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Auf den Spuren des Turms

Uwe Tellkamps Bestseller "Der Turm", der das Leben in den letzten DDR-Jahren schildert, lockt viele Touristen nach Dresden. Der Historiker Albecht Hoch führt die Neugierigen durch die Straßen des Viertels - auf den Spuren des Buches.

Von Mandy Schielke | 15.11.2009
    Touristenbusse schieben sich an diesem Herbstnachmittag auf dem Blauen Wunder, einer aufwendigen Brückenkonstruktion über die Elbe. Auch die Erzählung von Uwe Tellkamps Roman beginnt mit dem Weg über die Brücke. Christian Hoffmann, ein junger Mann, 17 Jahre alt, Hauptfigur und Alter Ego des Romanautors überquert sie an einem Wintertag. Frostscharfer Wind schlägt ihm entgegen. Er kommt aus dem Internat und will nach Hause in den Turm. Der Abiturient ist auf dem Weg zur Standseilbahn, die ihn hinaufbringen soll. Er eilt über den Körnerplatz. Die Geschäfte sind geschlossen.

    Die kleine Buchhandlung, in der Susanne Dagen jetzt den 1000-Seiten-Roman in den Händen hält, gibt es seit 1995. Noch nie, sagt die 37-Jährige, habe sie ein Buch so oft verkauft wie "Der Turm".

    "Die große literarische Qualität liegt meinem Empfinden nach in der Beschreibung der späten Mitte der 80er-Jahre in diesem Buch. Also die Beschreibung von Tristesse, von bleiernem Zustand, ein Rückzug zu finden in diese bürgerliche Lebensform. Das hat mich sehr beeindruckt."

    Albrecht Hoch, der Stadtführer, nickt. Er hat die 80er-Jahre in Dresden als Jugendlicher erlebt, so wie der Romanheld Christian und so wie auch der Autor Uwe Tellkamp selbst.

    Kein frostiger Wind sondern Nieselregen weht Albrecht Hoch jetzt ins Gesicht - schnell über den Körnerplatz, dann hinein in eine kleine Gasse. Dort wartet der Wagen der Standseilbahn.

    Die Sitze sind schmal und mit Kunstleder bezogen. Design aus den 70er-Jahren, nachgebaut in den 90ern. Alles funktioniert heute automatisch, Lichtschranken öffnen die Türen, die dann leise surren. Kein lautes Schnarren, wie es Uwe Tellkamp beschreibt, als Christian Hoffmann sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie lehnen muss, um sie aufzuschieben. Zehn Pfennig kostet ihn die Fahrt damals, vor 25 Jahren. Heute müsste er drei Euro durch die schmale Öffnung unter dem Fenster des Kassenhäuschens schieben.

    Knapp 100 Meter geht es am Hang nach oben. Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt weder müde noch sächselt sie, so wie Christian erlebt. Der Weg ist steil, Felsen und Wald. Das Grün der Blätter verliert seine Kraft.

    Über die Dächer der tiefliegenden Häuser, die zur Grundstraße hin stark abfielen, glitt der Schein des Eismonds, ließ die Firste erglänzen und gab den verschneiten Gärten pudrige Aufhellungen ...

    Auf der rechten Seite sieht der Abiturient auf seinem Weg nach oben eine Siedlung Ostrom; ein unheimliches Funktionärsviertel.

    "Ein Nomenklaturaviertel","

    … erklärt Albrecht Hoch.

    ""Schwer bewacht und verbunden von dieser Hangseite mit einer großen Talbrücke. Dieses Nomenklaturaviertel ist reine Fiktion, wie man überhaupt sagen muss, es ist ein Roman, es ist ein Kunstwerk."

    Und doch lässt sich die Fiktion immer wieder in der Realität finden. Häuser, Straßenverläufe, Personen gar. Albrecht Hoch, der Stadtführer, hat sich genau darauf spezialisiert. Seit einem halben Jahr fährt er nun mehrmals die Woche mit Touristen hinauf in den Turm.

    "Wenn ich das Spektrum der Gäste anschaue. Ich würde sagen, zwei Drittel aus Westdeutschland, einige, die noch nie hier im Osten waren, nie eine Beziehung zur DDR hatten, jetzt das Buch gelesen haben und sich aufmachen, hier den Osten kennenzulernen. Das Buch kann helfen."

    Der Turm ist eine Metapher, erklärt er weiter. Das hübsche Viertel am Elbhang als Ort des Rückzuges, eine Höhe, die manches auch überblicken lässt.

    Nur ein paar Minuten. Albrecht Hoch ist oben angekommen, tritt aus der Bahn, geht durch die Bergstation, einen Backsteinbau. Wie Christian mit seinem Onkel Meno läuft der Stadtführer nun die Sybillenleite alias Bergbahnstraße hinauf, vorbei an großen, verspielten Villen mit Türmchen und Erkern.

    Das Ausflugslokal, das im Buch Sybillenhof heißt, lässt er im Rücken. Zwischen den Häusern kann man hinunter ins Tal blicken, zur Altstadt und den Plattenbausiedlungen der Vorstadt.

    Dann passiert der 40-Jährige Stadtführer einen Flachbau, der in seiner Schlichtheit überhaupt nicht in die Straße zu passen scheint: Im Roman befindet sich hier Arbogasts Reich: das Forschungsinstitut von Baron Ludwig von Arbogast. Und die Wirklichkeit?

    "Manfred von Ardenne hat hier seit Mitte der 50er-Jahre auf dem Weißen Hirsch in mehreren Gebäuden das einzige private Forschungsinstitut im ganzen Ostblock betrieben."

    In den Institutsgebäuden an der Turmstraße brannte noch Licht. Überschirmt von einem Esskastanienbaum, der seine Zweige weit über den Fußweg auslud, stand die kleine Arbogastsche Sternwarte, die schon lange nicht mehr in öffentlichem Gebrauch war, obwohl die davor aufgestellte Tafel "Volksternwarte" versprach.

    "Die Esskastanie ist noch hier. Die Sternwarte ist schön herausgeputzt, der Putz bröckelt nicht mehr. Der Efeu ist auch weg."

    Eine Tafel gibt es, eine Neue. Jetzt steht dort Sternwarte. Das Volk davor samt Fugen-s sind weg. Kaum ein Haus an den Straßen ist in den vergangenen Jahren nicht prächtig saniert worden. In den Vorgärten wächst es üppig und gepflegt: eine Gegend vor dessen Garagen glänzende, große Autos stehen.

    Albrecht Hoch läuft rechts in die Wolfshügelstraße im Roman die Wolfsleite. Er folgt dem Weg, den Christian gemeinsam mit seinem Onkel Meno zu Beginn des Romans geht, weiter. Dabei erzählt er, dass sich mindestens die Hälfte der Bewohner des Viertels seit der Wiedervereinigung ausgetauscht hat.

    "Viele Häuser haben neue Besitzer, Kapitalanleger. Westdeutsche haben hier im Osten investiert - Wissenschaftler, Ärzte, ein gehobenes Publikum, denn die Mieten sind hier vergleichsweise teuer."

    Das gesamte Viertel hat den Krieg fast unbeschadet überstanden, die Häuser nur verfielen nach und nach. Putz und Stuck bröckelten. Die Dächer bekamen Risse. Ein Wannenbad hatten die wenigsten. Zu DDR-Zeiten wurden die Häuser auf dem Weißen Hirsch zum größten Teil von der Stadt verwaltet. Die Mieten waren niedrig, wie der Komfort in den Wohnungen.

    Die Fassade einer Veranda an der Oskar-Pletsch-Straße bekommt einen neuen Anstrich. Der Maler ist nicht zu sehen. Die Musik dringt aus einem mitgenommenen Radio, das auf dem Fensterbrett steht. Ein paar Nummern weiter auf der rechten Seite steht die Gründerzeitvilla, in der Uwe Tellkamps Eltern in den 80er-Jahren eine Wohnung mieteten. Auch im Turm gibt es dieses Haus.

    "Das ist das Haus Karavelle","

    … erklärt Albrecht Hoch.

    Christian Hoffmann, die Hauptfigur, wohnt dort mit seinem Bruder und seinen Eltern. Drei Zirkusreiterinnen, ein Junggeselle, und eine weiter Familie bewohnen das Haus ebenfalls. Auf der anderen Straßenseite identifiziert Albrecht Hoch ein weiteres Wohnhaus aus dem Turm: das Haus Abendstern. Im Roman droht der Wintergarten des Fachwerkhauses einzustürzen. Niklas Tietze und seine Frau, eine Schauspielerin, Onkel und Tante von Christian wohnten dort. Jetzt ist die Fassade tadellos.

    ""Hier an der Seite ist ein Doppelfenster zu sehen, hinter dem Fenster verbirgt sich das für Christian ganz wichtige Musikzimmer. Hier haben die legendären Hausmusikabende stattgefunden, hier hat man die Tannhäuser-Schallplatten-Aufnahmen verglichen."

    Und dann ist Albrecht Hoch an Christians erstem Ziel im Turm angekommen, am Tausendaugenhaus. Dort, wo Christians Onkel Meno wohnt, dort wo sonntags stets ein großes Frühstück im Wintergarten stattfindet, dort wo eines Morgens die Kaminski-Zwillinge auftauchen und ihren Anspruch auf Wohnraum in der Villa anmelden: ein prächtiges Haus direkt am Hang. Der Garten ist das Indiz. Albrecht Hoch zieht das Buch hervor, blättert auf Seite 84.

    "Über Nacht hatte es weitergeschneit, der Garten, der unter dem Fenster jäh abfiel, lag unter einer dicken Weißdecke. Das Gartenhaus, in dem Meno sommers oft schrieb, manchmal auch schlief, sah aus wie mit Zuckerguss bedeckt, die Sandsteinbrüstung links und rechts davon, die den oberen Teil des Gartens vom unteren, wilder belassenen, trennte, ragte nur wenig aus dem Schnee. Auf der Brüstung saß ein steinerner Adler, die Flügel, fein gemeißelt und elegant gebreitet, schienen jetzt je einen Stoß zusammengelegter, weißer Frotteetücher zu tragen."

    Es liegt kein Schnee. Und auf der Brüstung hinter der sich der Blick in Richtung Erzgebirge öffnet, sitzt auch nirgends ein Adler aus Stein. Ansonsten wirkt dieses Haus dieser Garten wie eine perfekt nach gebaute Kulisse. Auch die Rhododendronbüsche und die Blutbuche, die an einer anderen Stelle erwähnt werden, sind an ihrem Platz. Nur sind die Bewohner des Tausendaugenhauses nicht auszumachen, weder am Fenster, noch in den Wintergärten, vor dem Haus oder im Garten.

    Bei einem Stück Eierschecke und einer Tasse Kaffee in der Bäckerei Walther, die sich übrigens auch im Roman wieder finden lässt, erzählt Albrecht Hoch von seinem Urgroßvater. Auch er hat sich am Elbhang einst eine Villa gebaut. Albrecht Hochs Großmutter lebte dort bis Mitte der 70er-Jahre. Dann ging das Wohnhaus samt Grundstück in den Besitz der Stadt über, andere Familien zogen ein. Nie wieder besaß die Frau eine eigene Küche oder ein eigenes Bad. Ein Jahr vor der Wende starb sie. Die Familie hat den Besitz zurückbekommen. Auf der Turm-Tour liegt er nicht. Schließlich spielt er auch im Roman keine Rolle.

    Kontakt Albrecht Hoch:
    hochtouren@web.de
    www.hochtouren-dresden.de