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Auf Sommertour an der Basis

Bereits mit 21 Jahren ging Katja Kipping in die Politik, heute, mit 34, bildet sie zusammen mit Bernd Riexinger die neue Doppelspitze der Linken. Sie soll vor allem Ruhe in die von internen Querelen gebeutelte Partei bringen. Bei ihrer Wahl zur Vorsitzenden in Göttingen galt sie vielen jedoch eher als Notlösung.

Von Hilde Weeg | 16.08.2012
    Der Saal im Suhler Hotelrestaurant ist schon vor elf Uhr voll besetzt – mit 60 Personen hatte man gerechnet, nun sitzen gut 100 an den Tischen, vorwiegend Grau- und Weißhaarige. Die Kellner flitzen, die Organisatoren schwitzen – denn Katja Kipping verspätet sich. Sie reist mit der halbjährigen Tochter per Bahn an – und hat prompt einen Anschluss verpasst.

    Mit über einstündiger Verspätung trifft die Parteichefin schließlich ein. Ihre Entschuldigung - selbstbewusst:

    "Danke, dass ihr ausgeharrt habt – ich hab aber schon gehört, dass ihr politische Unterhaltung genossen habt, und es wurde gar nicht langweilig."

    Ihr Publikum in Suhl ist repräsentativ für die Ostlinke: viele Ex-SED- und PDSler, nur etwa ein Viertel unter 60, die meisten deutlich drüber. Darunter mancher Betonkopf.

    "Ich war nicht für die Wende, ich bin DDR-Bürger – bleib ich, werde ich immer sein, ich möchte es am liebsten auf meinen Grabstein meißeln lassen."

    Es ist ein Heimspiel für die gebürtige Dresdnerin, die auf dem Göttinger Parteitag als Kandidatin galt, die keinem wehtut, die die internen Gräben zwischen Ost und West nicht weiter vertieft. In Thüringen sind die Linken fest verankert – bei der Landtagswahl 2009 landeten sie auf Platz zwei – hinter der CDU, aber mit 27,4 Prozent der Stimmen weit vor der SPD. Die Partei stellt viele Kommunalpolitiker, auch zum Beispiel die Bürgermeisterin von Neuhaus, Marianne Reichelt. Sie beschreibt den Unterschied zwischen Ost- und Westlinken so.

    "Ich habe konkret Verantwortung in der Stadt, jeden Tag treff’ ich meine Bürger. Und in den alten Bundesländern kämpft man ja um diese Möglichkeit, selbst Verantwortung zu übernehmen, aber es sind mehr die theoretischen Dinge, die dort im Mittelpunkt stehen. Bei uns ist es die konkrete Praxis, seit 20 Jahren."

    Von Kipping dazu kein einziges Wort. Überhaupt wirkt die erst 34 Jahre alte Parteichefin in Suhl wie die Tochter oder sogar Enkelin beim Familienfest: eine zarte Person mit klarem und sympathischem Gesicht, zudem eine gelassene junge Mutter. Nach ihrem Eingangsstatement holt sie ihr Baby zu sich auf den Schoß. Und dort bleibt die Kleine, deren Namen nicht genannt werden soll, auch sitzen – ganz selbstverständlich bis zum Schluss.

    "Mir ist halt irgendwie wichtig zu zeigen, ein neues Verständnis von Vereinbarkeit von politischem Spitzenamt und Familie selber zu praktizieren und vielleicht auch als Modell ein bisschen zu bewerben."

    Die Tochter ist politikkompatibel, aufmerksam und zufrieden beobachtet sie den Trubel um sich herum – während ihre Mama konzentriert die Themen auf ihren Karteikarten abarbeitet. Es sind wohlbekannte linke Standards: keine Kriegseinsätze, keinen Fiskalpakt, mehr soziale Gerechtigkeit. Die Parteifreunde hören ihr zu, klatschen aber selten. Zum Beispiel als Kipping eine sozial-ökologische Energiewende fordert:

    "Denn was nicht geht, ist, dass die Energiewende am Ende dazu führt, dass sich die Ärmsten den Strom nicht mehr leisten können. Und dass am Ende kollektives Frieren die Ärmsten nur haben. Das ist eine Energiewende, die mit uns nicht zu machen ist."

    Es ist linke Rhetorik, erwartbar, wenig originell. Ihre Stimme klingt etwas hoch, aber fest. Sie trägt Hose und T-Shirt und signalisiert damit "Ich bin eine von euch". Ein Auftritt - wie der einer Lehrerin im Referendariat, die ihre Klasse fest im Griff hat. Dazu passen die Politstanzen - wie Schulstoff, der im Lehrplan steht und den sie in- und auswendig kennt. Denn bereits mit 21 Jahren ging sie in die Politik, längst ist sie Vollprofi, kleine Versprecher ändern daran nichts.

    "Wir kritisieren die Konzentration von Reichtum ja nicht, weil wir irgendjemand seinen Champagner nicht gönnen. Das Problem nicht, wenn einige aufgrund von Reichtum ein schönes Leben haben. Das Problem ist, wenn der Reichtum einiger weniger ursächlich ist für den wachsenden Reichtum [statt Armut] von vielen."

    Herausgefordert wird Kipping beim Familienbruch in Suhl nicht: Niemand stellt ihr eine kritische Frage, keiner will was zum Programm der neuen Doppelspitze wissen. Nur ein paar Statements gibt’s aus dem Publikum, vor allem zur Regierungspolitik. Katja Kipping macht sich ein paar Notizen. Nach 90 Minuten ist es vorbei.

    "Bin sehr zufrieden, die gefällt mir sowieso." - "Sie hat immer vergessen zu sagen, wie sie das verwirklichen wollen, das ist zu wenig." - "Vielleicht haben wir Glück, dass wir ja doch wieder Schwung reinbekommen und die elende Streiterei aufhört."

    Traut man ihr bereits zu, als Spitzenkandidatin in die Bundestagswahl zu ziehen? Da fallen die Antworten vorsichtiger aus:

    "Die Diskussion ist jetzt noch zu früh."- "Ich kann es mir vorstellen."- "Sie kann es schaffen, und das Alter spielt da keine Rolle." - "Man muss ihr natürlich auch eine gewisse Zeit geben."- "Sie versucht doch, Familie, Muttisein und Parteiführen unter einen Hut zu bringen – und ich hoffe, dass sie das so durchhält."

    Einer, der ihr das auch zutraut, ist Sandro Witt, 31, der stellvertretende Landesvorsitzende. Er ist begeistert – auch weil sie auch Jüngere ansprechen kann.

    "Wenn eine Katja Kipping öffentlich Themen auch anspricht, die möglicherweise junge Leute bei Attac und anderswo immer umtreibt – also ich erinnere nur an die bloccupy-Proteste. Auf der anderen Seite ist aber die Frage, wie ein Kreisverband vor Ort mit jungen Leuten umgeht. Diese Offenheit muss auch im Kreis vor Ort da sein."

    Hier ist Überalterung ein großes Problem - und die Austritte. Mehr als 900 Mitglieder hat allein der Landesverband Thüringen innerhalb der letzten zwei Jahre verloren – viele davon wegen der Querelen auf Bundesebene. Im Januar waren noch 5.800 Mitglieder registriert, erzählt Anke Hofmann. Sie leitet die Geschäftsstelle in Erfurt und hofft, dass mit der Sommertour der neuen Spitze die Austrittswelle beendet ist.

    "Wir merken das in vielen Gesprächen mit Menschen auf der Straße im Rahmen dieser Sommertour, dass viele Menschen sagen: 'Ach, bei euch bewegt sich ja wieder was nach vorne' – und das hilft auch, Mitglieder wieder neu zu gewinnen."

    Katja Kipping – vor zwei Monaten in Göttingen galt sie vielen als Notlösung. Wie der ganz große Trumpf im Ärmel der Linken wirkt sie auch jetzt nicht. Den Termin in Suhl absolviert sie routiniert, aber nicht begeisternd. Doch die Basis scheint vor allem dankbar zu sein für die parteiinterne Ruhe. Die ist auch Kippings Verdienst - das zählt in der Linken viel.