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Auf der Suche nach Herkunft

Die jüngst immer wieder beschriebene Varusschlacht, ist sie wirklich der Beginn des "Deutschseins"? Oder beginnt unser einig Gefühl doch erst Jahrhunderte später? Herfried Münkler spürt uns nach in unserer Suche nach unserer Herkunft - und führt vor Augen, welche Sogwirkung bis heute jahrhundertealte Sagen und Mythen auf uns haben.

Von Angela Gutzeit | 21.05.2009
    Hoch oben im Teutoburger Wald bei Detmold, da steht er, der Gründungsheld der Deutschen: Arminius, der Cheruskerfürst. In der Hand das gewaltige Schwert - in siegesgewisser Pose. Zusammen mit der Kuppel misst das Denkmal 55 Meter. Im Jahre 9 nach Chr. schlug er mit einem Haufen germanischer Soldaten die drei römischen Legionen des Feldherrn Publius Quinctilius Varus vernichtend. Ein unverhoffter Erfolg, durch eine List ermöglicht. Wo vorher nur Schwäche war, triumphierte nun das Überlegenheitsgefühl umso stärker. Die Varusschlacht oder "Schlacht im Teutoburger Wald" - ein idealer Stoff für einen Mythos. Es ist die Erzählung von der Geburt der Deutschen und ihrer Überlegenheit - auch und gerade in scheinbar aussichtsloser Lage. Über viele Jahrhunderte erwies sich diese zum Nationalmythos geronnene Erzählung als wandlungsfähig und brauchbar für Formen überhöhter Selbstinszenierungen, die so zahlreich waren in der schwierigen Geschichte der Deutschen. Unter dem Namen "Hermann" hatte Martin Luther den Cheruskerfürsten mit dem Flügelhelm eingedeutscht, ihm damit zur weiteren Wirksamkeit verholfen, um ihn abermals ins Feld gegen die Römer zu führen - dieses Mal gegen das Papsttum in Rom. Und so taucht er immer wieder auf - ähnlich wie auch der Urkaiser Barbarossa - ein Widergänger, ein Verwandlungskünstler, der sich mit dem Siegfried des Nibelungenliedes zu verbinden wusste wie auch im Reichseiniger Bismarck seine Erfüllung zu finden schien, bis er dann schließlich im blutigen "Barbarossa"-Feldzug Hitlers verendete.

    Wie geht man mit einem solchen Gründungsmythos heute um - 2000 Jahre nach der Varusschlacht? Wie schlägt man den Bogen von den historisch gewordenen Mythen der Deutschen ins nunmehr 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland? Und welche Haltung nimmt man ein gegenüber alten und neuen Mythen nach über sechs Dekaden seit einem verheerenden Weltkrieg und zwei Dekaden nach der Wiedervereinigung der zwei auseinandergerissenen Hälften des Kriegsverlierers Deutschland?

    Der Politologe Herfried Münkler hat nach rund 20 Jahren "Arbeit am Mythos", so könnte man seine Forschungen zu den Großerzählungen der Völker und Nationen nennen, als Ergebnis ein Buch vorgelegt, das sich diesen Fragen stellt. "Die Deutschen und ihre Mythen", so heisst es, und es ist bestimmt von der These, dass Deutschland - was die Verquickung von Mythos und Politik angeht - eine Sonderstellung eingenommen hat im Vergleich beispielsweise zu unseren europäischen Nachbarn oder zu Nordamerika. Um das herauszustellen, betont Münkler erst einmal das durchaus Gemeinsame im mythenpolitischen Arsenal der Nationen.

    "Tendenziell haben ja alle europäischen Nationen und im Prinzip auch die Staatsbildungen in Amerika - vor allen Dingen natürlich in Nordamerika - so etwas wie Gründungserzählungen und Orientierungsmythen. Also, das, was man als den Anfangspunkt der eigenen Geschichte nimmt, das wird in einer bestimmt sinnstiftenden, identitätsstiftenden Weise erzählt, ja, so wie wir damals am Anfang waren, so sollten wir bleiben oder so sollen wir wieder sein. Dem liegt im Prinzip die Vorstellung von der guten Ursprünglichkeit und der Möglichkeit der Rückkehr zu den Anfängen zugrunde, bis hin zu dem Konzept der Reform, der Reformation als Rückkehr zu diesem Anfang. Das haben im Prinzip alle anderen auch. Und gerade in den letzten Monaten haben wir ja beobachten können, wie der Rückgriff des neuen US-Präsidenten Barack Obama auf die Zeit der amerikanischen Gründungen (...) auch so etwas wie eine Neuerfindung gewesen ist der USA, ein Ruck, der durch das Land geht. Und insofern haben das alle. Die Franzosen die Revolution und den Sturm auf die Bastille. Die Polen in ihrer eigentümlichen Weise als Opfermythos - sehr viel stärker noch in der Betonung des Opfercharakters als bei den Deutschen , und so weiter."

    Dann aber stellt Münkler die Sonderstellung der Deutschen heraus und zeigt, wie Mythen, die in Geschichtsschreibungen, in Literatur, in Liedern und Heldensagen schlummerten, plötzlich erwachten und aus einem Gefühl der Schwäche heraus - politisch instrumentalisiert - enorme Kräfte entfalteten.

    "Das Aufkommen dieser vielen Mythen kann ja, was das Deutschland des 19. Jahrhunderts anbetrifft, von einer regelrechten Überflutung durch Mythen sprechen. Das hat etwas damit zu tun, dass es eine historische Verspätung hierzulande gegeben hat. Und das, was bei den Franzosen sozusagen institutionell Gestalt als Staatlichkeit gewonnen hatte, bei uns gleichsam das Versprechen auf die Zukunft oder Erinnerung an die Vergangenheit mythenpolitisch kompensiert werden musste. Und eigentlich war das schon 1870/71 über weite Strecken ausgleichbar, da ja nun Deutschland ein Staat oder ein Reich geworden war. Nur nun wendeten sich diese Mythen, die vorher Krücken waren, gleichsam aggressiv nach außen. Und diese aggressive Wendung nach außen, die hat uns, wenn ich das mal so im Kollektiv-Singular sagen darf, viel gekostet, viel Ärger, Blut und Leid eingehandelt. Und insofern kann man durchaus zufrieden sein, dass eigentlich alle diese Mythen - von den Nibelungen ... bis zu Barbarossa in Form des 'Unternehmens Barbarossa' und schließlich auch dem eigentümlichen Helden Arminius/ Hermann, dass die eigentlich heute verbraucht sind, jedenfalls in dem Sinne verbraucht sind, als dass sie uns nicht mehr politisch motivieren und politisch stabilisieren."

    Anders als zum Beispiel Etienne Francois' und Hagen Schulzes Band "Deutsche Erinnerungsorte", in dem deutsche Mythen, festgemacht an Personen, Orten, Landschaften, Ereignissen in Einzelbeiträgen vorgestellt werden und sich dadurch Querbezüge je nach Lesart eher zufällig ergeben, bietet Münklers Buch die Möglichkeit, Mythen in ihrer Geschichtlichkeit zu betrachten, das heißt nicht nur in ihrem Verlauf, ihrer Wandlungsfähigkeit, ihrer an- und abschwellenden Potenz und ihrem Versiegen - sondern auch in ihrer gegenseitigen Beeinflussung, in ihrer Frontstellung zu anderen Mythen, in ihrer Durchdringung verschiedener Zeiten. Münkler hat dabei sein Buch zum Teil nach Epochen aufgebaut, dann wieder fasst er mythische Knotenpunkte und Großerzählungen zusammen: Der Rhein, Burgen - wie die Wartburg, Städte - wie Dresden und Nürnberg. Ein Mythengewebe, so zeigt Münkler, das sich immer wieder verdichtet entlang der Bruchlinien deutscher Geschichte, wo sie nicht selten eine fatale Wirksamkeit entfalteten.

    Der Mythenwahn hatte unter deutschen Geistesgrößen und Dichtern im 19. Jahrhundert wenig Gegner, dagegen viele, die an seinen einzelnen Erzählungen im Sinne deutscher Größe, Opferbereitschaft und Kriegsbegeisterung mitstrickten. Das Nibelungenlied mit seinem Helden Siegfried und der Rezeption unter anderem bei August Wilhelm Schlegel oder bei Richard Wagner sind für Münkler Beispiele für die - Zitat - "heißen Abschnitte der Arbeit am Mythos", der sich dann allerdings der Ästhetik entzog und durch die politische Nutzung verselbstständigte. Auch wenn man in dem einen wie dem anderen Fall differenzieren muss, so hat wohl doch nur einer stets den Kopf über die durch das 19. Jahrhundert wabernden Mythennebel gehalten: Heinrich Heine. Ihn hat sich Münkler bei seinem Gang durch die deutsche Mythenwelt als unauffälligen, aber immer mal wieder präsenten Begleiter erwählt. Ein mythen- und ideologiekritischer Geist von Weltrang, "ein genialer Fortspinner und Umdeuter mythischer Erzählungen", so Herfried Münkler, und so flechtet er mit Heines Hilfe immer mal wieder die Ironie ins Gewebe. Statt Erbauung am Männlichen und Kriegerischen, hier zum Beispiel der Versuch der Demontage von Barbarossa, der höhlenschlafenden Erlösergestalt, die - so dieser eigenartige Mythos - der Stunde ihres Aufbruchs entgegen dämmert, um Deutschlands Bedeutungslosigkeit zu rächen. In Heines "Deutschland, ein Wintermärchen" heisst es:

    "Herr Rotbart - rief ich laut - du bist
    Ein altes Fabelwesen,
    Geh, leg dich schlafen, wir werden uns
    Auch ohne dich erlösen"

    (...)
    Das beste wäre, du bliebest zu Haus,
    Hier in dem alten Kyffhäuser -
    Bedenk ich die Sache ganz genau,
    So brauchen wir gar keinen Kaiser."


    Auch das ist ein Bestandteil der Mythenerzählung, macht Münkler deutlich, dass sie ironisch umerzählt oder durch Kritik ihr Kern sichtbar wird. Setzt sich diese Kritik durch, verliert der Mythos an Wirksamkeit. Mythen werden also von Kämpfen um ihre Deutungshoheit begleitet, wobei im günstigsten Fall der Mythos immer wieder auch vom Logos eingehegt wird. Dazu aber war das Bürgertum in Deutschland, als die intellektuelle Trägerschicht von mythischen Narrationen, viel zu schwach. Es vermochte nicht gegen das typisch deutsche Streben ins "Luftrevier", wie Heine sich ausdrückte, einen geerdeten emanzipatorischen Gegenpol zu bilden. Und so schaufelte diese Schicht sich schließlich ihr eigenes Grab in ihrer Verblendung auf der Suche nach einer Erlösergestalt - jenseits der ersten demokratisch legitimierten Republik auf deutschem Boden.

    Nach den mythenversessenen Nationalsozialisten, dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches, nach schätzungsweise 50 Millionen Weltkriegstoten, nach sechs Millionen ermordeter Juden, nach der Teilung Deutschlands, waren die Mythen von Arminius, Siegfried, Barbarossa und Co. am Ende, ausgebrannt und bis zur Lächerlichkeit entwertet.

    Während die DDR nach neuen mythenpolitischen Anknüpfungspunkten suchte und sie in Thomas Müntzer, den Bauernkriegen und nach einigen Verrenkungen auch in Martin Luther fand, um eine Art Sieger-Tradition jenseits der nationalsozialistischen Verbrechen und in Abgrenzung zur Bundesrepublik zu stiften, hielt der Westen sich auf Distanz zum historischen Mythenpotenzial. Aber wenn man so will, bastelte die junge Bundesrepublik sich mit der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft im Bündnis mit der Siegermacht USA eine neue Gründungserzählung - was ja ebenfalls für Entlastung sorgen sollte von der dunklen Vergangenheit. Aber als Mythos lässt sich das kaum fassen.

    Bleibt also die Frage, nachdem die DDR mit ihren sozialistischen Anschlussmythen untergegangen ist, was wir rückblickend auf die alte Bundesrepublik als identitätstiftende Narrationen akzeptieren wollen und ob wir ihrer überhaupt bedürfen. Vielleicht leben wir ja auch ganz prima ohne Mythen. Diese Ansicht teilt Münkler allerdings überhaupt nicht.

    "So könnte man das sehen. Aber eigentlich muss man ja doch konstatieren, dass die beiden Deutschlands und das Vereinigte auch in hohem Maße an einem Defizit an Selbstbewusstsein gelitten haben. Das war nach den Hypertrophien ja auch ganz okay, dass man sich gewissermaßen in diesem Defizit eingehaust hat, ein bisschen bescheiden gewesen ist. Aber - es kommt darin ja dann doch ein Vakuum, ein Mangel zum Ausdruck, und dieser Mangel ist auf Dauer ein Problem. Also, wenn man bei jeder Gelegenheit angesprochen, wer man sei, gegenüber anderen Europäern sagt, man sei wesentlich ein Europäer - oder gefragt, was die speziell deutschen Interessen sein, sagt, es wären im Wesentlichen die europäischen Interessen, dann denken wir vielleicht, das sei besonders sympathisch ankommend bei den anderen, aber die misstrauen dem eher... Also, ich denke, dass eigentlich innerhalb des europäischen Verbandes der Rückbezug auf eine Gründungserzählung - sagen wir mal im weiteren Sinne die Gründungserzählung der alten BRD von Währungsreform und Wirtschaftswunder, also eine Erzählung vom Fleiß der eigenen Bevölkerung und ihrem Anpacken, dadurch aus einer Trümmerlandschaft wieder ein blühende Land geworden ist, dass (das) keine schlechte Erzählung ist, die auch ganz gut zur Identität des notorischen Exportweltmeisters passt. Ich sage das jetzt natürlich nicht ohne ironische Distanz, weil - guter Gott! -, da liegt ja auch so viel unappetitliche Selbstfeier drin, aber es ist allemal besser den Mercedes-Stern als das Eiserne Kreuz als Bezugspunkt zu haben."

    "Besser Mercedes-Stern als das Eiserne Kreuz" - so meint Herfried Münkler. Aber das ist ein Minimalkonsens, über dessen Gewichtung und Fokussierung auf die Wohlstandsinsignien der Sozialen Marktwirtschaft man sich allerdings streiten kann.

    Aber bevor man das tut, sollte man doch festhalten, dass Münkler mit seinem Plädoyer für Mythen nicht Irrationalismen Raum geben will, dem Eskapismus das Wort redet oder Rückbesinnungen auf Erfolgsgeschichten gegen notwendige Gegenwartskritik ausspielt. Herfried Münkler argumentiert im Sinne von Hans Blumenberg und seinem 1979 erschienenen Hauptwerk "Arbeit am Mythos" . Blumenberg schreibt in diesem Werk, der Mensch sei ein Mängelwesen, der zur Wirklichkeitsbewältigung des Mythos bedürfe. Und dann der entscheidende Gedanke: Bei der Bewältigung der dem Menschen Angst einflößenden Wirklichkeit trage der Mythos - wie aber genauso die wissenschaftliche Durchdringung der Welt - dazu bei, Daseinssicherheit und Vertrauen zu schaffen. Und Kurt Hübner, auch Philosoph, argumentiert in seinem Alterswerk "Glaube und Denken" im ganz ähnlichen Sinne, wenn er schreibt, Logos und Mythos seien gleichberechtigte, alternierende Formen der Wirklichkeitsbewältigung, dabei jeweils ohne absoluten Wahrheitsanspruch.

    So und nicht anders sind Münklers Sätze von der Notwendigkeit sinn- und orientierungsstiftender Erzählungen zu verstehen. Da dem Mythos immer der Rückgriff in die Vergangenheit eigen ist, um in der Gegenwart Kräfte für die Zukunft zu mobilisieren, stellt sich allerdings die Frage, ob dieser von ihm vorgenommene Rückgriff auf das Mythenarsenal der alten Bundesrepublik noch und überhaupt für die Mehrheit der Bevölkerung und die verschiedenen Generationen tauglich ist. Der pausbäckige Ludwig Erhardt mit der Zigarre als Wirtschaftswunder-Onkel, der mittlerweile als Oldtimer herumkurvende VW, die historisch gewordene D-Mark als Währung, die Wohlstand und Wachstum, das Eigenheim und den Urlaub garantierte - das alles, was Münkler zugunsten der alten Bundesrepublik anführt - sind für jüngere Bewohner dieses Landes "olle Kamellen" und für alle ehemaligen DDR-Bürger eine Erfahrung, die sie nicht selbst gemacht haben - lediglich als Zuschauer auf den Kanälen des Westfernsehens. Also ist die Anschlussfähigkeit an diese Mythen äußerst fraglich. Außerdem gibt es auch noch andere Erzählungen, wie die von 1968 und dem Aufbegehren gegen Geschichtslügen, Nazi-Verdrängung und Vietnamkrieg. Auch wenn sich diese Generation ins bundesdeutsche Wohlstandsleben nach und nach einreihte, so ist es zumindest schade, dass Münkler diese bedeutende bundesrepublikanische Erzählung, die bis heute Wirkung zeigt, nur streift.

    Also - was taugt heute noch für eine mythenpolitische Großerzählung, die möglichst viele eint, in Krisenzeiten positiv stimuliert und weder peinlich noch abgedroschen ist? Rückgriffe in die Geschichte vor der Nazizeit sind schwierig, wie es zum Beispiel mit einer gewissen Rehabilitierung Preußens in den letzten Jahren versucht worden ist, aber letztlich keine Trägerschaft mehr findet.

    In Kenntnis dieses Mankos , aber auch in der Absicht, vermintes Gelände zu vermeiden, gab es ja schon einmal vor drei Jahrzehnten den Versuch, das Grundgesetz unseres Landes für mythentauglich zu erklären. Der 30. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes stand bevor und da schlug der Publizist und Politikwissenschaftler Dolf Sternberger vor, die lebendig gelebte Verfassung als eine Art Vaterland, als Mythenersatz, zu begreifen. Wobei Jürgen Habermas konterte, dass jegliche Art von Mythos Ballast sein - wobei er allerdings der positiven Orientierung auf die Verfassung zustimmte.
    Wie stellt sich aus heutiger Sicht, kurz vor den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Verfassung und damit der Gründung der Bundesrepublik diese Debatte für den Politologen und "Mythenforscher" Herfried Münkler dar?

    "Also, zunächst einmal, völlig richtig, das ist das Problem des Grundgesetzes, das da viele Väter und ich glaube, vier Mütter, sich in Bayern zurückgezogen haben und haben also einen Text ausgefeilt, der nicht mal das deutsche Volk angenommen hat als deutsches Volk, sondern der über die Länder in Kraft gesetzt worden ist. das man also sagen muss, das ist ein fast technischer Vorgang ohne Höhepunkt. Und wenn sie die Leute fragen in ihrer individuellen Erinnerung "Was war denn damals? Dass Grundgesetz in Kraft getreten ist, am 23. Mai, nicht?" Dann werden Sie vermutlich wenig finden. Während wenn Sie Ältere fragen nach der Währungsreform, dann werden sie Ihnen schon sagen: "Ja, das war vor der Währung und das war nach der Währung", weil die Währungsreform einen Einschnitt in ihrem Leben dargestellt hat und sie von daher die Mehrung ihres Wohlstands, das wieder in den Blick kommen von Amerika, die größer werdenden Autos, die Kühlschränke und dererlei mehr auf ein Ereignis rückbeziehen konnten. - Sagen wir: Das ist die politische Schwäche der Bundesrepublik und auch des vereinigten Deutschland, weil der Beitritt der neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes ja auch in dem Sinne kein großes Ereignis war, und wir werden das ja auch in diesem Jahr wieder sehen, der 3. Oktober ist eigentümlich blass neben dem 9. November.
    Und das hat ein so sensibler Mann wie Sternberger natürlich gespürt und hat versucht, gleichsam durch die Zusammenfügung von Patriotismus und Verfassung so etwas wie eine kompensatorische Idee in den Raum zu stellen. Nur, dass der Begriff des Verfassungspatriotismus einer ist, den man halt sagt, aber es fällt einem dazu nicht viel ein, zeigt die Schwierigkeit. Und Habermas' Idee, das sozusagen dies permanent durch den reflexiven Fleischwolf zu drehen, die hat dem Ganzen auch nicht mehr Kraft und Dynamik gegeben. Dass Habermas mit so etwas wie Mythen und ihrer ikonischen Verdichtung nicht soviel anzufangen weiß, das ist mir soweit klar. Ich glaube aber, da hat der Philosoph zu wenig begriffen, wie politische Ordnungen funktionieren."

    Auch die Verfassung ist also keine mythentaugliche Herkunftserzählung geworden.
    Was die Stimulanzien für die Gegenwart angeht, kann man da schon etwas ratlos werden, zumal Münkler im Zuge des "iconic turn" - also des Wandels vom Narrativen zum Ikonografischen, von der Schrift zum Bild, von der Erzählung zur Schlagzeile - selbst an einem Fortleben des Mythischen zweifelt, wenn er auf die Frage, wer eigentlich unter diesen veränderten kommunikativen Bedingungen noch Mythen erfinden, fortspinnen oder kreativ beleben sollte, etwas lapidar antwortet.

    "Dann übernehmen 'Bild'-Zeitungsredakteure und Werbekampagnen-Macher diese Funktion, die gewissermaßen dann Unterschriften, griffige Formeln zu den eindrucksvollen Bildern liefern. Das ist möglicherweise ein sehr hell aufloderndes Mythenfeuer, wie etwa 'Wir sind Papst', 'Du bist Deutschland', aber darin lässt sich weder viel umerzählen, noch viel nacherzählen, noch viel gegenerzählen. Das heißt dass das, was einen politischen Mythos auch ausmacht, nämlich der Sammler von konträren Ideen zu sein, das fällt hier weg. Und insofern ist es der helle Schein eines Augenblicks, an dem sich einige erfreuen und andere sich geblendet abwenden und Dritte reiben und dann ist es auch wieder vorbei. Das heißt, es fehlt Nachhaltigkeit."

    "Die Mythen der Deutschen" ist ein hervorragendes Buch über die Wirkungsweise von Mythen in der deutschen Geschichte. Dass Herfried Münklers Ausführungen in ihrer Überzeugungs- und Argumentationskraft eher blasser werden, je mehr sie sich unserer Gegenwart nähern, hat natürlich auch etwas mit der Offenheit und Unvorhersehbarkeit seines Gegenstandes selbst, dem Mythos, zu tun, aber auch mit unserer doch mittlerweile sehr verschiedenen Sicht auf das, was wir deutsche Mythen nennen und als was wir sie gelten lassen wollen.

    Derweil bietet sich die Gelegenheit, noch einmal ganz weit zurückzuschauen, zum vermeintlichen Anfang der Deutschen. Eine Gemeinschaftsausstellung in Kalkriese, Detmold und Haltern nimmt Stellung zu "2000 Jahre Varusschlacht - Imperium - Konflikt - Mythos", so heißt sie, und liefert dazu einen 1300 Seiten umfassenden Katalog. Die letzte, zugegeben nicht ganz ernst gemeinte Frage an Herfried Münkler: Wird unser mythenarmes Volk dort bei Arminius, bei den Ursprüngen, vielleicht doch noch einmal - und dieses Mal im positiven Sinne - fündig werden?

    "Ja, der Zirkus, der in diesem Jahr um den alten Arminius gemacht wird, das ist sicherlich keine Erzählung im Sinne der politischen Anschlussfähigkeit, aber das ist doch eine ganz erstaunliche Erzählung über die Frage, wann deutsche Geschichte begonnen haben soll. Das ist ein Mythos, nicht? Deutsche Geschichte beginnt eben tatsächlich nicht 9 n. Chr. im Teutoburger Wald oder bei Kalkriese oder weiß der Teufel wo! Sondern zunächst einmal erleidet das römische Imperium eine ziemlich bittere Niederlage. Deutsche Geschichte beginnt zu einem späteren Zeitpunkt. Aber dass wir glauben, vom Fernsehen bis zum "Spiegel", dass in dieser Weise erzählen zu können, erzählen zu müssen ... , das zeigt dieses Bedürfnis an, uns zu vergewissern: 'Wann ging das denn eigentlich los mit uns, nicht?' Also, sozusagen ein fast verzweifeltes Stochern im tiefen Nebel der Geschichte auf der Suche nach Herkunft."