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Auf der Suche nach der verborgenen Identität

Javier Tomeo gilt in seiner spanischen Heimat als einer der angesehensten Schriftsteller. In den letzten Jahrzehnten konnte er mehr als vierzig Bücher veröffentlichen. Zumeist Bände mit kurzen Erzählungen, aber auch einige Theaterstücke. Sie erschienen in den wichtigsten Literaturverlagen wie Anagrama, Planeta und Plaza y Janés. In Deutschland sieht die Lage etwas anders aus: Hierzulande hat ausschließlich der Wagenbach-Verlag dafür gesorgt, dass Javier Tomeo eine kleine, aber feine Leserschaft finden konnte.

Von Klaus Englert | 07.11.2007
    Auch der neue Erzählband "Hotel der verlorenen Schritte", eine Zusammenstellung aus den beiden Bänden "Cuentos perversos" und "Los nuevos inquisidores", kam bei Wagenbach heraus.

    Alles in allem gilt Tomeo, der in einem kleinen Nest in der Region Aragón aufwuchs und während des Franco-Regimes in Barcelona Jura und Kriminologie studierte, als ein Autor, der nicht recht einzuordnen ist. Ist es hohe Kunst oder vielleicht doch nur Trivialliteratur? Eines ist sicher, Javier Tomeo scheint sich an diesen Unterscheidungen nicht zu stören.

    Man muss sich schon auf den unverwechselbaren Tonfall Tomeos einlassen, um seine erzählerischen Qualitäten beurteilen zu können. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass er etliche Züge mit zwei weiteren Künstlern aus der aragonesischen Provinz gemeinsam hat: Mit Luis Buñuel, der das Absurde in den kleinen Dingen aufdeckte, und Francisco Lucientes de Goya, der das Abgründige und Groteske in den alltäglichen menschlichen Handlungen demaskierte.

    Tomeo steht in der Tradition dieser beiden großen Vorläufer, und dennoch hat er diesen Eigenschaften einen sehr persönlichen Stil hinzugefügt: Einen beiläufig wirkenden Stil, der stets mit einem gehörigen Schuss Humor gepaart ist. Das wird in der titelgebenden Erzählung "Hotel der verlorenen Schritte" deutlich. Sie spielt irgendwo in einer beliebigen Großstadt, in einem anonymen Hotel mit - wie es heißt - "babylonischen Ausmaßen, die es schweigsamen und einsamen Gästen erlauben, in der Masse der Gäste unterzutauchen und nicht aufzufallen".

    Das Geschehen im Hotel wird vom Ich-Erzähler mit akribischen Zeitangaben in Tagebuchnotizen festgehalten. Die nüchterne, verknappte Sprache und die in Zeitabläufen gegliederte Struktur verfehlen dabei nicht ihre Wirkung: Handelt die Erzählung doch von einem Protagonisten ohne Namen, nur mit molluskenhafter Identität. Von einer Person, die beständig der eigenen körperlichen Hülle entflieht. Javier Tomeo schmuggelt bereits in die ersten Zeilen, die von der Ankunft im Hotel berichten, das Absurde hinein. Welcher Gast - so denkt man beim wiederholten Lesen - kommt für eine einzige Übernachtung mit zwei schweren Koffern? Beim Auspacken der drei mitgeführten Perücken wird langsam klar: Sein Besitzer fühlt sich in seiner eigenen Haut nicht wohl und will bei jeder sich bietenden Gelegenheit in eine andere Rolle schlüpfen. Ohne dabei wirklich zu wissen, was er will. Der Ich-Erzähler beschreibt seine eigene Verkleidungsstrategie:

    An einem einzigen Tag also kann ich ein soeben aus den kälteren Regionen eingetroffener Millionär sein, ein Bauer aus der Steppe, ein gereifter Don Juan, der nichtsdestoweniger den Freuden der Liebe noch nicht entsagt hat, ein alter am Bein verletzter Krieger oder gar irgendein Neureicher, der noch nie etwas davon gehört hat, dass man sich in einem Restaurant gefälligst nicht die Finger abzulutschen hat.

    Schließlich verabschiedet sich der Protagonist vom verwirrten Hotelpersonal in der Verkleidung eines indischen Maharadschas - "noch so etwas, was ich gerne in dieser Welt wäre", kommentiert der Ich-Erzähler. Javier Tomeo lässt offen, was hinter dieser Verhaltensabnormalität steckt: dandyhaftes Überspielen der körperlichen Unzulänglichkeiten, multiple Persönlichkeitsspaltung, postmodernes Rollenspiel à la Cindy Sherman? Oder ist der Protagonist auf der unendlichen Suche nach seiner eigentlichen, aber verborgenen Identität? Sein folgender Monolog scheint das nahe zu legen:

    Nun, ich nehme all diese Mühen auf mich, weil ich davon überzeugt bin, dass die in jeder einzelnen der von mir dargestellten Persönlichkeiten enthaltenen Bruchstücke der Wahrheit miteinander addiert mir eines Tages jene Weisheit bescheren werden, nach der ich schon seit vielen Jahren auf der Suche bin. Es geht mir also nicht darum, die Portiers und das Empfangspersonal zu verblüffen. Meine Ziele sind viel höher gesteckt. Ich beabsichtige, in meiner Person die proportionalen Anteile der Wahrheit miteinander zu vereinen, die jeder meiner Persönlichkeiten entsprechen, aus dem einfachen Grund, weil ich lebe und mich auf diese Weise jener Weisheit nähere, die der Wissenschaft von den ersten und letzten Dingen entspricht.

    Man kann sich Javier Tomeo kaum als einen Romanschriftsteller Proustschen Zuschnitts vorstellen. Die große Form liegt ihm nicht, ebenso wenig die elegante, detailversessene Sprache. Tomeo ist vielmehr der Meister der kleinen wohlproportionierten Erzählung, des äußerst verknappten Satzbaus und hin und wieder eingestreuter, aphoristisch wirkender Kurzdialoge. Die Absurdität lauert in einem Alltag, über den man gar nicht viele Worte zu verlieren braucht. Wie etwa in "Die Wohnung", in der sich ein wiederum namenloser Protagonist an wolkenverhangenen Tagen damit beschäftigt, Schornsteine zu zählen. Wenn ihm das zu langweilig geworden ist, stellt er sich vor, zusammen mit einer Frau die Schornsteine zu zählen, um hernach die Resultate vergleichen zu können. Geschehen dann doch außergewöhnliche Dinge, fällt beispielsweise ein Nachbar aus dem oberen Stockwerk, scheint das den Protagonisten kaum aus der Ruhe zu bringen. Am Ende träumt er davon, irgendwann einmal komme vielleicht der Tag, an dem er dreimal hintereinander ein und dieselbe Anzahl Schornsteine zählt. Natürlich ist das deprimierend, aber Tomeo durchbricht die träge Alltagsmelancholie immer wieder mit seinem höchst lakonischen Humor.

    Es ist ein Humor, der manchmal als surrealistischer Witz erscheint, der wie im Traumbild nicht-kongruente Realitätsebenen miteinander verschränkt. So heißt es in einer - gar nicht so vergnüglichen - Sommeridylle am Strand:

    Ich bin in Gedanken auf dem Grund des Meeres. Es wäre herrlich, wenn wir Menschen Kiemen hätten und mit den Fischen spazieren gehen könnten.

    Javier Tomeos Lieblingsthema ist die in den Alltag einbrechende Absurdität. Eine Absurdität, die zunächst unmerklich daherkommt, schließlich aber deutliche Züge schleichenden Wahns bekommt. So etwa in der meisterlichen Erzählung "Galaktische Verschwörung", die die verregneten Sommertage in irgendeinem spanischen Ferienort schildert. Personal und Feriengäste sind hier jedes Jahr die gleichen, und jeder Tag scheint dem anderen zu ähneln. Doch gerade dieser Gleichklang treibt den Ich-Erzähler langsam in den Wahnsinn. Was hat es mit dem pausenlosen Regen im sonnenverwöhnten Spanien auf sich, was mit der ständig versalzenen Linsensuppe, was mit dem wortkargen Franzosen, dessen kahle Stellen auf dem Haupt anscheinend mörderische Ideen hervorbringen? Am Ende hat sich zwar nichts wirklich ereignet, aber der Protagonist ist fest davon überzeugt, hinter allem stünde eine "eindeutige Verschwörung". Marsmenschen hätten einen geheimen, teuflischen Plan geschmiedet.

    Javier Tomeo ist ein Meister der abgründigen Komik und der kleinen Form. Es ist nur zu bedauern, dass die in "Hotel der verlorenen Schritte" zusammengestellten Erzählungen höchst unterschiedlicher Qualität sind. Aber für fast alle gilt, was Tomeo einmal sagte, als er danach gefragt wurde, wie die Erzählung "Die Heimat der Ameisen" entstanden sei. Einmal, erwiderte Tomeo, habe er in einem Hotelzimmer übernachtet, wo in der Dunkelheit plötzlich Ameisen eingedrungen seien:

    Wohin Sie auch blicken, überall in der Welt gibt es Ungeheuer. In unseren unbewussten Traumbildern verwandeln sich die kleinen Ameisen in furchterregende Gestalten, in ständig wiederkehrende Schattenwesen. Es sind Wesen, für die wir keine vernünftige Erklärung bereit haben.

    Javier Tomeo: Hotel der verlorenen Schritte. Erzählungen, aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007, 96 S., 13,90Euro.