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Auf feine Art leise

Als Leser von Ralf Rothmann kommt man den Figuren sehr nahe, man schaut in ein Leben hinein, erfährt ausschnitthaft Intimes, aber doch werden die Helden nicht an den Betrachter verraten. Sie bewahren sich ihr Geheimnis, das mit Würde zu tun hat. Es bleibt immer etwas, das nicht ausgesprochen wird.

Von Ulrich Rüdenauer | 13.11.2006
    "So, das haben wir jetzt auch erlebt."

    Dieser Satz findet sich in Ralf Rothmanns neuem Erzählungsband "Rehe am Meer", aber er könnte in jedem seiner Bücher auftauchen. Aus schwindenden Illusionen und verstohlener Resignation ist er gebaut, aber zugleich darf man ihn nicht mit Weltuntergangsstimme lesen. Rothmanns Figuren sind fürs Melodramatische nicht geschaffen. In dem Satz schlummert eine müde Traurigkeit. Er ist nicht energisch, keine Selbstbefeuerung, kein Weckruf. Er sagt nicht: Vergessen wir das Geschehene, gehen wir zur Tagesordnung über. Die Zeile stellt eine Bilanz dar, aber unter dem Strich wird ein zweifelhaftes Ergebnis verbucht: Vielleicht eine Erfahrung, keine allerdings, die man unbedingt hätte machen müssen. Ob diese Erfahrung einen irgendwohin oder wenigstens weiterbringt, ist doch höchst fraglich: Wohin sollen einen Tod, Betrug, Vertrauensverluste schon führen?

    "Nur die Angst davor, die war es gewesen, und sie trocknete ihre Tränen mit dem Kissen, schob die Hände zwischen die Knie und murmelte: 'So, das haben wir jetzt auch erlebt.'"

    Andrea hat Schlimmes erlebt - den Tod ihres Mannes. In der Nacht ist er gestorben, nach langer schwerer Krankheit, wie vermutlich in der Todesanzeige stehen wird. "Willst du Nudeln?" hatte er sie noch am Abend zuvor gefragt, in einem plötzlichen Aufbäumen gegen das Todesurteil und das Schwachsein, und die Frage gibt der Erzählung ihren Titel. Am Morgen sind da Erschöpfung und Ratlosigkeit, die den Schmerz als etwas Gedämpftes erscheinen lassen.

    "Dann schloß sie die Augen, und obwohl sie einschlief, hörte sie alles: Handwerker irgendwo im Haus, eine Elster in den Bäumen, etwas wie Klaviermusik – und sogar das leichte Gluckern in Gerulfs Bauch."

    Einer der Handwerker klingelt bei Andrea, nichts ahnend, sie öffnet die Tür, er möchte die Thermen warten, sie ist verstört und versucht ihn abzuwimmeln. Aber dann kommt er doch in die Wohnung, und es beginnt ein Dialog, der vor dem Hintergrund des Geschehenen etwas Absurdes annimmt - und plötzlich eine heilsame Alltäglichkeit entstehen lässt. Der Handwerker, ein junger Berliner, den Rothmann mit wunderbarer Schnoddrigkeit zeichnet, erfährt schließlich, was geschehen ist. Und da bricht Andrea zusammen, sie kann nicht mehr.

    "'Du mußt essen, hörst du. Klingt blöd jetzt, ich weiß, aber es hilft. Du mußt unbedingt was zu dir nehmen. Du brauchst Kraft.' (…) Dann zog er die Lade mit den Töpfen heraus. 'Was magst du? Reis? Kartoffeln? Nudeln?' Der Gasherd sprang an, und er drehte sich um. Willst du Nudeln?'"

    Man sieht, mit welcher Präzision Ralf Rothmann Anfang und Ende der Geschichte verklammert, wie sich durch seine Erzählungen unaufdringlich Metaphern und Motive ziehen, wie leicht sich das Schwere, von dem erzählt wird, anhört.

    Ralf Rothmanns Fähigkeit zur Empathie kippt selten ins Sentimentale oder gar Kitschige, wobei der Vorwurf des Kitsches oder gar Sozialkitsches zuweilen nur einen Vorbehalt gegen die kleinbürgerliche Wirklichkeit so genannter einfacher Leute dokumentiert. Ein Reflex des eigenen Dünkels, den Rothmann gar nicht kennt. "Willst du Nudeln?" illustriert schön seine Kunst: Als Leser kommt man den Figuren sehr nahe, man schaut in eine Wohnung, in ein Leben hinein, man erfährt ausschnitthaft Intimes, aber doch werden seine Helden nicht an den Betrachter verraten. Sie bewahren sich ihr Geheimnis, das mit Würde zu tun hat. Die Geschichten funktionieren genau so: Es bleibt immer etwas, das nicht ausgesprochen, nicht entäußert wird. Rothmanns Texte, ob es sich um seine Ruhrpott-Romane oder seine Erzählungen handelt, sind nicht geschwätzig, sondern fast schon auf feine Art leise. Sie drängen sich nicht vor und nicht auf.

    Pathos ist dem Lakoniker Rothmann fremd. Sein Realismus aber ist durchaus von einer filmischen Unschärfe: Einzelne Gegenstände geraten in den Fokus, andere bleiben abseits des Blickes, der Autor schwenkt sein Kameraauge auf das Herumliegende und erfasst doch nicht nur das Naheliegende. Seine Figuren sprechen, wie sie es im Leben täten, aber doch ist alles gedrechselt und filigran montiert und reduziert. Vor allem das Nicht-Gesagte hallt im Kopf des Lesers nach. Atmosphärische Dichte schafft Rothmann wie kaum ein anderer Autor mit wenigen Andeutungen; ihm genügt eine Handvoll Requisiten, um etwa eine Hinterhofszenerie kurz anzureißen, ein Stillleben und doch lebendig.

    "Bröckelnder Stuck in der Toreinfahrt neben dem Lokal, rostige Briefkästen und ein Kinderwagen, doch im Hof kein Mensch. Eine weiße Katze hockte auf einem Sims, und Licht brannte nur in dem Parterrefenster hinter den Mülltonnen."

    Gleichzeitig wirken die Geschichten zuweilen wie aus einer anderen Zeit: Erkennbar sind sie in der Gegenwart oder nicht allzu entfernten Vergangenheit angesiedelt, aber sie scheinen mit einer Geste erzählt, die man entweder zeitlos, oder, manchmal, vielleicht auf sympathische Weise angestaubt nennen darf. Da wird "geknobelt", "gepafft", "Klammerblues" getanzt und etwas "tadellos" gefunden - die Sprache rührt deshalb an, weil sie ihren kleinen Figuren so genau passt und steht wie manchen ein altmodisches Kleidungsstück. Als wäre, was ihnen zustößt, immer auch ein Unglück des nicht ausdrücken Könnens und der Unzeitmäßigkeit. Wo Rothmanns Helden arbeiten - ja, manche gehen hier wirklich einer Arbeit nach, was gar nicht so oft vorkommt in der deutschen Gegenwartsliteratur -, wo sie also arbeiten, lieben, sich verlieren, zer- und auseinanderbrechen, ist es nicht hip: Manche der Geschichten spielen am Abgrund, an biografischen Bruchstellen, auf einem Bauernhof, einer Baustelle, im Osten, wo die Landschaft nicht recht blüht. Da stellt ein Hilfsarbeiter fest, dass sein Chef das gerade Gebaute in einer Nacht- und Nebelaktion kurz und klein haut, weil er sich mit seinem Auftrag übernommen hat - und sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als einen Versicherungsbetrug zu begehen.

    "Und während wir die Seifenschale und die Armaturen aus den Kacheln brachen, während wir Lampen und Kabel aus dem Putz rissen und Löcher in die Wanne und den Lamellenschrank traten, sahen unsere Schatten an den Wänden aus, als gehörten sie nicht zu uns. Als würden das ganz andere tun."

    Das eigene Tun ist diesen Figuren manchmal fremd, und sie geraten in Situationen, die ihnen nicht ähnlich sehen, sie ins Zweifeln und zum Verzweifeln bringen. Eine junge Familie macht Urlaub im Haus einer Krankenschwester, die derweil mit ihrem Sohn in einem Campingwagen unterschlüpft. Der Sohn ist wütend auf die Eindringlinge, die Frau unzufrieden mit der Situation, die Krankenschwester einsam. Die Rache des Jungen: Er führt die Frau, die in seinem Zimmer schläft, zum Wohnwagen, in dem ihr Mann mit der Krankenschwester verschwunden ist.

    "Auf den Stufen zu der schmalen Tür ein Feuerzeug und ein Päckchen Zigaretten, im Gras der Gürtel eines Morgenmantels und irgendeine Creme, und dann entdeckte ich die Sportschuhe, die riesig aussahen neben den Clogs. Einer war umgekippt, eine Wespe krabbelte über den neongrünen Seitenstreifen, und ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Ich fühlte meinen Puls in der Kehle und starrte auf den Schlüssel in der Tür des Wohnmobils, auf den silbernen Fisch, der sich leicht bewegte, immer wieder. Er glitzerte im Licht, und mein Baby schlug die Augen auf und lächelte mich an."

    In allem Unglück, in aller Not, in allem Liebesleid gibt es dann doch solch ein Lächeln, die Spur einer anderen Zeit, die ins Jetzt hineinragt. Ein Kontrapunkt, der zugleich tröstend und trostlos ist oder unverstanden.

    Rothmann arbeitet wie in seinen letzten Büchern auch in seinen neuen Erzählungen mit christlichen Symbolen. Aber er tut es so dezent, dass man das Metaphysische zwar ahnt, es sich aber nicht aufdrängt. Es sind nicht nur Geschichten von der Liebe und vom Tod, sondern auch von der Erlösung. "God knows how I adore life / When the wind turns on the shore lies another day / I cannot ask for more", zitiert er die Sängerin Beth Gibbons als Motto des neuen Erzählungsbandes. "Der ganze Weg”, die letzte Geschichte des Bandes, illustriert diesen Willen zur Erlösung dann aufs Deutlichste. Da zieht ein Tierpfleger mit den geschundenen Kreaturen, den Lamas im Zirkus, aus wie einst Moses aus Ägypten; der Blick zielt in eine ungewisse Zukunft, aber für einen Augenblick scheint einmal alles richtig zu sein.

    "Nachher kamen die Sterne raus, mit Lichtern von Flugzeugen dazwischen, ganz entfernt glänzte der Rhein, und ich setzte mich unter einen Baum und trank die Dose Bier, die ich mitgenommen hatte. Ich wußte nicht, wie’s weitergehen sollte, klar, aber das war auch egal. Die Tiere standen still in meiner Nähe, stolze Umrisse vor der blauen Nacht, und ich konnte alles in ihren Augen sehen, Alter, den ganzen Weg."