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"Auf die Dauer lieber Schatz/Ist mein Herz kein Ankerplatz“

Liebe erzählen ohne in Gefühlsduselei oder cooles Pathos zu geraten, dafür aber umso entschiedener, mit der Präzision eines Uhrwerks, die vorhersehbaren Mechanismen vom zufälligen Anfang und zwangsläufigen Ende der Liebe aufdecken – das gelingt der Autorin Annette Mingels in ihrem zweiten Roman "Die Liebe der Matrosen".

Von Hajo Steinert | 06.06.2005
    In Liebesdingen höre man sich ruhig wieder unsere alten Schlager an. Je älter sie sind umso besser. Unter schmalziger Oberfläche verbergen sich tiefe Wahrheiten mit tröstlichem Potential. "Auf die Dauer lieber Schatz/Ist mein Herz kein Ankerplatz." Poetischer, auswegloser, indes auch hoffnungsfroher kann man ein philosophisches Lied zur Vergänglichkeit der Liebe kaum anstimmen. Zumal schon in den nächsten Zeilen eine wunderbare Zukunft für alle Beteiligten am Trennungsvorgang heraufbeschworen wird: "Es blüh´n an allen Küsten Rosen/ Und für jeden gibt es tausendfach` Ersatz". So kratzt es auf der alten Schellackplatte mit dem insistierenden Titel: "Das ist die Liebe der Matrosen".

    Ach, wäre es doch auch heute noch so. Die Liebe – ein einziger Schlager, ein Abenteuerroman. Ein einziges Schunkeln. Ein Sichtreibenlassen. Ein fröhliches Kommen und Gehen. Offene Arme überall. Offene Lippen. An jeder Ecke wartet ein neues Abenteuer. Zum frivolen Klang der Quetschkommode.

    Aber weil das Leben bekanntlich kein Liebesschlaraffenland ist, werden viele todtraurige Liebesromane geschrieben. Von jungen deutschen Autorinnen dieser Tage in Serie. Und besonders viele in diesem Frühjahr. Von denen einer allein schon ob seines verwegenen Anspielungsreichtums im Titel heraussticht: "Die Liebe der Matrosen".

    Kein leibhaftiger Matrose schwankt hier über die Bildfläche. Der Matrose ist für Annette Mingels nur gedankliche Leitfigur. Sie steht für Rastlosigkeit, Spontaneität, Leidenschaft unter Zeitdruck, für Lebenslust und Einsamkeit, Draufgängertum und Melancholie. Kurzum - für all jene Begleiterscheinungen und Determinanten der Liebe, von denen dieser erstaunliche Roman handelt.

    Die "Matrosen" des Romans heißen Klara, Sylvie, Georg und Judith. ."Strudel", "Grobe See", "Schiffbruch" und "Treibgut" heißen die vier Kapitel bedrohlich. Klara und Sylvie sind junge Frauen. Georg und Judith sind die Eltern von Klara. Klara, die Unscheinbare, Sensible geht mit Jan. Jan, der Unkomplizierte, simpel Gestrickte, findet Klara durchaus gut, indes auch Sylvie, die oberflächlicher, aber schöner und begehrenswerter ist als Klara. Deshalb geht er dann doch lieber mit Sylvie als mit Klara. Klara ist die Verlassene. Sylvie mal wieder die Siegerin. So war es schon in ihrer gemeinsamen Schulzeit.

    Bald aber verlässt Sylvie Jan; er will sich deshalb umbringen. Der Selbstmordversuch scheitert. Klara hat inzwischen einen neuen Freund. Sylvie lernt einen gewissen Falk kennen, einen blöden Macho. Nur eine Frage der Zeit, bis er Sylvie verlässt. Jetzt gerät Sylvie, die Verwöhnte, in eine tiefe Verzweiflung. Am Ende werden sie alle Schiffbruch erlitten haben, ohne freilich dabei zu ertrinken. Die Autorin ist keine Untergangsprophetin. Pathos ist nicht ihre Sache. Sie erzählt sehenden Auges, mit kühlem Verstand von der Illusion und Desillusion der Liebe. Unspektakulär, ohne Moral, ohne Psychologie, ohne jemanden Schuld zuzuweisen, ohne Sympathieerklärungen für die eine oder andere Figur. Ihr Buch besteht aus Bestandsaufnahmen des ganz gewöhnlichen Alltags. Die allerdings tun manchmal richtig weh.

    Annette Mingels begnügt sich nicht mit einem Roman über den Liebeswirrwarr in der Generation junger Frauen zwischen zwanzig und dreißig. "Die Liebe der Matrosen" ist auch ein Familienroman. Im dritten Kapitel erleben wir, wie Klaras Vater, ein Pädagoge, aus Ehe-Langeweile und Torschlusspanik heraus eine Liebelei mit einer Schülerin anfängt, die ihn allerdings bald auch wieder langweilt. Pech nur, dass seine Frau, nachdem er schon Schluss mit dem Mädchen gemacht hat, Liebesbriefe von ihr bei ihm findet. Der Vater - natürlich ein "Matrose", der nicht alt werden will und in seiner Midlife-Crisis noch einmal alles aus sich herausholt, was in ihm an libidinösem Elan noch schlummert. Zu Herzen geht das.

    Im vierten Kapitel des Kammerspiels verfolgen wir, wie Judith sich von ihrem Mann trennt, emanzipiert und schließlich an einem anderen Ort eine neue Beziehung eingeht, ohne der Illusion zu verfallen, wirklich ein neues Leben zu beginnen. Von der Illusionslosigkeit der Liebe erzählen ohne in Gefühlsduselei oder cooles Pathos zu geraten, dafür aber umso entschiedener, mit der Präzision eines Uhrwerks, die vorhersehbaren Mechanismen vom zufälligen Anfang und zwangsläufigen Ende der Liebe aufdecken – das macht die vibrierende Spannung dieses erst zweiten Romans der begabten Autorin aus.

    Es ist heute im wirklichen Leben wie damals im Schlager. Nähe und Distanz, Verlassenwerden und Verlassen, Betrügen und Betrogenwerden, Ausbruch und Aufbruch, Bindung und Loslösung, Verlangen und Verzicht, Enttäuschung und Hoffnung, Frust und Lust, Trauer und Euphorie – all dies gehört bei der Liebe zusammen wie zwei nur beim Anstoss durch eine Mittellinie voneinander getrennte Hälften eines Fußballplatzes. Der Kampf um die Liebe ist ein Spiel. Mit unentschiedenem Ende. Für Ersatz ist an der Seitenauslinie gesorgt. Davon handelte schon das alte Lied auf der Schellack-Platte. Annette Mingels bereichert die Bibliothek der Liebe um eine eigenwillige Variante. Spielerisch. Klug. Aufregend.

    Die 1971 in Köln geborene, heute in Zürich lebende Autorin hat ihre Moritat vom Kommen und Gehen in der Liebe in vier einzelne, für sich allein stehende und doch aufeinander bezogene Kapitel unterteilt. Klara ist die Erzählerin des ersten, Sylvie die des zweiten Kapitels. Georgs Perspektive wird im dritten und die seiner Frau im vierten Kapitel eingenommen. Der Wechsel der Erzählperspektive unterbricht nicht, er treibt ihren Roman voran. In der Form besteht seine Klasse.

    So durchdacht, vielseitig, abwechslungsreich, erzähltechnisch irgendwie auftrumpfend der Roman auch daherkommt – , es liegt an der Seefestigkeit, sprich am literarischen Stehvermögen der Autorin, dass das mit leidgeprüftem Gepäck vollgeladene Schiff nicht kentert. Der Wechsel der Erzählperspektive einhergehend mit einem moderaten Wechsel des Erzähltons – das wirkt bei anderen wie eine Stilübung, wie das Resultat einer Schule des Schreibens. Nicht so bei Annette Mingels. Die Erzählform erscheint hier, so viel sich die Autorin dabei auch gedacht haben mag, als ganz selbstverständlich. Schiff ahoi!

    Annette Mingels: Die Liebe der Matrosen. Roman. DuMont Buchverlag. Köln 2005, 346 S, 19,90 Euro