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Auf weiten Wegen

Mütterchen Russland ist groß. Wie die schier endlose Landschaft sich auf die viel beschriebene russische Seele auswirkt, hat der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold untersucht. In dem Werk "Russische Wege" schildert er Geschichte, Kultur und Weltbild Russlands. Eine Rezension von Dietrich Möller.

07.01.2008
    Wer immer sich daran macht und machte, Geschichte und Eigenart, das Wesen der Russen zu beschreiben, kommt nicht umhin, auf Ausdehnung und Natur des größten Territorialstaates der Erde einzugehen. Das begann schon mit den ersten Schilderungen europäischer Reisender, der des Freiherrn zu Herberstein im 16. und der des Adam Olearius im 17. Jahrhundert.

    Beide, der eine ein Österreicher, der andere ein Deutscher, waren tief von der schier unermesslichen Weite des Raumes und seiner Gleichförmigkeit beeindruckt, und so ergeht es noch jedem, der sich auch nur bis auf den Weg nach Moskau macht, wenn er denn bewusst und mit offenen Augen reist.

    Natürlich prägen Weite und Charakter des Landes Mentalität und Bewusstsein seiner Bewohner. Russische Sprichwörter und Redewendungen, Lieder und Legenden, Märchen, Poeme und Romane und selbst philosophische und politische Betrachtungen zeugen davon.

    "Selbst ein amorphes Gebilde wie die noch oft berufene ‚russische Seele’ gewinnt in solcher Betrachtung verhältnismäßig klare Konturen, dies allerdings um den Preis massiver Simplifizierungen und Verallgemeinerungen, die ihrerseits – notwendigerweise – zur Klischeehaftigkeit tendieren. Doch eben darin, in einfachsten Bildern und Formeln, findet das ‚russische Selbstbewusstsein’ seine Begründung und seinen authentischen Ausdruck, wenn dessen objektive Basis auch noch so schwankend sein mag."

    Dieses Zitat ist einem Buch entnommen, das sich ausschließlich mit dem russischen Raum und seinen Wegen beschäftigt - nicht als geografisches Sachbuch, sondern als eine Studie zu Geschichte, Kultur und Weltbild der Russen unter dem Eindruck von Weite und Erschließung ihres Landes. Felix Philipp Ingold, der Schweizer Slawist und Kulturhistoriker, hat sie verfasst. Unter Berufung auf den russischen Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew schreibt Ingold, dabei sei es ihm darum gegangen:

    "Möglichst nüchtern so etwas wie eine ’Geografie der russischen Seele’ zu rekonstruieren, das heißt, messbare Realien der russischen Wirklichkeit - also beispielsweise territoriale Dimensionen, städtebauliche Strukturen oder Länge, Verlauf und Anlage russischer Verkehrswege - vergleichend zusammenzuführen mit ’Glaubenssätzen’ und Selbstbekenntnissen, wie sie sich namentlich in der philosophischen Publizistik, aber auch in der Erzählliteratur und, bis heute, in politischen Diskursen finden."

    Und das gelingt Ingold aufs Beste. In Bezug auf die territoriale Ausdehnung des Landes schreibt er über die sich daraus ergebenden Konsequenzen:

    "Der übermächtige Raum bedingt naturgemäß den übermächtigen Staat. Dieser wird als gigantischer Verwaltungs- und Unterdrückungsapparat erfahren, er disponiert die Bevölkerung zu Unterwürfigkeit, Passivität, Verantwortungsscheu, aber auch zu Aufruhr, zu sektiererischem oder anarchischem Widerstand, während jener das allgemeine Gefühl von Freiheit vermittelt und Qualitäten wie Großzügigkeit, Geduld, Solidarität fördert. Man kann den russischen Menschen restlos und widerstandslos der Herrschaft des Raums unterworfen sehen. Dem Russen ist der grenzenlose Raum als Heimat altvertraut. Heimat ist für ihn nicht durch Grenzen definiert, sondern umgekehrt dadurch, dass sie eben grenzenlos ist."

    Mit Ingold sei hier Andrej Sinjawski zitiert:

    "Die große russische Erde, so weit und so tief wie sie ist, bleibt dem russischen Menschen stets hilfreich und rettet ihn. Er wiederum verlässt sich allzu sehr auf die russische Erde, auf Mütterchen Russland."

    Zum Raum gehören das Wetter und die Unwägbarkeiten der Natur, und damit sind auch sie den Menschen prägende Faktoren. Russlands Geschichte als die eines reinen Agrarlandes ist viel länger und wirkt viel nachhaltiger als die der meisten europäischen Staaten und so nimmt es nicht wunder, dass auch bäuerliches Verhalten ausgeprägter ist als anderswo. Ingold schreibt von einem widersprüchlichen Verhalten, einerseits von:

    "Der Notwendigkeit höchster punktueller Anstrengung."

    Andererseits von der Tendenz:

    "Zu Schwermut und Passivität angesichts der kaum berechenbaren Launen der Natur."

    Ingold zitiert eine russische Standortbestimmung aus jüngerer, nachkommunistischer Zeit:

    "Die Russen beginnen mit dem Absoluten, mit dem Größten, das ihnen ihre Einbildungskraft vorgaukeln kann. Statt sich ein normales Haus zu bauen, träumen sie von einem gigantischen Schloss. Doch irgendwo muss man ja schlafen können. Deshalb errichten sie ein Provisorium und lassen sich darin nieder. Der russische Mensch träumt weiter von seinem Schloss und denkt nicht daran, sein Provisorium zu verlassen."

    Das klingt und das liest sich sehr apodiktisch und man fragt sich natürlich, ob solche Feststellungen auch noch über längere Zeit Gültigkeit haben, nachdem Russland von den Fesseln des kommunistischen Systems befreit und zu einem erzkapitalistischen Staat geworden ist, in dem nicht mehr Faulheit und Phlegma, sondern die Arbeit honoriert wird. Ingold ist allerdings der Ansicht, dass die Wende vom einen in das andere System:

    "Liberalen Tugenden wie Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Arbeitsdisziplin, offener Wettbewerb, soziales Engagement","

    nur kurzfristig Auftrieb gegeben hat. Die mit dem Systemwechsel erworbene Freiheit würde nach wie vor als "Freiheit von etwas" aufgefasst, während man in Westeuropa die "Freiheit zu etwas" nutzt.

    ""Nie konnten in Russland individuelle und soziale Freiheit produktiv in Übereinstimmung gebracht werden, und das ist offenkundig kein bloß system- oder ideologiebedingtes Problem, sondern scheint erneut auf weit zurückreichende, ebenso diffuse wie nachhaltige Mentalitätsstrukturen zu verweisen, welche das Zarenreich wie auch das Sowjetsystem überdauert haben","

    von beiden aber wohl auch erzeugt und geprägt wurden. Nach dem Raum, dieser gewaltigen Ausdehnung des russischen Landes mit ihrer fast gleichförmigen landschaftlichen Gestalt, widmet Ingold den Wegen in und durch ihn sowie deren Bewältigung ein nächstes Kapitel. Es ist nicht minder aufschlussreich wie das Vorangegangene. Denn er belässt es auch in diesem Falle nicht bei Schilderungen und Überlegungen von Wegen als Verbindungen, sondern ebenso als Vorstellungen.

    ""Der russische Weg scheint primär die Ferne zum Ziel zu haben, einen unbestimmten namenlosen Raum, hinter dem immer noch ein Raum sich auftut; es ist ein Weg, der eigentlich nur nach Utopia führen kann und der seinerseits utopisch ist - ein Unort."

    Und noch ein Zitat, ergänzend zu dem eben gelesenen, nun den seit alters her katastrophalen Zustand aller Wege aufnehmend:

    "Traditionell steht der russische Weg - es ist immer der ’schlechte Weg’ - für Unordnung, Unzuverlässigkeit und Unbequemlichkeit; es ist, als wäre er nie und noch immer nicht zu einem zivilisatorischen Faktum geworden - der ’schlechte Weg’ ist für den Russen der gute Weg, weil er unabsehbar, unbestimmt, ziellos ist; weil er Freiheit gibt. Dem Weg wird mithin die Unwegsamkeit vorgezogen."

    So, wie Ingold dem Kapitel über den Raum einen Exkurs über Heim und Heimat angefügt hat, geht er auf die Verbindung von Raum und Weg in der russischen Naturdichtung und in der Landschaftsmalerei in zwei weiteren Exkursen ein. Ein drittes Kapitel hat den Titel "Wege nach Russland". In ihm wird der Einfluss fremder Kulturen auf die russische geschildert, Ingold nennt sie eine "Nachahmungskultur". Indessen folgt er mit diesem Begriff nicht der Formel "Ost minus West gleich null", wie sie einst, zur Hochzeit des Kalten Kriegs, verbreitet wurde, vielmehr gibt er ihm - übrigens mit Dostojewskij - einen durchaus positiven Akzent. Zwar schreibt er:

    "Für Russland gilt, dass hier das Fremde mehrheitlich unkritisch, oft sogar unbedacht übernommen und dem Eigenen eher übergestülpt als eingepasst wurde."

    Aber er fügt hinzu:

    "Im russischen Selbstverständnis gilt das Nehmen, das Nachahmen als eine Kunst, die einen besonders flexiblen, nämlich hingebungsvollen, anpassungsfähigen, integrationsbereiten Charakter voraussetzt - im Idealfall jene Mentalität, die Dostojewskij als ’Allmenschlichkeit’ belobigt hat. Allein diese typisch russische ’Allmenschlichkeit’, meinte er, wäre geeignet, unsere heillos zerfallene Welt noch einmal zu einen und ihr mit einem ’neuen Wort’ die Zukunft zu weisen."

    Wie sollte ein Fazit zu dem vorliegenden Buch lauten? Zunächst einmal: Es ist eine höchst anspruchsvolle Studie über Geschichte, Kultur und Weltbild der Russen, basierend auf russischen Quellen. Nun ließe sich allerdings auch auf einer solchen Grundlage allerlei Auf- oder Abwertendes - je nach Einstellung des Autors und seiner Auswahl von Zitaten - schreiben.

    Ingold aber ist kein Ideologe, sondern ein der Wahrhaftigkeit verpflichteter Wissenschaftler von hohen Graden. Er macht es sich nicht leicht und auch dem Leser nicht. Letzterer aber erhält zum Preis von Zeit und Muße das Vergnügen, ein großes Porträt der Russen betrachten zu können.

    Die Studie wird durch viele und sorgfältig ausgewählte Illustrationen ergänzt. Ein umfangreiches Verzeichnis russischer Quellen sowie ein Personen- und ein Ortsregister erschließen dem Leser den weiteren Zugang zu den ihn interessierenden Aspekten der Darstellung. Ein vorzügliches Buch.

    Felix Philipp Ingold: Russische Wege. Geschichte, Kultur, Weltbild
    Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 48,00 Euro