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Auf der Suche nach dem kleinen bisschen Mehr

Silke Scheuermanns Geschichten handeln von Liebe, von Sexualität und der Sehnsucht nach Geborgenheit. Ihre Protagonisten sind meist um die dreißig. Sie leben in Städten und haben sich auf eine für sie mehr oder weniger angenehme Weise in der Gesellschaft eingerichtet. Das einzige, was ihnen fehlt, ist das kleine bisschen mehr, der Kick, das Tüpfelchen auf dem I, das, was jeden einzelnen von ihnen zu etwas Besonderem macht, das kleine Wagnis, ein Abenteuer oder eine skurrile Situation.

Von Cornelia Staudacher | 15.06.2005
    " Die Geschichten sind für mich Geschichten über Obsessionen, und zwar allesamt, in jedem Lebensalter, darum geht es eigentlich, dass man diese fixe Idee hat, es kann Liebe sein, es bietet sich für jemand, der an der Uni arbeitet und zwischen 25 und 30 ist, bietet sich an Liebe als fixe Idee total durchzuziehen auf Teufel komm raus, und alles andere drumherum zu sortieren, oder wenn man das vielleicht schon hinter sich hat, sich mit Kugelblitzen ebenso obsessiv, oder mit was anderem zu beschäftigen, es geht mir eigentlich so um die Psychologie von soner Erstarrung auch in der komplexen Welt, vielleicht diesen Fehler zu machen, auch wenn man weiß, es stimmt was nicht, was ich da gerade tue, und das finde ich aber total zeitlos eigentlich, also es muss nicht nur was mit Liebe zu tun haben. "

    Einer "idée fixe" hängt Franziska nach, Protagonistin und Ich-Erzählerin der ersten Erzählung, "Krieg oder Frieden". Die Anspielung auf Tolstoj ist insofern sinnfällig, als es auch und nicht zuletzt die Parallelisierung mit Natascha und Fürst Andrej ist, die Franziska hilft, sich von ihrer Obsession zu befreien. Denn nichts anderes ist ihre schwärmerische Liebe zu dem älteren, verheirateten und ihr in jeder Weise überlegenen Universitätsprofessor, für den sie nichts weiter ist als eine jener erotischen Abwechslungen, die er sich am Rande der Ehe gönnt. Am Ende der Geschichte löst sich Franziska aus der für sie fatalen Beziehung und kehrt, um einige Erfahrungen reicher, zurück zu Timo, ihrem langjährigen Freund. Wie viele der Figuren in Silke Scheuermanns Erzählungen, ist sie an ihren Erlebnissen, auch den schmerzvollen, gewachsen, erwachsener geworden.

    " Sie weiß eigentlich die ganze Zeit, irgendetwas stimmt nicht, und entwickelt diese Penetranz, indem sie nach der Liebe sucht, und sie denkt dann aber auch, warum eigentlich nicht, und ich finde das eigentlich auch (ne) ganz stark, es heißt dann immer Opfer, aber ich finde gerade das Penetrante, und das warum, er könnte mich doch auch lieben, ich bin jetzt so, warum eigentlich nicht, es gibt andere, aber es gibt auch mich, das finde ich eher so ne starke Sache, also sie alles versucht, und danach kann man dann auch sagen, also ich denk eigentlich gar nicht, dass die unglücklich ist, also sie ist sowieso ein bisschen komisch angelegt, aber eben gerade die unglückliche Liebe kann ja auch sehr komisch sein. Also das ist so eine Sache, die muss man auch im Präsenz erzählen, das läuft ja total mit, ist ein Monolog eigentlich, sie schreibt ja die ganze Zeit, jetzt kommt er mit heim, und er kommt dann mit heim, und es ergeben sich skurrile Situationen, aber am Schluss denke ich auf jeden Fall, dass sie irgendwann, das weiß man auch durch den Schluss, irgendwann wird sie sagen, mein Gott, was habe ich gemacht, und es vielleicht auch ne gute Erinnerung, formt sich dann um, also es ist jedenfalls ein Kapitel ihrer Geschichte dann. "

    Es geht der Autorin also nicht um glückliche oder unglückliche Beziehungen, vielmehr um ein breites Spektrum von beobachteten Einzelerfahrungen, Erfahrungen, die, selbst wenn sie schmerzlich und demütigend sind, zum Leben der einzelnen Protagonisten gehören wie der erste Liebeskummer zum Leben eines jedes Menschen, Erfahrungen, an denen jeder etwas über sich selbst und seine Beziehung zum Leben erfährt. Sei es Lisas Begegnung mit einem Sado-Masochisten, der ihr unerwarteterweise hilft, etwas über ihr Verhältnis zu Männern und zur Liebe schlechthin zu erfahren, in "Lisa und der himmlische Körper", oder die traurige Erfahrung des verlassenen Liebhabers, der, um seine Einsamkeit zu überwinden, Puppenhäuser" baut in "Puppenwelt". Hinter dem Titel "Die Umgebung von Blitzen" verbirgt sich die absonderliche Obsession Carls, eines älteren Mannes, der mit seiner Frau am liebsten bei Gewitter Liebe macht, wegen der besonderen, sexuell stimulierenden Wirkung, die Kugelblitze auf ihn haben.

    Das Interessante ist halt die Suche zu schildern, es gibt diese eine erfüllte Geschichte von Carl und seiner Frau, mir geht es also um den Erlösungsgedanken, der dahinter steckt, ne andere Generation in dieser freien Liebe, in der Wahllosigkeit finde ich aber auch ne Art Erlösung, es hat schon was Transzendentales, was dahinter steckt, oder auch in der Sexualität dieses Aufgehen und den Spiegel in der anderen Figur zu finden, und dass man auch das Opfer der eigenen Wünsche und der eigenen Idee, man sich der opfern muss. Da sind wir auch wieder nah an der Lyrik.

    Der besondere Reiz der Geschichten liegt in der leisen, unaufgeregten, fast unmerklichen Spannung, die im Plot jeder einzelnen Geschichte enthalten ist, und in der Direktheit und Offenheit, mit der Silke Scheuermann den geheimen Wünschen und Obsessionen ihrer Protagonisten auf der Spur ist. Ihre genaue Beobachtungsgabe und ihre Neigung, unsentimental und sachlich zu erzählen, macht jede dieser Geschichten zu einem kleinen, auch stilistisch gelungenen Kabinettstückchen. Wie in ihren Gedichten nimmt sie sich als Autorin auch in den Geschichten eher zurück und bevorzugt die leisen Töne. In der Handlungsführung, in Stimmung und Sprachgestus nähern sich die Geschichten ihren Gedichten an. So wie ihre Gedichte stark handlungsorientiert sind, so zeugen die Geschichten von große Bildkraft. Warum hat sie in diesem Fall die Form der Erzählung gewählt?

    Es war eigentlich kein Wechsel zur Prosa hin; ich hab immer gleichzeitig Lyrik und Prosa geschrieben; es war eher zufällig, dass ich die Prosa hinterher veröffentlicht hab, die Geschichten sind entstanden während der Arbeit an den beiden Gedichtbänden. Dadurch, dass der erste Gedichtband relativ gut lief, drei Auflagen, hatte ich die Möglichkeit, bei Suhrkamp noch einen zweiten zu machen, und das habe ich dann auch genutzt, weil ich dachte, also Erzählungen kann man immer noch eine dazu schreiben. Es war von der Publikation her, ist diese Reihenfolge so entstanden. Und jetzt sagen alle, schreib mal noch Gedichte, mache ich aber, also ich schreib noch Gedichte.

    Die Geschichten changieren zwischen Melancholie und einer nur dezent angedeuteten ironischen Einstellung zum Leben. Statt die Figuren um des höheren Effektes willen an eine herbeizitierte Komik zu verraten, steht sie ihnen nahe und spricht von ihnen wie von guten alten Freunden, die ja auch manchmal ihre Marotten haben.

    Dass manch eine der Metaphern angestrengt wirkt, ist wohl dem Wunsch der Autorin geschuldet, auch in der Prosa nicht ganz auf die lyrisch verdichtete, metaphorische Sprache des Gedichts verzichten zu wollen. Was ihr bis auf einige Ausrutscher auch gelingt. Wenn es allerdings vom Kellner der Tennisbar heißt, seine abstehenden Ohren, "groß und glänzend", trotzten "dem Wind wie die Blätter eines Gummibaums", oder die Brüste von Nette sähen aus wie "Riesenboviste, rund, weiß, speckig vom Schaum, sie glänzten wie RTL-2-Brüste" – dann ist das irgendwie über das Ziel hinaus geschossen.

    Im Großen und Ganzen aber beweist Silke Scheuermann auch in ihrem ersten Prosaband, dass sie über ein feines Sprachsensorium verfügt. Ihre Geschichten sind menschlich, ohne zu menscheln, und bizarr, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es wird auch weiterhin in beiden Genres von ihr zu hören sein.