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Auf den Gipfel der "Jungfrau"

Am 3. August 1811 schrieben die Brüder Hieronymus und Johann Rudolf Meyer mit zwei Gefährten Alpinismusgeschichte. Sie waren die ersten, die die "Jungfrau" in den Berner Alpen bezwangen. Folkert Lenz ist den Spuren der Erstbesteiger über Gletscher und Felsen gefolgt.

Von Folkert Lenz | 31.07.2011
    "Es ist heutzutage wunderbar, mit dieser Bahn hochzukommen auf 3.500 Meter Höhe am Jungfraujoch ..."

    ... denn das spart gleich einmal mehrere Tage Anmarsch. Bis heute gibt es keinen normalen Fußpfad von Lauterbrunnen herauf. Zerrissene Gletscher versperren seit jeher den Weg.
    Endstation Jungfraujoch: Das heißt dünne Luft. Also immer schön langsam gehen, damit dem Flachländer nicht schwindlig wird.

    Ein Tunnel führt aus dem Bahnhof tief im Fels hinaus ins Freie – weg von SB-Restaurant, Observatorium und Aussichtsterrasse. Am Ende: eine schwere Stahltür.

    "Gut! Machen wir auf ... So. Ohohoh, die Sonne scheint noch ein bisschen ... Jetzt sollten wir die Türe wieder zu machen. Jawoll. ... Es gibt ein bisschen Nebel. Aber nach rechts, dort können wir schon den Sporn sehen der Jungfrau. Der unser Ziel ist für morgen."

    Gleißendes Licht, es blendet. Eis knirscht unter den Sohlen. Zwischen den Wolkenfetzen tauchen grau-braune Felsen auf. Dort irgendwo versteckt sich der Jungfrau-Gipfel, sagt Bergführer Adolf Schlunegger und zeigt ins weiße Nichts. Dann schlägt er die verschneite Spur zur Mönchsjochhütte ein.

    Hier waren vor 200 Jahren auch die Gebrüder Meyer unterwegs – als Pioniere allerdings! Hieronymus und Johann Rudolf müssen unerschrockene Kerle gewesen sein. Denn außer ihnen hatte sich noch kein Mensch in den Alpen bis auf diese Höhe getraut. Die beiden Meyers aus dem schweizerischen Aarau hatten noch zwei Gämsenjäger aus dem Lötschental und drei ihrer Dienstboten sowie einen Bauern im Schlepptau. Mehr als vier Tage war die Mini-Expedition an den Schneehängen der Jungfrau unterwegs, bevor sie auf dem Gipfel stand. Dass man sich durchaus fürchtete, lässt Johann Rudolf Meyer in seinem Reisebericht durchblicken.

    "Zwar machten wir sogleich den Gipfel des Jungfraugebirgs zum Ziel unserer Reise. Da wir aber selbst an der Möglichkeit zu zweifeln Ursache hatten, diesen steilen Eisturm in einer noch nie von Sterblichen besuchten Gegend zu ersteigen, ließen wir die mathematischen und physikalischen Werkzeuge zurück, welche man sonst gern zu Beobachtungen auf die Höhen mitzunehmen pflegt. Aus billiger Furcht, uns eben durch diese vielleicht an den äußersten Wagestücken hindern zu lassen.


    Ihr Nachtlager bezogen die Gebrüder Meyer am Gletscherrand. Sie schliefen unter einem schwarzen Leinentuch und ihren ausgefalteten Mänteln. Neben diesem spartanischen Hüttchen ließen sie ein Feuer auflodern.

    Heutzutage kann der Alpinist in der Mönchsjochhütte Schutz suchen. Und muss dabei auf kaltes Bier, warme Daunendecken oder heißen Kaffee vor dem Aufbruch nicht verzichten. Der Start zum Gipfelsturm: früh am nächsten Morgen. Doch ach: von grandioser Aussicht keine Spur! Stattdessen Schneetreiben. Und das im Hochsommer.

    "Es hat etwa 20 Stundenkilometer Wind. Und es sieht garstig aus. Natürlich muss man bei solchem Wetter aufpassen, damit man nicht Erfrierungen kriegt. An der Nase, an den Händen natürlich. Und die Orientierung: Wenn es richtig eingemacht ist, der Nebel reinhängt und der Sturm da ist, dann muss man schon wissen, was man macht."

    Losgehen zum Beispiel. Denn Adolf Schlunegger kennt das Gelände wie seine Westentasche. X Mal war der Bergführer hier schon mit Gästen unterwegs. Also flugs den Sitzgurt angelegt und die Steigeisen unter die Schuhe geschnallt. Dann geht es auf das zugeschneite Eis.

    "Wir begeben uns auf den Gletscher hinaus und natürlich müssen wir am Seil gehen jetzt. Wir sind nur zu zweit. Da muss man speziell aufpassen. Wir werden auch genügend Abstand machen: Zwanzig Meter ..."

    Denn schließlich lauern Gletscherspalten. Doch die sind vorerst unsichtbar im Nebel.

    Das Stapfen fällt schwer: Der Schnee ist tief, die Lunge verlangt nach Sauerstoff. Immer wieder verschwinden die Beine bis zum Knie im kalten Weiß. Nach anderthalb Stunden: ein Steilhang. In seiner Mitte: ein großer Spalt. Ein dünnes Brückchen aus Schnee scheint hinüber zu führen.

    "Hier Warten ... Ich gehe über den Bergschrund. Auf der oberen Seite würde ich das Seil einziehen. Und dann kommst Du. Wir müssen probieren, möglichst uns leicht zu machen. Auf allen Vieren, ja."

    Tief durchatmen, dann schnell weiter zu den rettenden Felsen. Immerhin: Auch den Erstbesteigern der Jungfrau ist hier ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen.

    Denn bis dahin hatte sich höchstens mal ein Gamsjäger auf die wilden Eisströme gewagt.

    "Senkrechte Felswände, schroffe überhängende Eismauern, breite Spalten, furchtbare Abgründe der Gletscher und andere unbesiegbare Hindernisse stellten sich ihnen in den Weg. Ohnehin kann sich in diesen toten Gegenden, wo alles Leben aufhört und keine Spur der Vegetation mehr zu finden ist, kein Gewild aufhalten, welches den Jäger zur Bekämpfung namenloser Mühen und Gefahren lockt."

    Eine zerlegbare Leiter hatten die Meyer-Brüder dabei – genau so wie lange Alpenstöcke mit Widerhaken daran. Hinderliche Werkzeuge aus heutiger Sicht. Behändes Klettern ist mit modernen Steigeisen auch in den Felsen möglich.

    Schnell ist der steinige Aufschwung überwunden. Der Tiefblick wird immer schwindelerregender. Der Respekt vor den Pionieren wächst und wächst!

    "Das waren wirklich Draufgänger, oder? Die kannten nichts. Die gingen einfach hoch. Ich weiß nicht, ob sie das Seil benutzt haben oder nicht. Aber der Kühnste ging vorweg und die anderen hintendrein."

    So überwanden sie wohl auch den schwierigsten Wegabschnitt, den Rottalsattel. Ein kleiner Pass, von einer Gletscherspalte versperrt, die immer wieder Überraschungen bietet, wie Adolf Schlunegger weiß.

    "Dieser Bergschrund, der ändert sich von Jahr zu Jahr. Und ich bin immer wieder erstaunt, wie es zum Teil schwierig ist, diese Randkluft zu überwinden. Und ein Jahr später gibt es einen guten Weg. Wo man hoch wandern kann mit Steigeisen und Pickel."

    Bleibt noch die heikelste Passage: die Querung hinüber zum Gipfelschneefeld. Eine Traverse, die bis in die jüngste Zeit immer wieder Menschenleben kostet. Erst vor vier Jahren stürzten dort gleich sechs Alpin-Rekruten auf einmal in den Tod, als sie von einer Lawine erfasst wurden. Dabei haben die örtlichen Bergführer schon vor vielen Jahren Eisenstangen am Aufstieg montiert. Für den Fall des Falles.

    "Dieses Firnfeld, das geht etwa noch 30 Meter hinunter. Und dann kommt die Felsenklippe mit dem 1000 Meter tiefen Couloir, das wirklich dann hinuntergeht. Wenn man oben steht, sieht es nicht so prekär aus. Aber wenn man dann weiter über die Felsen hochgeht und mal die Nase ein bisschen weiter nach links rausstreckt, dann sieht man schon, wie es ins Rottal hinuntergeht."

    Aller eigener Mut nützt diesmal aber nichts. Zu dicht wird der Nebel, zu tief der Neuschnee, zu gefährlich erscheint dem Bergführer heute der Weiterweg. Der Gipfelsturm: abgebrochen! Bleibt nur zu hören, was die Erstbesteiger von damals erzählen, als sie noch ein ausgesetzter Eiskamm vom höchsten Punkt der Jungfrau trennte.

    "Wir setzten uns reitend auf diesen und glitten vorsichtig – halb sitzend, halb kletternd – aufwärts. Links und rechts unter unseren Sohlen schroffe Eiswände, hinunter bis ins dunkle Tal von Lauterbrunnen. Rechts von Eisgefilden hinter dem Mönch."

    Am 3. August 1811 standen die Gebrüder Meyer mit zwei Gefährten ganz, ganz oben auf der Jungfrau. Es ist zwei Uhr nachmittags, als der kleine Trupp das Panorama genießen kann.

    Zu einer Uhrzeit, in der wir schon wieder in der Zahnradbahn am Jungfraujoch sitzen und gen Tal rumpeln.