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Auf der Suche nach sich selbst

Wer glaubt, über Vivaldi sei schon alles gesagt und geschrieben worden, der irrt. Das beweist Tiziano Scarpas aktueller Roman "Stabat Mater".

Von Michael Schmitt | 16.03.2010
    Es gilt heutzutage nicht als Nachweis für erlesenen Geschmack, die Musik von Antonio Vivaldi zu feiern. Die "Vier Jahreszeiten" klingen in den meisten Ohren reichlich abgenutzt, heruntergekommen zum Soundtrack für alles und jedes. Vivaldi gilt oft nur mehr als Kunsthandwerker -- und war ungeachtet seiner Virtuosität auch schon zur Zeit seines Todes, 1741 in Wien, halbvergessen. In den Jahrzehnten zuvor aber hatte er Triumphe gefeiert, vor allem in Venedig, und seine Violin- oder Oboenkonzerte hatten die Hörer durch neue musikalische Ausdrucksweisen betört.

    In gewisser Weise ist "Stabat Mater", der Briefroman, der dem Italiener Tiziano Scarpa 2009 den "Premio Strega" als höchsten italienischen Literaturpreis eingetragen hat, also eine Ehrenrettung des Komponisten, denn Vivaldi nimmt darin als Neuerer eine zentrale Rolle ein. Dass das Buch dabei dann jedoch nicht stehen bleibt, sondern auch wieder über Vivaldi hinwegschreitet, verdankt sich der speziellen Perspektive, die Tiziano Scarpa gewählt hat.

    "Stabat Mater" ist der Klagegesang eines 16-jährigen jungen Mädchens, das in jenem venezianischen Waisenhaus aufwächst, in dem Antonio Vivaldi in jungen Jahren als Violinlehrer gearbeitet hat. Wo er Konzerte arrangiert hat, deren Aufführung zum Ruhm des Mädchen-Orchesters dieses Waisenhauses genauso viel beigetragen haben wie zu seinem eigenen.

    Dahinter stehen historische Tatsachen, mit denen Tiziano Scarpa eingestandenermaßen ein recht freies Spiel betreibt. Das Waisenhaus Ospedale della Pietà verfügte tatsächlich über ein solches Orchester, und die Konzerte lockten sogar gekrönte Häupter nach Venedig. Und in diesem Orchester spielte ab 1703 auch die junge Anna da Violin, für die Vivaldi zahlreiche Konzerte schrieb und die darüber zur ersten gefeierten Violinistin der Musikgeschichte heranwuchs.
    All das klingt in den Briefen an, die die 16-jährige Cecili Nacht für Nacht an ihre unbekannte Mutter richtet. Briefe, in denen sie um ihre Identität ringt, die Mutter anklagt, mit ihrem eigenen Leben hadert – und im Verlauf immer mehr darüber erzählt, wie ihr die Musik hilft und zu einer Art von Erweckung dient.

    Frau Mutter, ich schreibe Euch im Dunkeln, ohne Kerze, ohne Licht. Meine Finger eilen über das Papier auf meinen Knien. Ich tauche die Feder in die Tinte, tunke sie ins Herz der Nacht. (...) In diesen Worten statte ich Euch jede Nacht einen Besuch ab. Ihr könnt mich nicht sehen, aber meine aufgerissenen Augen beobachten Euch.

    Das ist die Ausgangssituation – ein endloser Schrecken. Immer wieder zieht sich die Schreiberin in eine dunkle Nische im Treppenhaus oder in die Kapelle zurück, schreibt auf altes Papier oder gebrauchte Notenblätter, fleht, bittet und schimpft, dreht sich im Kreis, wenn sie nach der Mutter ruft, über die nie etwas genaues erfahren wird. Sie fingiert Dialoge mit dem eigenen Tod, den sie sich als Gesprächspartnerin mit einem schlangenumkränzten Medusen-Haupt vorstellt. Und manchmal weiß man nicht, ob sie das hinschreibt oder ob sie die Briefe nur fantasiert.

    Aber sie will leben. Sie wendet sich an die Muttergottes, die vielleicht die Lücke füllen könnte, die ihre leibliche Mutter hinterlassen hat. Und sie überlässt sich surrealen Träumen, die sich meist als verkappte sexuelle Ängste erweisen – in einem frommen Umfeld, das den Körper prinzipiell nicht kennen will und die Mädchen während der Konzerte durch Masken vor den Blicken der euphorisierten Zuhörer verbirgt.

    "Stabat Mater" changiert so zwischen der kollektiven Enge einer strengen kirchlichen Institution und der biographischen Katastrophe einer Einzelnen. Denn Cecilia ist durch ihr musikalisches Talent und durch ihre Intelligenz etwas Besonderes; sie weiß das auch, und ihr Problem besteht natürlich darin, dass sie, gedemütigt durch ihr Waisenhausdasein, damit nicht besonders gut umgehen kann. Und wie auch – hat man ihr doch anfangs kaum mehr Ausdrucksmöglichkeit mitgegeben als die Gewissheiten der Heilslehre .

    Der Weg, den der Roman mit seiner Heldin geht, ist daher vor allem ein dorniger Weg der Befreiung des Geistes, am Ende auch des Körpers – in immer neuen Anläufen, über viele Stationen. Cecilia nimmt die Religion und den Trost, den sie bietet, durchaus ernst. Sie nimmt auch die Musik ernst, schließlich sogar ernster als der Violinlehrer und musikalische Star Antonio Vivaldi, der sie fördern, aber auch ausbeuten will. Cecilia wird beispielsweise nicht müde, von einer "reinen Musik" zu schreiben, die sie vor allem als einen inneren Klang imaginiert – Musik-Machen für Geld, Musik als eine Art von Trickspielerei, die fremden Menschen vorgaukelt, ihre Seelen zu verstehen, das allein ist ihr nie genug.

    Aber die reine Musik reicht ihr schließlich auch nicht, denn erst haben die Töne etwas in ihr wachgerufen, was die Muttergottes und der Gedanke an den Tod nicht wecken konnten; dann aber stößt sie an die Grenzen der schönen oder dissonanten Klänge, die wiederum etwas in ihr in Bewegung bringen, das sie mit den Worten, die ihr zur Verfügung stehen, nicht benennen kann – um zu verstehen, muss sie der Musik den Rücken kehren. "Ich habe mir die Ohren zugestopft", erklärt sie dann nach ihrem Ausbruch aus dem Waisenhaus, "ich betrachte die Sterne, die Nase in die Höhe gereckt. Ich lausche nicht, ich schaue nur." Und dabei geht es ihr nicht um Träumerei -- das ist vielmehr ein Experiment in Sachen Erkenntnisfähigkeit.

    "Stabat Mater" spielt in der Form des Briefromans mit der formalen Strenge des mittelalterlichen Klagegesangs genauso wie mit den sich wiederholenden und variierenden Ausdrucksformen der barocken Musik. Das unterscheidet diesen Roman von früheren, ungebärdigeren Geschichten Scarpas, der in den 90er als Angehöriger der jungen Gruppe der "Kannibalen", der italienischen Variante der Pop-Literatur, bekannt geworden ist. Ab und an schaut das Grobianische und das Blasphemische noch hervor – die Rebellion Cecilias aber ist von anderer Art und viel radikaler: Am Ende macht das Mädchen sich nämlich den alten Klagegesang, der traditionell das Mitleiden mit der Gottesmutter besingt, ganz und gar zu eigen und verwandelt ihn in ein Befreiungslied in eigener Sache.