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Auf der Suche nach der deutschen Identität

Was ist deutsch? Beiträge von Schriftstellern, Künstlern, Philosophen, Architekten, Historikern und Politikern sollen ein Bild von deutscher Identität und ihrer Selbstreflexion ergeben. Einig sind sich die Autoren in einem Punkt: "Was ist deutsch?" ist eine typisch deutsche Frage.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 17.08.2011
    "Nationalgalerie, es war der Ort, die Nationalgalerie hier in Berlin, die museale Institution. Den Untertitel "How German is it?” haben wir einem amerikanischen Schriftsteller entnommen, Walter Abish, dessen Buch mit diesem Titel eine einigermaßen Bekanntheit in Deutschland erreicht hat. Walter Abish erzählt in diesem Buch eine Geschichte eines französischen Schriftstellers, der nach vielen, vielen Jahren wieder in seine süddeutsche Heimat zurückkehrt und jetzt vor diesem veränderten Deutschland steht."

    Welchen Einblick in die jüngere Geschichte Deutschlands vermitteln uns Bilder und Fotografien der Kunst? Und was lernen wir daraus für unser Verständnis von dem, was wir Deutsch nennen? Diese Fragen stellen sich Schriftsteller, Künstler und Philosophen, Architekten, Historiker und Politiker in dem Band Nationalgalerie. "How German is it?”. Herausgeber sind der Künstler Thomas Demand - dessen Arbeiten den Ausgangspunkt der Abhandlungen bilden - und der Direktor der Berliner Nationalgalerie Udo Kittelmann.

    "Die Ausstellung und das jetzt erschienene Buch sind völlig voneinander getrennt zu sehen, denke ich. Die Ausstellung, die damals stattgefunden hat von Thomas Demand, die den sinnfälligen Titel dann auch trug "Nationalgalerie”, vereinte Fotografien von Thomas Demand, die ein deutsches Moment in Bildern versuchte festzuhalten, und die Fotografien von Thomas Demand, der immer vor allen Dingen auch Medienbilder verarbeitet, sie in 1:1-Papiermodellen nachbaut und diese dann fotografiert, sollten der Anlass sein zu Gesprächen über Themen, die sich assoziativ auch aus den Bildern ergaben. Es war nie daran gedacht, Persönlichkeiten, Menschen einzuladen, die das Werk von Thomas Demand interpretieren, was für eine Kunstausstellung, denk ich, ein sehr ungewöhnlicher Zugang war. Ein Anlass, über das Deutsche nachzudenken."

    Die 2009 - im historischen Kontext von 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland und 20 Jahren Mauerfall - veranstaltete Ausstellung wurde begleitet von sechzehn Abenden mit Vorträgen und Gesprächen, die inmitten der Ausstellung stattfanden.

    "Wir haben das damals so formuliert, dass wir über das Land, unser Land sprechen wollten, aber am besten gleich auch mit ihm, sprich: mit den Protagonisten. Die Autoren sind dann eben sogar mehr als nur Kommentatoren, sie sind vor allen Dingen auch Akteure in unseren Augen gewesen des öffentlichen Lebens, die Impulse gesetzt und damit unsere Auffassung von dem mitgeformt haben, was Öffentlichkeit und deren Verbindung zum Historischen als eines gemeinsam Erlebten ist."

    Diese Absicht der Herausgeber hat auch zur Folge, dass sich etwas eigenartig anmutende Konstellationen herausbilden: ein Vorstandsvorsitzender von Springer neben einer ehemaligen Aktivistin der RAF, ein Reporter von "Bild” neben einer Gerichtsreporterin vom "Spiegel” und einer Leistungssportlerin. Vereint im Versuch, ausgehend von jeweils einer Fotografie der Ausstellung, die deutsche Geschichte zeigt, den Spuren eigenen Erlebens, der subjektiven historischen Erinnerung, zu folgen.

    Die Gesamtheit der sehr heterogenen Beiträge soll ein Bild von deutscher Identität und ihrer Selbstreflexion ergeben. Während einige Autoren - wie der Filmemacher Hans Jürgen Syberberg - die Aufforderung zur subjektiven Berichterstattung als ein detailverliebtes persönliches Erzählen verstehen, über das hinaus sie nur begrenzt allgemeinere Aussagen von historischer Bedeutung entwickeln, erkennen andere Autoren - wie auf beispielhafte Weise der erste Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck - gerade im subjektiven Ausgangspunkt die Chance einer sehr lebendigen, persönlich verbürgten Geschichtsschreibung. In dem Bild "Büro” von Thomas Demand erkennt er die Aufforderung zur Erinnerung als eines persönlichen Aktes, der unablösbar Teil eines kollektiven Geschehens ist:

    "Erinnere dich, sagt dieses Bild zu mir, erinnere dich, du hast es nicht erwartet, dass du einmal Herr dieser Stasi-Papiere sein würdest, sondern du hast dich vor denen gefürchtet, die - woher auch immer - eine Fülle von Papieren zusammengestellt haben. In diesen Papieren stehen Pläne, die andere Menschen kaputt machen sollten. Es stehen Ergebnisse von Zersetzungsstrategien, es stehen Lügen darin und intime Wahrheiten... Diese Papiere sind Papiere einer teuflischen Macht.”

    Gegenüber Texten wie diesem von Joachim Gauck oder Herfried Münklers sehr prägnanter Analyse deutscher Klischees und deren künstlerisch aufschlussreicher Behandlung in Demands Bildern bleiben manche Beiträge, wie zum Beispiel der Vortrag eines Chefdesigners von BMW, blass. Dies ist das Risiko einer Anthologie wie dieser, dass die Zusammenstellung der Vorträge und Gespräche in der Ausstellung lebendig und spannend wirkte, sich diese Dynamik aber nur in Teilen in das Buch übertragen lässt.

    "Ich erinnere mich sehr genau an den Beitrag von Astrid Proll, des ehemaligen Mitgliedes der RAF. Es war ein sehr emotional vorgetragener Vortrag, frei gesprochen im Übrigen. Das verliert sich natürlich in diesem Augen-zu-Augen-Kontakt, den man im Publikum dann natürlich erlebt. Und trotzdem denke ich, dass alle Beiträge immer noch - zugegebenermaßen, das geschriebene Wort ist etwas anderes als auch der Prozess, den man als Publikum empfindet, einem Menschen beim Denken zuzuschauen. Es ist etwas anderes. Es war immer auch geplant, und das trifft das Buch, glaube ich, sehr auf den Punkt, es ging darum, keine Beiträge zu arrangieren, die sich in Harmonie miteinander verhalten, sondern wirklich disparat mitunter eben auch zu Dissonanzen führt, auch was die unterschiedliche Rhetorik, den Sprachduktus der verschiedenen Beitragenden jetzt anbelangt."

    Theoretisch brillant der Text des Philosophen Jacques Rancière, der für das Verwischen von Grenzen zwischen Realem und Fiktivem und für die Neuanordnung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten in der Gegenwartskunst und speziell in den Arbeiten von Thomas Demand eine adäquate, an keinem Punkt erstarrte, sondern fluide und darin präzise Sprache findet.

    "Deutsch, das ist ein ganz spezifisches Verhältnis zur Erinnerung ... Und so habe ich mich entschlossen, vom Sehen, Zeigen und Demonstrieren zu sprechen, und zwar aus einem ganz bestimmten Blickwinkel: Wie sehen wir Zeit auf der Oberfläche eines fotografischen Bildes. Wie wird sie uns gezeigt ... Wie lässt sich Zeit aus den Bildern herauslesen ... Es geht um eine kurze Geschichte der Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren .”

    Die Prägnanz der theoretischen Analyse von Rancière findet ein Äquivalent in einem Text des ungarischen Schriftstellers Péter Esterházy, der so ernsthaft und zugleich spielerisch, ja artistisch mit der Frage Was das Deutsche ist umgeht, dass der Text selbst zur Frage wird, die Frage nichts mehr ist, was außerhalb einer sprachlichen Konstruktion und einer Erzählung ist.

    "Eine typisch deutsche Frage, was ist das Deutsche, wie wird Deutschland gesehen. Das verstehen nur die Deutschen ... Der Herrgott hat ein gutes Gehör. Der unbestreitbare Beweis dafür ist Bach. Der Herr hatte Johann Sebastian Bach zu seinem Stellvertreter erschaffen. - Ist das das Deutsche?”

    "Grade wenn man jetzt auch nochmal durch das Buch durchgeht, fällt schon auf, dass fast alle Beiträge weiterhin bestätigen, dass es diese Vorstellung des Deutschen anhand auch von Metaphern weiter gibt. Der Wald spielt komischerweise, überraschenderweise immer noch eine Rolle. Die sogenannten deutschen Tugenden werden immer noch zitiert. Aber was die verschiedenen Beiträge auch sehr entscheidend zum Ausdruck bringen, ist: so kann es - in dieser Ausschließlichkeit - nicht weitergehen. Das Deutsche kann sich nur weiterentwickeln oder wieder bereichern durch die Aufnahme des Fremden. Die beiden, das uns Bekannte und das uns weniger Bekannte. Der Ort des Museums scheint mir für die Zukunft vielleicht einer der geeignetsten Orte überhaupt zu sein, weil er nicht ausgerichtet ist. Er ist nicht das Auditorium für dieses und jenes, sondern es ist der liberalste Ort, den man sich vielleicht überhaupt vorstellen kann."

    Nach der Lektüre des Bandes sind es die persönlichen, von der eigenen Erfahrung geprägten und sich von dieser Ebene aus historisch erweiternden Texte, die in Erinnerung bleiben, vor allem dann, wenn sie mit der literarischen Präzision einer Herta Müller verfasst sind:

    "Schnelle Normalität, damit über die Folgen sozialistischer Diktatur nicht gesprochen werden muß. Ostdeutschland bleibt aber anders, die Spur vierzigjähriger Bevormundung wird nicht weg sein, wenn die letzte Dorfstraße neu asphaltiert ist. Normal werden könnte statt dessen, dass hiesige Deutsche den Hinzugekommenen mit anderem Akzent nicht immerzu sagen: ‘Bei uns in Deutschland’. Es könnte normal werden, dass dieser fremde Akzent beim Aspirinkaufen nicht sagen muss, woher er kommt, dass der Akzent beim Brezelkaufen nicht das gedehnte und geschluckte E üben muß. Wie alle Politiker redet auch Herr Rüttgers außerhalb seines Reims von der Integration der Ausländer. Um seine Absicht zu unterstützen, bin ich versucht, ihm einen Vorschlag zu machen: Ein Integrationsprogramm aus einem einzigen Satz, der lautet: ‘Die Integration des fremden Akzents in die deutsche Brezel’.”

    Thomas Demand und Udo Kittelmann (Hrsg.): "Nationalgalerie. 'How German is it?'” Suhrkamp Verlag, 430 Seiten