muße in die Landschaft blicken. So wie früher aus dem Zug, nur viel gesünder.
Alle, die sich den Versicherungstarif für das bequeme, aber auch sehr träge Autosessel-Sitzen nicht mehr leisten wollten oder konnten, sind vom Car zum Bike gewechselt. Die durchschnittliche Volksgesundheit ist dadurch in der Mittelschicht wieder deutlich gestiegen. Radfahrende werden bei der Stellenbesetzung besonders berücksichtigt.
Wie leise jetzt die Straßen sind. Bis heute klingt mir noch der einstige Motorenlärm im Ohr. Ob die autonomen Fahrzeuge auch aufeinander motzen? Hört man in dem gleichmäßigen Summen nicht noch in der Tiefe irgendwelche Algorithmen grollen: Fahr, du Arsch, grüner wird’s nicht, woran hängt’s? Als Hommage an ihre allzumenschliche Genese? Deutschland ist als Export-Nation an seiner Alt-Auto-Fixierung eingegangen. Als anderswo schon autonome E-Mobile fuhren, trickste man noch mit den Abgaswerten und drapierte unverdrossen nackte Frauen auf 500‑PS‑Wurfschleudern aus der Eisenzeit. Mit ein paar Ausnahmen blieb so auf die Dauer nur die - gleichwohl auch recht einträgliche - Zuliefer-Industrie.
Arbeitslos bedeutet Fußgänger
Dennoch wächst die Zahl der arbeitslosen Fußgänger seither scheinbar unaufhaltsam an. Arbeitslos, weil Fußgänger. Fußgänger, weil arbeitslos. Der neue Kreisverkehr des Teufels. Und anderswo? In neuerer Zeit gingen die großen Verkehrsrevolutionen beim Radfahren von Skandinavien und beim autonomen Fahren von Kalifornien aus. Allerdings sind sowohl Dänemark wie Kalifornien inzwischen vollständig von Plexiglaskuppeln überwölbt. Die arbeitslosen Fußgänger der anderen Länder müssen leider draußen bleiben. Allerdings gibt es auch dort schon viele einheimische.
Auch aus meiner Sicht werden die arbeitslosen Fußgänger in den letzten Jahren immer mehr. Viele kommen aus der Ferne, viele aber auch von hier. Die einen verlieren ihre Heimat, die in Chaos, Dürre, Armut oder Krieg versinkt und sehen dort keine Chance mehr für ihr Leben. Die Hiesigen dagegen haben hier inzwischen keine Chance mehr, fallen aus der Mittelschicht, die ständig weiter unter Druck gerät. Obwohl die arbeitslosen Fußgänger letztlich alle in derselben Lage sind, können oder wollen die verschiedenen Fraktionen offenbar kaum miteinander kooperieren.
Unvermeidlich stehen sie deshalb überall herum und stören die ansonsten optimal organisierten Abläufe.
'Haustiermensch' ruft mir jetzt einer zu, als ich ihn unfreiwillig auf die Seite scheuche. Puh, naja. Als Haustiermensch lebt man nicht schlecht. Vielleicht etwas zu gut. Wo ist beim autonomen Fahren der Unterschied zwischen dem Chauffeur und seinem Hund hinten im Korb? Die Antwort ist ja klar. Aber ich musste doch kurz überlegen.
Manche arbeitslosen Fußgänger kümmern sich aber auch wirklich um rein gar nichts. Nicht mal um sich selbst. Wenn sie Rudel bilden, stellen sich manche absichtlich nach außen, wo sie im Zweifelsfall am ehesten vom E‑Verkehr erfasst werden. Es scheint ihnen egal zu sein. Entweder sie vertrauen blind der autonomen Technik oder sie legen es sogar aufs Angefahren-Werden an. Aber warum? Um wenigstens irgendwie einmal bemerkt zu werden?
Ich kann darüber höchstens spekulieren. Aber obwohl ich selbst zur Mittelschicht gehöre und die Welt der arbeitslosen Fußgänger deshalb fast nur aus der Sicht von Nanny Rose, quasi im Vorbeigefahren-Werden, kenne oder aus den Medien, bei denen ich inzwischen aber eher skeptisch bin, kann ich es irgendwie auch nachvollziehen. Trotzdem bin ich auf die arbeitslosen Fußgänger auch manchmal sauer oder auf perverse Weise neidisch. Schließlich strample ich mich unablässig ab, auf festgelegten Wegen, wobei ich selber auch so gut wie nichts entscheiden kann, während die einfach bloß rumstehen dürfen.
Die einzige verbliebene Verheißung ist, ein Privat-Helikopter-Mensch zu werden, ein Heli, wie hier unten alle sagen. Aber nach mehreren Jahrzehnten Arbeit weiß ich mittlerweile auch, dass das durch bloßes Strampeln - egal wie brav und fleißig - kaum mehr geht. Man muss dafür im Flug geboren sein. Die Strampler heben heute nicht mehr ab, sie strampeln bestenfalls im Kreis. Die Helis dürfen ihre Hubschrauber selber lenken. Manchmal stürzt auch einer ab, wird dann aber umgehend gerettet. Angeblich dürfen die Helis sogar noch mit Bargeld zahlen. Sie dürfen bloß nie landen.
Nach Einführung der allgemeinen Bike-Nummernschild-plus-Helm-Pflicht hat sich der Kampf in letzter Zeit auf die Frage pro oder contra allgemeine Fußgänger-Nummernschild-plus-Helm-Pflicht verlagert. Trotzdem ist es ungerecht, wenn sie für ihre Geh- und Helmverstöße von den Algorithmen des größtmöglichen Versicherers automatisch sanktioniert werden, während die arbeitslosen Fußgänger, von denen viele überhaupt keine Versicherung haben, nach wie vor herumlaufen wie sie wollen. So ein Risikoverhalten geht auf Dauer nicht. Ob die Helis auch vergleichbare Probleme haben? Hmm. Von denen weiß man ja in Wirklichkeit nicht viel. Was in den amerikanischen Heli-Serien gezeigt wird, wirkt doch ziemlich stilisiert.
Schöne neue Welt durch autonome Elektrifizierung
Ein unschätzbarer Vorteil der autonomen Elektrifizierung ist allerdings, wie schön jetzt alles hergerichtet ist. Aus einem großen Parkplatz ist die Stadt zu einer großen Parkanlage umgestaltet worden. Überall sieht man nur grün. Überall gepflegte Beete. Wenn die arbeitslosen Fußgänger sie nicht wieder zertrampelt haben. Der Verkehr ist überwunden oder abgeschafft. Verkehrte Spur, verkehrte Straßenseite, verkehrte Richtung, falsche Reaktion, das Aufeinanderprallen isolierter Einzelwillen, Sinnbild des Gewusels und Gedränges - all das ist vorbei. Aus Verkehr wurde Beförderung. Aus Verkehrsteilnehmern sind jetzt Beförderte geworden. Niemand ist mehr niemandem im Weg. Alles steht jetzt unter einem großen Willen, der sagt: panta rhei, alles fließt.
Nach den Leitbildern für "Good Communication", "Good Work", "Good Health" und "Good Relationships" wurde vor ein paar Jahren das von einer kalifornisch-brüsseler Expertengruppe konzipierte Leitbild für "Good Traffic" ausgearbeitet und ratifiziert. Seither gibt es keine störenden Zusammenstöße mehr. Endlich findet alles von allein zu guter Ordnung. Im Einzelnen ist es das Schlaraffenland. Insgesamt vielleicht die Hölle. Naja, auch im Einzelnen kann es manchmal mühsam werden. Mehrmals schon wurde Nanny Rose im laufenden Betrieb gehackt. Meist von irgendwelchen Nerd-Scherzbolden, die einen plötzlich rückwärts oder unentwegt im Kreis fahren lassen. Haha. Einmal hat die Mafia auch mit mir ein schutzgeldsäumiges Lokal verwüstet. Hätte ich gewusst, was los ist, hätte das insgeheim vielleicht sogar ein Spaß sein können. So aber war es bloß ein Riesenstress mit der Versicherung. Der größtmögliche Konzern redet nicht gern über diese Vorfälle. Hinterbliebene werden still entschädigt.
De facto gibt es eigentlich auch immer weniger Grund, sich zu bewegen. Alles Relevante hat man überall auf seinem Display oder in den Implantaten. Dennoch gibt es immer mehr Verkehr. So war die Autonomisierung des Verkehrs auch letztlich unvermeidlich. Am Schluss war niemand mehr dessen Komplexität gewachsen. Bei den letzten großen Katastrophen lief es immer wieder auf den Menschen als Störfaktor hinaus: überfordert, fehlbar, unaufmerksam oder gar suizidal.
Der Mensch wurde so mehr und mehr zum Rückfallsystem, zum Maschinenlückenbüßer, der auf Abruf anlasslos topfit sein sollte, was er natürlich noch viel weniger konnte. Am schlimmsten war es, als hominide und autonome Fahrweisen sich dann in der Übergangsphase überlagert haben, die Menschen sich an die Maschinen und die Maschinen sich an die Menschen anpassen sollten. Unfälle, Chaos, juristische Scharmützel. Das war auf Dauer völlig ineffizient.
Tinder für Verkehrsteilnehmer?
Wie spät? Öffentliche Uhren gibt es nicht mehr. Die Zeit ist von der größtmöglichen Koalition an den größtmöglichen Konzern reprivatisiert worden. Mein Display zeigt sie exakt an. Alles im grünen Bereich. Wenn ich beim Fahren nicht arbeite, wird mir die glatte Strecke manchmal etwas lang. Vielleicht ein bisschen "Community-Communication"? Ich kriege automatisch angezeigt, wer gerade vorbeifährt. Und die anderen kriegen angezeigt, was für einer ich so bin. Da gibt es natürlich schon mal ab und zu sehr hohe Match-Korrelationen. Bei über 90 Prozent müssten man sich eigentlich ankommunizieren und sagen: Wow, du bist für mich so interessant, wir sollten abfahren und im nächsten KingMac einen Kaffee trinken. Aber das macht man irgendwie nie.
Statistisch gesehen kommt ohnehin bald ein ähnlich hoher oder gar noch höherer Prozent-Partner vorbei. Da kann ich immer noch anhalten. Umgekehrt ist es freilich manchmal auch ganz gut, dass man so ungern anhält. Wenn man an einem Bekanntem vorbeifährt, aber gerade keine Lust auf Smalltalk hat, kann man immer gut auf Nanny Rose zeigen und sagen: Sorry, die Programmierung fährt mich leider gerade weg. Ein andermal. Hier war früher glaube ich mal Kopfsteinpflaster. Aber auf Smart Streets darf es natürlich keine Hubbel geben. Das haben die User dieses Viertels bei der vierten Volksabstimmung dann auch eingesehen und fahren seither gut damit.
Thank yourself for Choosing our Monopoly.
Hier häufen sich die arbeitslosen Fußgänger. Wie gesagt, weiß ich direkt nicht viel von ihnen. Obwohl die ganze Zeit auf allen Kanälen über sie diskutiert wird, bleibt ihre allgemeine Soziologie doch eher unklar: Neuankömmlinge, Altausgesessene, Verweigerer und Verweigerte, Verfolgte und Verfolger. Manche sollen schon zu Fuß hierhergekommen sein, andere schon seit Generationen hier am Boden kleben. Der größte Hass auf arbeitslose Fußgänger herrscht paradoxerweise unter diesen selbst. Aber auch sehr viele Mittelständler hassen sie - oder besser: sich selbst in ein paar Jahren, hassen ihre Angst vorm eigenen Abstieg. Einige werden darüber zunehmend kirre. Wie man hört, versuchen manche E-Hybridler, sich im Fahren selber einen Plattfuß zuzufügen - ob aus Langeweile, als Ausrede fürs Zuspätkommen oder bloß um zu sehen, ob es überhaupt noch geht. Aber der zentrale Fahrtenschreiber merkt sowas und die Versicherung kennt in solchen Dingen kein Pardon.
Andere Querulanten programmieren beim Fahren immerfort so schnell ihr Ziel um, dass es sich für sie schon fast wieder wie Lenken anfühlt. Doch auch das sieht die Versicherung nicht gern. Ah, das Briefkasten-Denkmal. Die meisten Jüngeren wissen noch, wofür das steht. Beim Telefonzellen-Denkmal auf der anderen Straßenseite eher nicht mehr.
Früher war das Stadtgedränge Ausdruck des kapitalistischen Konkurrenzkampfs. Vorfahrt, Erster - Heute läuft alles vollkommen glatt. Die meisten E-Fahrer wirken abwesend oder spielen zum Zeitvertreib historische Verkehrskampfspiele wie Total Traffic oder Kairo Car Crash. Nur wenige regen sich in ihren selbstbewegten Stahlgehäusen immer noch fortwährend sinnlos auf, treiben damit aber bloß ihre Krankenversicherungsprämie in die Höhe.
Oldtimer nur noch in Bayern
Reale Raser gibt es nicht mehr. Und das ist auch gut so. Obwohl - in Bayern soll es abgezäunte Reservate geben, wo die letzten Adelsabkömmlinge noch Oldtimer zu Klump fahren dürfen. Und im Osten sollen neben den jährlichen Karl-May-Festspielen irgendwo auch Autokrieg‑Festspiele stattfinden. Unversichert und mit echten Toten. Im Gegensatz zum Disney Traffic Park, wo ich immerhin schon mal war. Da wird der historische Verkehr bloß für Touristen nachgestellt. Mit Unfällen zum Langsam-Dran-Vorbeifahren. Nostalgisch, aber auch ziemlich geschmacklos.
Auf Nanny Rose summe ich jetzt ohne größere Anstrengung die Steigung rauf. Trotzdem merke ich gerade hier, wie abgestrampelt ich mich doch im Ganzen fühle. Denn damit der alles ziehende und zugleich doch mehr und mehr von allem abgehängte Mittelstand wider besseres Wissen trotzdem immer weiterstrampelt, muss man ihn zum einen immer strenger reglementieren und kontrollieren und zum anderen immer offener erpressen: Hast du etwa keine Lust mehr, dich hier abzustrampeln? Dein noch sinn- und hoffnungsfreier, optimierter, junger oder gleich schon autonomer Strampelnachfolger steht schon bereit. Manchmal überlege ich sogar, beim nächsten Mal nicht mehr die größtmögliche Koalition zu wählen. Aber wen sonst?
Etwa die Partei der deutschen Anti-Autonomen? Die fordert, dass jedes Fortbewegungs- oder sonstige Gerät für einen durchschnittlich begabten Menschen steuerbar, abschaltbar und reparierbar bleiben müsse? Dass die Stadt für jeden frei begehbar sein müsse, ohne dass die größtmögliche Verwaltung und der größtmögliche Konzern es ohne Anlass registrierten? Dass unvernetzte öffentliche Landkarten oder Zusammenkünfte jenseits der Konzernplattformen möglich werden müssten? Fantastische Visionen. Aber die DAA-ler krebsen um die fünf Prozent.
Wie für die meisten Hominiden ist das Menschsein auch für mich unter den heutigen Bedingungen schon fast zu anstrengend. Und kompliziert. Man muss da schon ein ziemlich großer Fan sein, um sich das anzutun. Während das Nachmensch-Dasein nicht nur sicherer und bequemer wirkt, sondern auch zeitgemäßer.
Ich bin das Obsoleszenzglied in meiner Produktionskette. Mein Zufallsvorsprung, in einem relativ reichen Land geboren zu sein, mit entsprechender Schulausbildung, Muttersprache und so fort schmilzt mit der Geschwindigkeit der allgemeinen Standardisierung und Algorithmisierung zusehends dahin. Ich trete schneller.
Die Mittelständler fühlen sich zunehmend als Tret-Esel der Welt. Da saubere Profite auf dem Globus kaum mehr zu erwirtschaften sind, die Fantasie‑Wirtschaft und -Welt der Helis aber finanziert werden muss und bei den arbeitslosen Fußgängern nichts mehr zu holen ist, muss aus dem Mittelstand das Letzte rausgeholt werden. Per Verängstigung, Erpressung, Gängelung und Kontrolle, Spaltung, Ablenkung und Verblödung. Viele Mittelständler radeln der größtmöglichen Koalition dabei gern auf halbem Weg entgegen. Auch ich fühle mich kurz vor der Abschaffung. Hab' relativ lang durchgehalten, war offenbar recht fit. Oder begabt? Oder nur skrupellos? Das kann man häufig kaum mehr unterscheiden.
Ein durchrationalisierter Albtraum
Die Quantifizierung ist stets der vorvorletzte Schritt vor der Abschaffung: Erst zählbar machen, also alles, was nicht einfach zählbar ist, für irrelevant erklären, beim Radtreten etwa: Mit wem? Wozu? Wohin? Dann das Gezählte optimieren: Rekorde feiern, Minderleister abstrafen und ausscheiden. Und dann das Optimierte, weil eine zugleich entwickelte Maschine es als solches besser kann, als Ganzes abschaffen. Wie lange will, darf, kann ich noch als Mensch in einer zusehends posthumanen Welt herumstrampeln? Auf einem Gefährt, das alles besser kann in ein Büro, das alles besser kann als ich. Mein Bike-Hybrid erreicht den Gipfel und wir sausen ungehindert durch die repräsentative Großbaustelle, die hier jahrzehntelang für Leben sorgte. Zwischendurch war sie zum Weltkulturerbe erklärt worden, für dessen Pflege allerdings auf Dauer kein Etat da war.
Schließlich hat der größtmögliche Konzern sie als Hologramm reanimiert - ein Attraktor für Kulturinteressierte aus aller Welt. Selbst ich entdecke beim Hindurchrollen noch täglich etwas Neues. Auf dem Campus der smarten Universität trollen sich noch ein paar professorale Fußgänger mit auslaufenden Sondergenehmigungen. In ein paar alternativen Vierteln gibt es sogar eine Prä-Autonomen-Quote. Wenn sich dort zwei Leute draußen unterhalten, dürfen sie da stehenbleiben. Es gibt sogar reservierte Parkplätze für anti-autonome Fahrzeuge, was natürlich alles heillos kompliziert macht. In den Flow-Zones - und das sind beim heutigen Transportaufkommen letztlich alle - wäre sowas überhaupt nicht denkbar.
Während der sanften Abfahrt überlege ich, ob und wie ich als menschliches Fanal eventuell doch einen Unfall bauen könnte. Wenn man schon mit nichts mehr je davonkommt, kein heimliches Glück im Regelverstoß oder jenseits eines Algorithmus mehr zu haben ist, dann eben offen: als Amok und Spektakel. In der Mittelschicht sind solche Crash-Versuche fast schon eine Art von Sport. Unterdessen wird das System mit jeder aufgezeigten Sicherheitslücke nur noch sicherer.
Hier, wo früher eine Ampelkreuzung war, hätte ich mich über Jahrzehnte täglich töten können. Stattdessen habe ich meine ganze Kunst und große Energien aufgebracht, es zu verhindern. Inzwischen gibt es hier natürlich keine Ampeln mehr. Das wäre pure Energieverschwendung. Oder reine Kunst. Zum Ende noch die sanfte Überquerung des ehemaligen Bahnhofsvorplatzes. Der jetzt total geregelte Verkehr ist so komplex, dass ich ihn von weißem Rauschen nicht mehr unterscheiden kann. Aber das muss ich auch nicht. Das Leitsystem macht es für mich. Findet die Lücke.
Aber was ist das? Der ganze Platz ist voll mit arbeitslosen Fußgängern. Wo kommen die auf einmal alle her? Was ist los? Etwa ein Fußballspiel? Ein Stadtfest? Ein nachgeholter Karneval? Eine Wahlveranstaltung der größtmöglichen Koalition? Eine Art Flash-Mob? Oder eine Demo? Ich weiß, es gibt jetzt solche Fußgänger-Corking-Aktionen, so wie früher mal von den Radlern. Im Fernsehen habe ich Gruppen 'Massenmenschen zu Menschenmassen' grölen hören. Ein eingängiger, aber auch übler Slogan, finde ich. Aber sind das hier überhaupt die? Oder sind es die 'Arbeitslosen Fußgänger Deutschlands', die auch viel auf der Straße sind? Ich höre aber auch verschiedene fremde Sprachen. Mit diesen arbeitslosen Fußgängern ist jedenfalls nicht zu verhandeln. Es wird behauptet, die Fußgänger würden inzwischen völlig anders denken. Was haben sie vor? Werde ich jetzt ausgeraubt? Aber was will man mir denn rauben? Das Smart-ID-geschützte Bike? Meine Smart-ID-geschützten Gadgets? Werde ich geschlagen oder sonst bedrängt oder gedemütigt? Auch das soll immer wieder vorkommen. Bitte nicht! Aber es sieht nicht danach aus. Zum Glück. Immer mehr verliere ich mich in der Menge. Werde selber Teil davon. Aber was wird aus Nanny Rose? Ich sehe jetzt auch andere sich an ihren Leasing-Fahrzeugen festklammern. Auch eingekeilte Cars, über deren glatte Karosserien die arbeitslosen Fußgänger einfach drübergehen. Darunter offenbar auch manche ehemaligen Insassen. Was wird das hier? Eine archaische Nemesis des menschlichen Gedränges? Ein Verschwinden in der Masse? Ist das der Untergang? Oder ein Neuanfang? Eine Revolution? Ein großes Picknick? Ein Zitat aus irgendeinem Science-Fiction-Buch? Ein aus dem Ruder laufender Radio-Essay? Oder eine Werbeaktion des größtmöglichen Konzerns?
Ich weiß es nicht. Wir wissen nicht, was mit diesem Radfahrer im Meer der arbeitslosen Fußgänger weiter geschah. Doch wenn es eine Hoffnung gab, so wird sie dort gelegen haben.