Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Aufbruch aus dem polnischen Plattenbauglück

Ein Wohnblock namens "Sandberg", der in den 60er-Jahren im niederschlesischen Walbrzych errichtet wurde, ist der zentrale Ort des Buches und die ungeliebte Heimat der Protagonistin Dominika. Sie ist Außenseiterin in der Schule und unglücklich in "Sandberg". Das ändert sich, als ein amerikanischer Historiker auftaucht.

Von Marie Luise Knott | 22.07.2011
    "Sandberg" ist ein Provinzroman von Weltniveau, angesiedelt in der niederschlesischen Kohlestadt Wabrzych. Joanna Bator lässt hier, in einer Plattenbausiedlung auf dem früheren "Sandberg", verschiedene Fäden der jüngeren polnischen Geschichte zusammenlaufen: die Zwangsumsiedlungen der Ostpolen nach dem Potsdamer Abkommen von 1945, der schwelende Antisemitismus, die Verfolgung und Vernichtung der Juden, die Kollaboration mit den Nazis. Ein zentraler Faden ist der Bezug zu Deutschland, denn noch heute spürt man in Westpolen etwas von der Leere der Nachkriegszeit, die dort einen Namen hat: "poniemiecki" - "Nachdeutsch" wie Esther Kinsky dieses Phänomen übersetzt.

    "Es geht um das, was von den Deutschen hinterlassen, verlassen worden ist, als es zu dieser großen Umsiedlung kam. Dieses "Ponimiecki", dieses Nachdeutsch, hat natürlich eine besondere Wichtigkeit, weil es ganze Streifen in Polen gibt, die so von deutscher Besiedlung und deutscher Bevölkerung geprägt waren. Dieses Wort ist meiner Meinung nach zu einem Bestandteil eines bestimmten Diskurses geworden in den 1980er Jahren mit Stefan Chwins Essay" Hitlers Gärten". Also Stefan Chwin ist in Oliva bei Danzig aufgewachsen und setzt sich in dieser Art Erinnerung mit der deutschen Ästhetik auseinander, mit der er als Kind an diesem Ort konfrontiert ist, mit einer bestimmten Art, Details zu gestalten, die einfach nicht polnisch war. Sie beschäftigt sich sehr stark damit: Was finden diese Leute vor, dieses Mythische des Nachdeutschen Deutschen, diese Schätze, die vermutet werden. "

    In die leer stehenden "Fritzenwohnungen", wie sie in Kinskys erfinderischem Deutsch heißen, wurden die zwangsumgesiedelten Ostpolen einquartiert. Und sie buddelten tatsächlich nach zurückgelassenen Schätzen. Ab den 50rer-Jahren dominiert die Sehnsucht nach "drüben: Die einen, die Zwangsumgesiedelten, sehnen sich nach ihrer alten Heimat im Osten, die anderen sehnen sich nach dem goldenen Westen, vor allem nach der Bee R De. Je länger sie jedoch in Wabrzych bleiben, desto stärker wird der Wunsch, es dort zu etwas zu bringen und "sich zu vermehren", wie es im Roman heißt --- in der Hoffnung, ihre Kinder würden mit den Wurzeln geboren, die man ihnen selbst abgeschnitten hatte, und dann würden sie sich an ihren verwurzelten Kindern festhalten können und sich zu Hause fühlen können, nicht mehr wegzudenken und nicht mehr wegzukriegen.

    Um derartige Lebensentwürfe geht es in Bators Roman, der auch ein Familienroman ist. Die männliche Hauptfigur heiß Stefan Chmura. Er ist als Kind mit seinen Eltern aus dem Osten gekommen, hat es in der neuen sozialistischen Heimat zum Oberbergmann gebracht und zieht irgendwann im Laufe des Romans mit seiner Angetrauten Jadzia begeistert in eine der neu entstehenden Kleinwohnungen. - Er will Wurzeln schlagen. - Aus Dankbarkeit verehrt er die Partei und schuftet und schuftet. Irgendwann, als die erhoffte Anerkennung und Beförderung zum wiederholten Male ausbleibt, wird er stumm und verfällt dem Alkohol. Jeder der Neubewohner der "Platte" sucht ein ruhiges Leben, eine kleine Insel der Seligen. Das Selige, auf das man setzt, heißt mal Lottogewinn, mal westlicher Ehepartner. Der eine oder die andere versucht auch einen kleinen Privathandel mit Gott, doch der will sich nicht zeigen. Die harte Wirklichkeit aber heißt auch auf der Insel der Seligen: Arbeiten, Schlangestehen, Kücheschrubben, Kinderkriegen. Und überall herrschen die Ängste und Tabus aus der Kriegszeit weiter.

    Bei Joanna Bator legen sich vor allem die Frauen ins Zeug, egal wie das Leben ihnen mitspielt. Da ist Zofia, Jadzias Mutter, die im Krieg einen Juden versteckte, später von einem Nazi vergewaltigt wurde und ihre kurz nach dem Krieg geborene Tochter nicht lieben konnte, sich aber ihrer Enkelin unbelastet zuwenden kann. Dominika, die Dunkelhaarige, von der alle sagen, sie sehe aus wie ein "Zigeunerbalg" - Dominika ist die Hoffnung, in diesem Roman. Sie will sich nicht anpassen ans Plattenglück - und nicht an die scheinheilige Fassade des Sozialismus.

    20 Jahre nach 1989 gibt es heute überall in Osteuropa eine jüngere Generation von Schriftstellern, die sich der lange beschwiegenen Themen ihrer Gesellschaften annehmen und die Menschen so gelten lassen, wie sie sind. Letztes Jahr erschien in Deutschland der vielfach ausgezeichnete Roman "Fegefeuer" der estnisch-finnischen Autorin Sofi Oksanen. Darin versuchten Frauen, sich aktiv ein kleines Stückchen Glück aus der großen Geschichte zu schlagen - was nicht gelang, aber privat verheerende Folgen hatte. Die Menschen bei Joanna Bator sind passiver.

    Sie schlucken, um nicht zu ersticken,

    heißt es an einer Stelle. Aber auch Passivität kann Widerstand sein:

    Dominika und Dimitri spazieren am Rande des giftigen Wassers entlang und denken sich verschiedene Methoden aus, wie man der Spinnennixe beikommen könnte. Dimitri meint, am besten hätte man immer ein Taschenmesser oder eine Granate dabei, Dominika ist für Hinterlist, man müsse sich tot stellen. Die Augen schließen, den Atem anhalten, daliegen wie eine Leiche.

    Bator erzeugt mit ihrem weit ausholenden erzählerischen Gestus und den liebevoll ausgeschmückten Details einen starken Sog, dem man sich gern hingibt, nicht zuletzt, weil Ironie und Lakonie immer dafür sorgen, dass kein falsches Pathos aufkommt. Im Leser breitet sich unter der Hand die Gewissheit aus, dass Leben und Fantasie stärker sein können, als die realsoziale Wirklichkeit glauben macht, die den Einzelnen zurechtzustutzen versucht.

    Dass "Sandberg" kein Roman über ein verpfuschtes Leben vor historischem Hintergrund ist, liegt an Bators Kunst, ihren Menschen durch Sprach- und Bilderreichtum, aber auch durch Rhythmen und Klänge viel Raum und Innenraum zu geben und den Sehnsüchten jedes Einzelnen eine je eigene Stimme zu verleihen. Als Jadzia an Heiligabend - wann sonst? - vorzeitig Geburtswehen hat, liegt draußen hüfthoch der Schnee, und niemand hat ein Auto oder ein Telefon. Also machen sie sich auf - "Selbdritt", wie es heißt: die Schwangere Jadzia, der zukünftige Vater Stefan und dessen Mutter Halina.

    Halina hämmert an die Türe des Heißmangelbesitzers Zenon Kowalski, der einen Warszawa fährt, doch Pech gehabt, er hat kein Benzin, ist betrunken, würde helfen, wenn sich nicht alles so gegen ihn verschworen hätte. Ein Schlitten! Ein alter Holzschlitten lehnt an einer Wand, vielleicht werden gute Menschen ihn ausleihen, damit sie ihre süße Last, ihre Jadzia, so halb beschuht und gesegneten Leibes durch den Schnee ziehen können.

    Mit Halina und Stefan im Geschirr und Jadzia rittlings drauf sitzend sausen sie susani susani durch Szaawienko, kommen in Schwung, dass die Funken unter den Kufen stieben, sie steigen in die Lüfte, stoßen Eiszapfen von den Dächern, fliegen über Hochspannungsdrähte, die vor Kälte wie Hunde knurren,. .. In einer Telefonzelle schimmert eine Urinpfütze, und Stille Nacht herrscht im Hörer, der an einem aufgeschlitzten Metallstängel schaukelt.


    So geschwind und genau montiert Bator Elend und Traumbild.

    Biografie, das erfährt man in diesem Buch - ist das Erfinden von Wurzeln, das Ausdenken von Zusammenhängen. Der Fluss der Sprache, ja: Die Woge, von der man mitgerissen wird, entsteht bei Bator daraus, dass sie die Worte und die Sätze so weit wie möglich aufspannt und anreichert und ihr Reservoir an katholischen Bildern und Riten, polnischen Mythen und Liedern, an Fragmenten aus Kinderversen, Märchen und Sagen derart hineinverwebt, dass die Erzählung an manchen Stellen magisch realistische Züge annimmt.
    Die Übersetzerin Esther Kinsky hat sich auf den Rhythmus eingelassen und diese Bilder nicht immer Wort für Wort übersetzt, sondern übertragen. Immer wieder habe sie beim Übersetzen in sich selber hineingehört und hineingefragt: Wie finde ich in mir die Mittel, an dem bestehenden Werk entlangzuarbeiten. Wie finde ich im Deutschen ein äquivalentes Textgewebe, eine Melodie, einen Fluss, der dem Original nahekommt? Der die Fremde mittransportiert, und doch im Deutschen ankommt. Das sei der besondere Mut gewesen, den sie als Übersetzerin in diesem Buch habe aufbringen müssen, sagt sie. Denn Bators narrative Dynamik ist in der polnischen Literatur einmalig.

    "Das geht ja über ganz viele Schichten aus Märchen aus Lyrik aus Liedern und Kinderliedern, und das muss man natürlich mit diesem vergleichbaren Bestand aus dem Deutschen ausstatten. Anders geht es ja gar nicht. Diese Texte haben so einen Fluss und so einen in sich geschlossenen Rhythmus, wenn man da jetzt das Polnische übersetzen würde, ohne eine Entsprechung im Deutschen zu finden, was natürlich einerseits auch ein legitimes Vorgehen wäre, dann würde der Leser stocken. Dann wäre diese Melodie unterbrochen. Insofern muss man auf das zurückgreifen, was es im Deutschen an Wortbestand aus Märchen, Lied und Kinderreimen gibt."

    Es geht ja darum, dieses Kunstwerk irgendwie zu erhalten, das zu einem großen Teil auf dem Rhythmus und auf der Melodie beruht.
    1. :
    Esther Kinsky, die selbst auch Schriftstellerin ist, hat zuletzt im Mai den angesehenen Karl-Dedecius-Preis für Übersetzungen aus dem Polnischen erhalten. Mut und Bescheidenheit gehören, so sagt sie zu den zentralen Tugenden beim Übersetzen. Vom Mut war schon die Rede. Bescheidenheit besteht für sie darin,

    "dass man auch da dem Text treu bleibt, wo man selbst nicht treu bleiben würde."

    Joanna Bator: Sandberg, Suhrkamp Verlag, aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Suhrkamp Verlag, 2011, 480 Seiten, 26,90 Euro