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Auf einmal ungeschützt in der Welt

Der Tod der Mutter ist der Moment im Leben, in dem die eigene Jugend unwiederbringlich verloren ist. Wenn die Mutter einen verlässt, steht man ungeschützt in der Welt. Dabei haben die meisten Menschen ihre Mutter längst hinter sich zurückgelassen, wenn dieser Moment eintritt. Der Tod verweist sie dann auf die eigenen Versäumnisse. Ohne Schuld oder Schuldgefühle geht es selten ab.

Von Jörg Magenau | 17.01.2006
    "Die Mutter ist der letztmögliche Weg zurück in die Kindheit, in der man nie war", schrieb Ludwig Fels in seinem Abschiedsroman "Der Himmel war eine große Gegenwart". Das Sterben der Mutter ist eine existentielle Erfahrung, die besonders die Söhne immer wieder zu literarischer Verarbeitung drängt und eindrucksvolle Bücher hervorgebracht hat. Nach Ludwig Fels waren das zuletzt die Erzählung "Muttersterben" des Bachmannpreisträgers Michael Lentz, Jakob Heins dem Tod der Mutter abgetrotzte Erinnerungen "Vielleicht war es sogar schön" und aktuell der kleine Roman "Noch einmal nach Marseille" von Björn Kern, einem noch sehr jungen, 1978 geborenen Autor.

    Am Anfang steht jedes Mal ein Telefonanruf, wenn der Vater, der Bruder oder die Mutter selbst die erschreckende Diagnose übermittelt. Der Sohn zündet sich dann eine Zigarette an, geht hinaus, um die Mülltonne von der Straße zu holen oder kriecht, wie Björn Kerns Ich-Erzähler, zurück ins Bett, zur Freundin, ins Warme. Es ist, als klammere er sich erst einmal an das gewohnte Leben, weil er ahnt, dass nun nichts mehr so sein wird wie zuvor.

    Das Telefon klingelte an einem Donnerstagmorgen, den ich mit meiner Freundin im Bett verbrachte. Ich hatte nicht im geringsten vor, den Hörer abzunehmen, aber meine Freundin sagte: Geh dran, du weißt schon. Sie entzog sich mir, ich schüttelte den Kopf und lief zum Telefon.

    Wir haben die Diagnose, sagte mein Vater.

    Guten Morgen, sagte ich.

    Es ist keine Arthrose.

    Mir wurde kalt.

    Es ist keine Arthrose, hörst du?

    Mein Vater fing an zu weinen, ich hätte nicht gedacht, dass er das kann. Als er sich schnäuzte, fragte ich: Soll ich morgen kommen? Erst morgen, murmelte er und legte dann auf.


    Die Mutter leidet an einer Nervenkrankheit, die zur allmählichen Lähmung des Körpers führt. Sie weiß, dass sie bald nicht mehr gehen können wird, dass sie gefüttert werden muss und am Ende ersticken wird. Das ist der natürliche Verlauf. Wie dieser quälend langsame Verfallsprozess unerbittlich voranschreitet, schildert Björn Kern aus nächster Nähe, ohne jede Sentimentalität, mit einer erstaunlichen Stilsicherheit und einem klaren, chronistenhaft kühlen Blick für die schleichenden Veränderungen und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Familie. Denn die Mutter ist nicht einfach nur die Hilfsbedürftige, sondern gelegentlich auch Tyrannin, die ihre Schwäche auszuspielen weiß. Manchmal ist sie ein verschmitztes, schelmenhaftes Mädchen, dann wieder nur weinendes Elend. Stiller Held an ihrer Seite ist der Vater, dem von Anfang an alles zu viel ist, und der doch heroisch durchhält in der Pflege seiner Frau. Der erzählende Sohn tritt dagegen zunächst nur als Besucher auf, der auf seinen Visiten Souveränität zur Schau stellt und doch froh ist, bald wieder gehen zu dürfen. Sehr genau wird das schwierige familiäre Dreiecksverhältnis in der Extremsituation der Krankheit analysiert, ohne dass jemals mehr ausgesprochen würde als das, was sich gerade ereignet. So langsam gehen die äußeren und inneren Veränderungen vor sich, dass sie kaum zu registrieren sind. Eines Tages sitzt die Mutter im Rollstuhl, dann kann sie auch die Arme nicht mehr bewegen. Bald braucht sie eine Atemmaschine, dann künstliche Ernährung und schließlich einen Sprachcomputer, da sie sich nicht mehr artikulieren kann. Und doch scheint der Sohn bis zum Schluss noch nicht begriffen zu haben, wie es wirklich um sie steht:

    Wenn mein Vater meine Mutter hergerichtet hatte, war sie noch immer sehr attraktiv. Sie hatte ein feines Gesicht mit Lachfalten und schöne Haare, die sie sich in die Stirn kämmen ließ. Ich kannte sie nur in diesem Zustand, mein Vater sagte: Wie sie im Bad aussieht, musst du nicht wissen, und ich hielt das für eine seiner Übertreibungen, bis ich einmal ins Bad stolperte, als meine Mutter gerade im Hebekran über der Badewanne schwebte.

    Ihr Körper hatte jede Spannkraft verloren, ihre Arme hingen rechts und links leblos aus den Gurten, ihre Beine baumelten orientierungslos vom Sitz herunter, ihr Kopf war nach vorne abgeknickt. Mir wurde schlecht. Ich blieb schlagartig stehen, ich starrte mit offenem Mund auf diesen hilflosen Menschen, der meine Mutter war, und bekam den Blick nicht los, bis mein Vater sagte: Nun schau nicht so, wir sind gleich soweit.


    Das ist ein einfacher, ernsthafter Ton, wie er in der jüngeren deutschen Literatur nur selten zu hören ist. Mit den harmlosen Alltagsbeschreibungen der Popfraktion hat das ebenso wenig zu tun, wie mit dem routiniert glatten Stil der Leipziger Schreibschule. Dabei hat Björn Kern, der in Tübingen deutsche Literatur und Romanistik studierte, auch für ein Semester das Leipziger Literaturinstitut besucht. Wichtiger scheinen für ihn jedoch Erfahrungen zu sein, die er während des Zivildienstes in Südfrankreich bei der Betreuung von psychisch kranken und alten Menschen gemacht hat. Davon erzählte er 2001 in seinem Debütroman "KIPPpunkt". Nun führt die letzte Reise der Mutter nach Südfrankreich - ein Martyrium für Vater und Sohn, die stets in Sorge sind, die Atemmaschine könnte unterwegs ausfallen. Und doch sind diese dem Sterben abgetrotzten Unternehmungen Siege, als könnte das Leben eben doch den letzten Triumph feiern. Fast schon surreal mutet eine Szene am Ende des Buches an, wenn der Erzähler seine Mutter mit ihrer Atemmaske im Bett durch die Straßen der Stadt schiebt, damit sie noch einmal einen warmen Frühlingstag erleben, den Vögel zuhören und ein Eis kaufen kann.

    Zum Bestseller wird ein Roman, der so ungeschützt vom Sterben handelt, wohl nicht werden. Und doch sind diesem Buch viele Leser zu wünschen. Nicht nur, weil der Tod zu wichtig ist, um verdrängt werden zu dürfen, sondern auch deshalb, weil Björn Kern es versteht, davon leise und unaufdringlich und umso ergreifender zu erzählen.

    Björn Kern: Noch einmal nach Marseille. Roman. C.H. Beck, München 2005, 126 Seiten, 12,90 Euro