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Auf der Flucht

Viele der Wagen im Zug waren größer als die Straßenbahn. Auf manchen waren Tribünen für die Kinder Jungen in blauen Turnhosen und weißen Unterhemden tanzten im Reigen um die Mädchen. Die Mädchen in ihren roten Turnanzügen schwenkten kleine Fahnen, sie hopsten und sangen:

Katrin Hillgruber | 22.03.2004
    "Heute ist der Erste Mai,
    wir grüßen ihn mit Ringelreihn.
    Juble doch mit uns, Leben,
    sing, daß Freiheit uns gegeben,
    wir wolln ein Liedernetz weben: Mai!"

    Maaai! Maaai! Maaai! rief alles. Ondra klebte mit den Augen an der Scheibe. Der Wagen fuhr ganz nah an der Straßenbahn vorbei. Manche der Mädchen schwenkten die Winkelemente, die anderen wirbelten bunte Bänder herum. Mai! rief der Kleine und lachte.

    Das sozialistische Kinderlied vom ersten Mai singt der 41-jährige Jáchym Topol auch heute noch mit Begeisterung auswendig. Mit Nachtarbeit, seinem dritten Buch, das auf Deutsch vorliegt, verlässt Topol Prag und die Gegenwart, um sich an den ländlichen Ferienort seiner Kindheit zurück zu begeben. Im böhmisch-polnisch-deutschen Dreiländereck findet im August 1968 die finale Abrechnung mit jenem "Jugendtraum von einem Sozialismus ohne Panzer" statt, von dem Heiner Müller einmal sprach. Doch was zeitlich und räumlich so genau festgelegt erscheint, ist in Wahrheit eine überzeitliche Allegorie: düster, grausam und komisch zugleich. Während der erzählten Zeit von nur drei Augusttagen herrscht plötzlich Winter – ein dämonischer Winter, den der fürs Atmosphärische hochbegabte Autor entsprechend gestaltet.

    Und die Luft, die sie schluckten, war so kalt. Sie hüllte die Bäume in den Wäldern ein, erstarrte zu Eis, sie jagte gegen die Felsen, funkelte über dem Wasser, gefror über den Gruben zu Eisschollen, Eisschollen voller Zweige, Steinchen, Sand, die im Strom brachen.

    "Sie", das sind der dreizehnjährige Ondra und sein jüngerer Bruder Kamil, zwei Jungen aus Prag, die von ihrem Vater zur Sicherheit aufs Land geschickt wurden – in das "ungekämmte Dorf" Osikov, wie es so treffend heißt. Denn der Vater ist als Erfinder einer ominösen "Wettermaschine" in der angespannten politischen Lage dem tschechischen Geheimdienst verdächtig. Dieser dehnt seine Ermittlungen jedoch bald auf die Söhne und die Dorfbevölkerung aus, was das Klima unterschwelliger Bedrohung in "Nachtarbeit" noch weiter verstärkt. Davon können auch die Pubertätswirren und Lausbubenstreiche nicht ablenken, die das Buch vordergründig bestimmen. Eva Profousová und Beate Smandek haben die von Topol verwendete Volkssprache des Allgemeintschechischen, das mit dem Prager Dialekt identisch ist, auf adäquate Weise in eine Mischung aus deutscher Umgangssprache und Jugendslang übersetzt. Als Folge der deutschsprachigen Habsburger Monarchie besteht der Unterschied zwischen Hoch- und Umgangssprache heute noch im Tschechischen fort. Indem Topol in seinen Romanen konsequent die anti-literarische Umgangssprache gebraucht, drückt er eine permanente Protesthaltung aus.

    Jáchym ist der Sohn des Dramatikers Josef Topol, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit Berufsverbot belegt wurde. Als Fünfzehnjähriger unterzeichnete Jáchym Topol die Charta 77, bis zur "Samtenen Revolution" 1989 durfte er nicht studieren. So gab er in der damaligen Tschechoslowakei die Zeitschrift "Revolver Revue" heraus, arbeitete als Heizer und in der Psychiatrie und trat mit der populären Rockgruppe "Psí vojáci" (Hundesoldaten) seines Bruders Filip auf. Er galt lange Zeit als maßgeblicher Protagonist des hauptstädtischen Undergrounds. Seine bislang auf Deutsch erschienenen Bücher Engel Exit und Die Schwester spielen in eben diesem Milieu.

    Mit Nachtarbeit verlässt er erstmals den Erzählkosmos Prag und begibt sich aufs Land, in die Natur samt ihrer Mythen und in die traditionsreichen böhmischen Wirtshäuser. Im Gespräch mit seiner Übersetzerin Eva Profousová sieht er sich aber nicht in der entsprechenden literarischen Tradition.

    Ich glaube schon, dass die ruralistische Linie in der tschechischen Literatur sehr stark war, dass ich daraus schöpfen kann. Aber was die tschechische Literatur angeht, die von meinen Altersgenossen geschrieben wird, ist es ein Schritt in eine völlig andere Richtung. Und es ist so, dass mich meine Stellung in der heutigen tschechischen Literatur eigentlich gar nicht interessiert. Für mich war es einfach eine Notwendigkeit, über meine Kindheit zu schreiben.


    In der eigentümlichen Mischung aus Mythos, Bedrohung und Alltag, die den vielstimmigen Roman prägt, scheint immer wieder die Gewalt der mitteleuropäischen Geschichte auf. "Nachtarbeit" handelt von deren Traumata, von der Nachtseite der Geschichte – so dicht und anspielungsreich, dass es oft Mühe bereitet zu folgen. Topol wollte jedoch keinen historischen Roman schreiben, obwohl er sich noch an die Panzer in den Straßen von Prag erinnern kann, die er als Sechsjähriger sah. Es geht ihm eher um eine Implosion der äußeren Umstände, die das Erleben der jugendlichen Helden völlig durcheinanderbringt. Ihre Angst ist irrational, sie nimmt in allegorischen Trugbildern Gestalt an.

    Außerdem kommt da die russische Armee auf Pferden angeritten, das hat es 1968 auch nicht gegeben. Ich glaube, mehr als um das Jahr ´68 geht es um die mitteleuropäische Angst vor den Tataren, vor denen, die aus dem Osten kommen und uns einnehmen wollen. Jetzt fällt mir gerade ein, dass das, was wir Mitteleuropäer vielleicht gemeinsam haben, ist ja diese Angst vor den Barbaren, die uns überfallen kommen.


    "Ein zauberhaftes Land, mein Böhmen, ganz ehrlich", lässt der Autor an einer Stelle die ansonsten abwesende Mutter sagen. Sie nennt dieses Land "die Kombination aus Katholizismus und Kommunismus in der allerdegeneriertesten Form". Jáchym Topol schrieb seinen Roman in weiten Teilen als Stipendiat der Villa Waldberta am Starnberger See. Der Prager fühlt sich von westlichen Lesern oft als Osteuropäer missverstanden. Er beklagt, dass das Bewusstsein vom alten Mitteleuropa zunehmend verschwinde.

    Ich glaube, dass es im Denken von jedem von uns eine feste Vorstellung gibt, dass der Westen etwas Besseres ist und der Osten irgendetwas Ärmeres, Wilderes. Und ich bin eigentlich als ein Mensch aus Prag sehr glücklich, weil Prag für mich die Mitte von Europa ist, die Kreuzung. Ich möchte hinzufügen, dass der Begriff Mitteleuropa sehr schön ist, ich mag ihn sehr gerne, aber die Grenzen sind so ein bisschen wie im Traum gezeichnet oder verwischt, denn da wird sich jeder mit dem anderen darüber streiten, wo sie genau liegen.

    Die Irrfahrt der Brüder Ondra und Kamil endet auf dem Wasser. Im hochwinterlichen August treiben sie auf einem Fluss dahin, der auch der sagenhafte Todesfluss Lethe sein könnte. Die ganze Dorfbevölkerung befindet sich auf der Flucht, alle verdrängten Toten des 20. Jahrhunderts bringt das schlechte Gewissen der Überlebenden wieder ans Tageslicht. So endet die Phantasmagorie "Nachtarbeit" in einem überwältigenden Mahlstrom der Phantasien und Ängste, der auch den Leser so schnell nicht wieder freigibt.

    Jáchym Topol
    Nachtarbeit
    Suhrkamp, 313 S., EUR 22,90