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Auf dem Sterbebett eines Malergenies

Tintorettos Engel ist ein Roman über den venezianischen Maler Jacopo Tintoretto. Die Autorin führt den Leser in das Künstlerdasein im Venedig des 16. Jahrhunderts und beginnt am Sterbebett Tintorettos.

Von Maike Albath | 07.09.2010
    Melania Mazzucco über Venedig, der Ort an dem ihr Roman Tintorettos Engel spielt:

    "Venedig war eine Art Fort, ein Bollwerk, extrem wohlhabend, die reichste Republik von ganz Europa. Aber im 16. Jahrhundert bekommt die Serenissima immer größere Probleme, ihre Märkte und Schiffsrouten zu erhalten."

    Die Schriftstellerin Melania Mazzucco, gebürtige Römerin, Verfasserin eines dickleibigen Romans über den venezianischen Maler Tintoretto, führt uns durch ihre Wahlheimat. Wir gehen über Brücken an Kanälen entlang bis zu den Fondamenta Nuove und haben das trügerische Gefühl, auf einer Postkarte herumzuspazieren oder auf einem jener unzähligen Gemälde von Canaletto gelandet zu sein. Die Pracht der Stadt war schon im 16. Jahrhundert mehr Schein als Wirklichkeit. Melania Mazzucco:

    "Damals brach der Handel ein, und mit dem Verlust der ausländischen Märkte wurde Venedig zu teuer. Wir können das heute sehr gut nachvollziehen. Wenn man in den alten Dokumenten davon liest, dass die venezianischen Kleider wegen ihrer aufwendigen Fertigung und Raffinesse zu kostspielig waren, klingt das wie eine Beschreibung unserer Lage. Der Markt wurde mit billigen Waren überschwemmt, und die Hersteller waren ruiniert. Die Venezianer hatten das Gefühl, dass ihr großer Reichtum unwiederbringlich verloren sei. Es ging nur noch darum, die Besitztümer zu verteidigen, expandieren konnten sie nicht mehr. Es herrschte also ein großes Unbehagen, eine Vorahnung des Niedergangs, der dann im 17. Jahrhundert tatsächlich geschah."

    Die allmählich heraufziehende Krise bildet das bedrohliche Hintergrundgeräusch von Melania Mazzuccos Roman Tintorettos Engel. Mittlerweile sind wir in Cannaregio angelangt. Ein volkstümlicher Teil der Stadt, wo seit jeher Fischer und Handwerker wohnen. Kleine Jungen spielen Fußball, Großmütter sitzen auf Bänken in der Sonne und bewachen Kinderwagen. Hier liegt die Kirche Madonna dell’Orto. Melania Mazzucco:

    "Ich bin in diese Kirche hinein gegangen, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Mich hat sofort das Licht eines Gemäldes in den Bann geschlagen. Das Wort "Licht" ist wichtig, denn für Tintoretto ist es der Schlüssel zu allem, aber auch für mich. Das Licht schien von dem kleinen Mädchen auszugehen, das die Stufen zu einem Tempel emporsteigt. Dieses Mädchen ist die Jungfrau Maria als Kind. Das wusste ich damals natürlich nicht. Ich habe das Gemälde angeschaut, ohne Näheres über das Motiv zu wissen. Mir fiel dann auf, dass nicht nur Maria auf dem Bild zu sehen ist, sondern viele kleine Mädchen, so als sei es ein Fest, ein Fest von Frauen, bei dem es dem Maler um das weibliche Schicksal zu gehen schien. Und das hat mich unglaublich beschäftigt, denn in der damaligen Zeit tauchten kaum Kinder auf Gemälden auf, außerdem stehen hier Frauen im Zentrum, die Mütter oder Töchter sind. Ich war so fasziniert, dass ich mehr über Tintoretto erfahren wollte. "

    Melania Mazzucco, lebhaft, drahtig, ausgestattet mit einer Unmenge dunkler Locken, die ihr unternehmungslustig zu Berge stehen, ist ein wissbegieriger Mensch. Sie hat eine Vorliebe für historische Stoffe und vertritt einen traditionellen Realismus. Formale Experimente sind ihre Sache nicht; für sie geht es um Geschichten. Viele Winter lang verkroch sie sich in den Archiven und eiskalten Bibliotheken Venedigs, studierte Originaldokumente, forschte nach Auftraggebern, las Briefe und Schilderungen von Zeitgenossen. Mit einem gemächlichen Rhythmus und epischer Gelassenheit entspinnt die Schriftstellerin ihre Version von Tintorettos Schicksal. Ihr gesamtes Personal ist durch Quellen belegt. Sie lässt den Maler selbst erzählen, arbeitet mit zwei Zeitebenen und konstruiert eine Rahmenhandlung, die Tintorettos letzte Lebensphase umfasst und vom 17. Mai 1594 bis zu seinem Todestag am 1. Juni 1594 dauert. Etwas behäbig ergreift der hinfällige, greise Mann das Wort, schildert seine Kindheit in der Färberei des Vaters, berichtet von ersten Versuchen als Maler und nimmt auch auf Alltagsgeschehnisse in der Gegenwart Bezug. Vor allem die Erinnerungen an seine älteste Tochter, die Malerin Marietta, lassen ihm keine Ruhe. Schon auf den ersten Seiten deutet sich an, wie aufgeladen die Beziehung zwischen beiden war. Tintoretto brachte Marietta alles bei, was er über Farben und Formen wusste. Eines Tages hielt er sie auf einem Gemälde fest – jenes, das für Melania Mazzucco zum Auslöser ihrer Arbeit wurde. In kräftigen Farben malt Melania Mazzucco das Leben Tintorettos aus und schiebt die verschiedenen Wirklichkeitsausschnitte wie Kulissen über ihre Roman-Bühne. Die Autorin möchte die Leidenschaft ihres Helden vermitteln, und mitunter ist der Tonfall ihres Protagonisten eine Spur zu pathetisch. Auch die altertümlichen Redewendungen Tintorettos wirken wie ein Firniss, den jemand einem modernen Möbelstück verpasst, um es authentischer erscheinen zu lassen. Dennoch - Mazzucco beherrscht ihr Handwerk, hat ihre Figuren im Griff, setzt Akzente und hält über 540 Seiten die Spannung. Außerdem lernt man viel über Kunstgeschichte. Zu Beginn seiner Karriere galten Tintorettos Bilder nämlich kaum etwas: zu düster, zu unruhig, zu kraftvoll. Melania Mazzucco:

    "Tintoretto hat viele Jahre gebraucht, bis er seinen Stil fand. Sein Leben ist wie eine Parabel auf das Künstlerdasein, das hat mir sofort gefallen. Anfangs war er sehr benachteiligt, Tizian nahm ihn nicht in seine Werkstatt auf, sondern verjagte ihn, zehn Jahre lang musste er unter lauter Handwerkern arbeiten. Dadurch bekam er viel Übung, gewann allerdings kaum an Reputation. Als Tintoretto begann, gab es zweihundert Maler in Venedig, von denen wir heute noch fünf kennen. Was taten all diese Leute? Sie haben Möbel hergestellt, Madonnenbilder gemalt, für arme Bruderschaften gearbeitet, und von diesen bescheideneren Kunstwerken ist nichts erhalten geblieben. Dieser Anonymität zu entkommen, war nicht leicht. Tintoretto hat es geschafft – als Einziger."

    Anfang der 1550er-Jahre war Tintoretto dann plötzlich in aller Munde. Aber er brauchte Platz, um sich auszuprobieren, und den fand er in Madonna dell’Orto. Die Gemeinde konnte ihm zwar kein Geld bezahlen; immerhin kam sie für die teuren Farben und Leinwände auf. Unsere Expertin führt uns nun zum Altar. Rechts und links hängen zwei Gemälde Tintorettos mit imposanten Ausmaßen: Vierzehn Meter sind sie hoch. Lebendige Bildergeschichten. Auf einem ist die Episode des Goldenen Kalbs dargestellt. Während Moses auf dem Berg Sinai mit Gott spricht und die Gesetzestafeln empfängt, huldigt sein Volk dem Goldenen Kalb und sammelt sich feiernd um das Götzenbild. Das Massaker, das bei Moses Rückkehr folgen wird, deutet sich an. Gegenstand des zweiten Gemäldes ist der Tag des Jüngsten Gerichts. Den meisten Raum nehmen die Verdammten ein, Grauen, Elend und Leid breiten sich vor dem Betrachter aus, während Gott nur am obersten Rand des Bildes Platz findet. Keine sehr tröstliche Vision. Melania Mazzucco

    "Tintoretto wollte anders malen. Das betraf drei zentrale Punkte der Malerei. Die Art, wie man eine Geschichte erzählt. Er war ein genialer Erzähler, wusste, was er sagen wollte, tat dies nie auf banale Weise, er wählte häufig einen Blickwinkel, der unsere Art der perspektivischen Gestaltung vorwegnimmt. Außerdem hat er sich ausführlich mit Farben beschäftigt. Er war antinaturalistisch, das gefällt mir sehr. Seine Farben sind fast symbolisch, modern. Der dritte Aspekt ist seine Arbeit mit Licht und Bewegung. Seine Bilder besitzen eine große Dynamik, oft hat man das Gefühl, in einen Strudel zu geraten. Es gibt nichts Statisches, und damit nimmt er die Malerei der kommenden Jahrhunderte vorweg, fast bis zum Futurismus. Dann das Licht, auf allen seinen Gemälden kommen Dunkelheit, Schatten und Nacht vor, nur ganz selten gibt es einen klaren Himmel, und wenn, dann bedeutet es etwas. Auch seine Darstellungen der Dunkelheit und der Umgang mit dem Licht als symbolischem Wert stehen für eine Suche nach Spiritualität."

    Genau das treibt auch die Erzählerin Melania Mazzucco um: Tintorettos Beziehungsnetze, seine aufbrausenden Emotionen und seine Abgründe. Tintorettos Engel ist nicht nur ein Künstlerroman, sondern auch eine Entwicklungsgeschichte und ein italienisches Familiendrama mit allen Finessen. Dass Mazzucco ähnlich wie Tintoretto nicht an pompöser Ausstattung spart, passt zu ihrem saftigen Erzählstil und den dramatischen Verwicklungen. Wer Tintorettos Engel liest, wird Venedig mit anderen Augen erleben.