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Auf der Suche nach dem richtigen Exemplar

Annette Kolbs Roman liegt ihre eigene unglückliche Liebe zu einem englischen Diplomaten zugrunde. Die Protagonistin Mariclée fährt im Sommer 1909 nach London, um nach Jahren ihre große Liebe zu sehen: Einen britischen Diplomaten, den sie nur "das Exemplar" nennt.

Von Matthias Kußmann | 22.03.2012
    Ihr Lebensmotto hieß: "Die Leute ärgern!" Annette Kolb hat oft erzählt, dass sie sich schon als Jugendliche Briefpapier mit diesem Motto wünschte – was sie, die aus gut bürgerlichem Elternhaus stammte, natürlich nicht bekam. Sie wollte die Leute aber nicht aus Frechheit oder Bosheit ärgern, sondern einfach, weil sie ein eigensinniger Mensch war, von ihrer Meinung überzeugt. So wurde sie eine streitbare Autorin in vielerlei Hinsicht. Sie setzte sich in Zeiten der deutsch-französischen Feindschaft vehement für die Freundschaft der beiden Nationen ein – worauf die Nazis sie 1933 ins Exil trieben... Sie war gern in männlicher Gesellschaft, verkehrte mit Staatsmännern und Intellektuellen – und liebte es, den Herren gehörig Bescheid zu sagen. Den Ersten Weltkrieg etwa bezeichnete sie als "Meisterprobe männlicher Stupidität". Dass sich Frauen Männern unterordnen sollten, hat Kolb, die nicht verheiratet war, nie akzeptiert. Auch Mariclée, die Hauptfigur des Romans "Das Exemplar", ist eine starke Frau, mit Geist, Witz, Ironie und Sarkasmus – und steht dennoch ein wenig verloren im Leben. Am Anfang des 1913 erschienenen Buches heißt es:

    Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen; dann falle er wieder zu, und sie mag wieder ihres Weges ziehen. Man nannte sie Mariclée. Niemand wusste, wer sie zuerst so nannte, aber keiner kannte sie anders. Und es war bezeichnend, denn sie hatte etwas Namenloses, Unzuständiges, wie es auch stets ihr Los war, mit gesellschaftlich denkbar verschiedenen Leuten in Kontakt zu kommen und selbst keinem einzigen Kreis anzugehören. Dies führte so weit zurück, als sie sich erinnern konnte, und fügte sich allerorts, als müsste es so sein.

    Sommer 1909. Mariclée fährt nach London, um nach Jahren ihre große Liebe wieder zu sehen: einen englischen Diplomaten, den sie nur "das Exemplar" nennt. Die beiden scheint, obwohl sie sich nur ein paar mal gesehen haben, eine Art Seelenverwandtschaft zu verbinden. Jedenfalls meint das Mariclée, der Mann kommt in der Sache nicht zu Wort ... Durch ein Versehen trifft sie zu spät in London ein, die beiden verpassen sich.

    Jetzt musste sie zehn Tage bleiben, wenn sie ihn erwarten wollte.

    Aus den zehn Tagen werden Wochen, dann Monate. Mariclée gelingt es zwar, das "Exemplar" zu treffen, aber nur kurz. Beim nächsten Mal hat er seine Frau dabei; bei Mariclée sollten alle Alarmglocken läuten, aber sie gibt nicht auf und wird weiter vertröstet. So bleibt ihr genug Zeit für Spaziergänge, Kutsch- und Busfahrten durch London, und besonders: fürs Nachdenken.

    "Das Exemplar" ist vor allem ein psychologischer Roman, in dem Kolb die Gedankenwelt ihrer Heldin darstellt – manche Passagen erinnern gar an den damals neuen "Bewusstseinsstrom", den Arthur Schnitzler in die deutschsprachige Literatur eingeführt hatte. Nur schafft Kolb es leider nicht, diese Gedankenwelt durchweg interessant zu gestalten. Zugegeben, Mariclées kritische Räsonnements über ihre Zeitgenossen und die englische Gesellschaft sind amüsant. Doch ihr dauerndes Schwanken zwischen einem klaren "Ja" oder "Nein" zum Exemplar ermüdet auf Dauer - zumal, wenn es in etwas pathetischem Ton vorgetragen wird. Da hilft auch die karge äußere Handlung zwischen den Gedankenströmen nichts.

    Etwa, wenn Kolb ihre Heldin zu Besuch auf ein englisches Landschloss schickt, in dem es prompt auch spuken soll ... Naja. Am Ende entschwindet das Exemplar samt Frau per Ozeandampfer übers Meer, Mariclée bleibt allein zurück.

    Da zieht er hin!, dachte sie. Und plötzlich presste sich ein Gitter so eng um ihr Herz, dass es sich wie zwischen eisernen Stäben krampfte und brach. So endete ihr Tag. So trennte sie das Meer. ( ... ) Es ist der Abend des 30. September. Die Zeit ist um. Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben, so sagten wir, seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen. Dann mag sie wieder ihres Weges ziehen.

    Damit entschied sich Kolb, ihre Heldin schließlich doch ins überkommene Frauenbild zu pressen – seltsam genug, nachdem sie Mariclée zuvor 200 Seiten lang als durchaus emanzipierte Frau zeigte:

    Sie war ( ... ) sehr früh unfähig geworden, restlos in einem Manne aufzugehen. Auf ihre geistige Welt hatte das Exemplar nicht den leisesten Einfluss. Denn was ihre geistige Position wert war, wusste sie. Sie hatte sich zu führerlos zu ihr durchgerungen und in geistigen Dingen zu bittere Not gelitten.

    Doch nun bleibt Mariclée mit gebrochenem Herzen zurück, während das Exemplar mit einer andren seiner Wege geht ... Traute die Autorin Geist, Witz und Eigenständigkeit doch nicht zu, stärker zu sein als die Gefühle?

    Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, dass dem Roman Kolbs eigene unglückliche Liebe zu einem englischen Diplomaten zugrunde liegt. Er starb nur vier Jahre nach Erscheinen des Romans. Und zwar an einem Hundebiss, wie Kolb später einmal grimmig bemerkte.


    Annette Kolb: "Das Exemplar"
    Roman. Edition fünf im Verlag Silke Weniger, Gräfelfing
    210 Seiten, 18,90 Euro