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Auf der Suche nach Halt

Der Traum, die Welt in einer einzigen großen Erzählung in all ihren Facetten fassen und beschreiben zu können, wie es großen Gesellschaftsporträtisten wie Victor Hugo oder Charles Dickens noch vorschwebte, ist schon lange ausgeträumt. Jeannette Winterson erinnert in ihrem neuen, vor Fantasie sprühenden Roman "Der Leuchtturmwärter" immerhin daran, dass das Erzählen von Geschichten nicht allein Erkenntnisgewinn bedeuten kann, sondern in einer mechanistischen, informationsgesättigten Welt überhaupt einen Sinn stiftet. Auf welche Weise hängt dabei natürlich von der Erzählerin ab, und Winterson hat mit ihren ungewöhnlichen und immer gegen die Norm gerichteten Vorschlägen meistens Extremreaktionen bei Publikum und Kritik ausgelöst.

Von Antje Ravic-Strubel | 07.02.2007
    Seit ihren früheren Büchern wie "Das Geschlecht der Kirsche" oder "Auf den Körper geschrieben" ist die britische Autorin für ihre unkonventionelle Erzählweise und ihre überbordende Phantasie ebenso heftig gelobt wie verrissen worden. Leichtfüßig wechselt Winterson zwischen historischen Epochen, spielt zwanglos mit Mythen und Märchen und springt zum Teil unverschämt freizügig mit Figuren der Weltliteratur und literarischen Motiven um. Bei Winterson verlieren sowohl die Mythen und als auch die literarischen Gestalten ihr historisches Gewicht. Sie greift beides auf eine Weise auf, die deutlich macht, wie das traditionelle, sich über Jahrhunderte hinweg in ihnen verfestigte Denken in den Herrschaftsstrukturen der Gegenwart noch immer eine Rolle spielt.

    Auch in ihrem neuen Roman "Der Leuchtturmwärter" dienen die zwei wichtigsten literarischen Anspielungen "Doktor Jekyll und Mister Hyde" und "Tristan und Isolde" nicht unbedingt als brave literarische Vorbilder.

    Im Zentrum des Romans steht das Mädchen Silver. Silver wächst in einem Haus auf, das so schräg in eine Klippe über dem Meer gehauen ist, dass sie einen ebenso schrägen Blick auf die Welt entwickelt. Die Stühle müssen am Boden festgenagelt werden, damit sie nicht ins Meer fallen, die Mutter kocht ausschließlich Gerichte, die am Teller kleben bleiben, und der Hund hat, um sich der Schräglage anzupassen, kürzere Vorder- als Hinterbeine.

    Als die Mutter stirbt, wird die Waise einer grantigen Miss Pinch anvertraut, die direkt aus einem Dickens-Roman entlaufen scheint und das Mädchen so schnell wie möglich weitervermitteln will. Aber nur Pew, der alte blinde Leuchtturmwärter von Cape Wrath, findet sich bereit, sie in seinem dunklen Turm aufzunehmen. Das einzige Licht, das bis zu Silvers Erwachsenwerden hereindringt, stammt aus den Geschichten, die Pew erzählt.

    Jede Geschichte sendet einen Lichtstrahl aus, der aufblitzt wie das Leuchtfeuer im Turm und eine Verbindung zur Welt schafft. In diesem Licht gelingt es leicht, Zeiten zu vermischen und Ereignisse, die sich vor mehr als hundert Jahren zugetragen haben, gegenwärtig zu machen. Besonders Babel Dark, ein Pastor aus dem neunzehnten Jahrhundert, wird für Silver lebendig.

    Der nach dem biblischen Turm benannte Pastor hatte in Pews Leuchtturm seiner großen irdischen Liebe endgültig entsagt. Die Figur des Babel Dark befindet sich genau in dem Spannungsfeld des menschlichen Daseins, das die Zitate, die dem Roman vorangestellt sind, eröffnen: Denk daran, dass du sterben musst. Denk daran, dass du leben musst. Der Ort seines Lebens ist die Geliebte, die er verlässt, weil Liebe nicht ohne Zweifel zu haben ist. Der Ort seines immerwährenden Sterbens ist die Frau, die er schließlich heiratet und mit der er ein hartes, ödes, liebloses Leben als Pastor der kleinen Gemeinde am Cape Wrath führt. Für zwei Monate im Jahr stiehlt er sich allerdings davon, um als Mister Lux mit der Frau zu leben, die er liebt. Mit Babel Dark erfindet Winterson das historische Vorbild zu Robert Louis Stevensons Roman "Dr. Jekyll und Mister Hyde". Stevenson begegnet Babel Dark, als er jene Leuchtturme besucht, die seine Familie einst baute.

    Für das Mädchen Silver wird die Geschichte Babel Darks zum Rahmen, in dem sich ihre eigene Lebensgeschichte abspielen wird. Sie enthält die zentrale Frage, wie man der tödlichen Enge des Normalen, Stabilen und Gesicherten entkommt, ohne in die Gleichgültigkeit abzurutschen, die sich im steten Wandel der Evolution allem Lebenden gegenüber ausdrückt. (Auch Charles Darwin hat einen Auftritt im Buch und muss erkennen, dass eine seiner Thesen falsch war.)

    Die Liebe scheint eine mögliche Antwort zu sein. Solange sie ein fortwährendes Erzählen ist, solange dieses Erzählen nicht aussetzt, erlebt man als Teil aller Geschichten über die Liebe die Liebe.

    Denn Winterson hat mit "Der Leuchtturmwärter" nicht zuletzt einen verführerischen, komischen, herzergreifenden und manchmal furchtlos pathetischen Liebesroman geschrieben. Die Liebe ist das Textgewebe selbst, mit dem über sie gesprochen wird. Dieses Gewebe setzt sich zusammen aus literarischen Rollenvorbildern, sprachlichen Mustern und den Szenen jener klassischen großen Liebesromane, die längst ins kollektive Unbewusste gesickert sind.

    Roland Barthes hat das in seinem berühmten Buch "Fragmente einer Sprache der Liebe" theoretisch ausgeleuchtet, Winterson gehört zu den Autoren, die diese These eigenwillig literarisch reflektieren. Das ist vielleicht ein Grund, warum es in ihren Büchern selten abgeschlossene Geschichten gibt.

    Auch "Der Leuchtturmwärter" besteht aus vielen einzelnen Fragmenten. Szenen werden angerissen, unterbrechen sich gegenseitig, um dann aus einer anderen Perspektive wieder aufgegriffen zu werden. Liebe ist der Ort der Wiederholung und des Fragmentarischen, eine Welt, in der nichts außer den Liebenden und schon gar keine Logik existiert. Nur von außen oder im Nachhinein betrachtet lässt sich Liebe wie eine Geschichte erzählen, mit Anfang und Ende. Nur in den Worten Pews, der von einer Zeit erzählt, die hundertfünfzig Jahre zurück liegt, gerinnt Babel Darks Erleben zum sinnstiftenden Modell für Silver. In dem Moment jedoch, wo der Leuchtturm automatisiert und Pew und damit das Erzählen für unnötig erklärt werden, wird Silver dieses Modells beraubt.

    Auf der Suche nach Halt streift sie durch die Welt. Die Tristan und Isolde-Geschichte, die Silver neu erfindet, um selbst lieben zu können, erweist sich für die Gegenwart allerdings als untauglich. Mit dem Wunsch nach totalem, unveränderlichen Glück steht der Abschnitt von Tristan und Isolde sperrig und wie hinzugefügt im Roman. Er scheint so wenig zum übrigen Text zu passen wie Tristan und Isoldes Liebe in die heutige funktionale Welt.

    Nach einem Nervenzusammenbruch erfährt Silver von einem Psychiater, dass sie den Sinn für die Realität verloren habe. "Seitdem versuche ich herauszufinden, was Realität ist, um dafür einen Sinn zu bekommen", heißt es im Buch.

    Dass Jeannette Winterson die Realität nicht in den Griff bekommt, macht diesen Roman so anregend. Ihr Erzählen vollzieht die ständige Bewegung nach, mit der sich die Realität immer wieder dem engmaschigen Netz an Bedeutungen entzieht, mit dem sie überzogen wird. Und an diesen philosophischen Horizont wirft der Leuchtturm blitzartig sein Licht.