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Aufbruch im Zwielicht

Sigurjón B. Sigurdsson, kurz Sjón, gilt als einer der innovativsten Autoren Islands. Er schreibt unter anderem Texte für die Pop-Diva Björk. In seinem jüngsten Roman entführt Sjón seine Leser ins düstere 17. Jahrhundert

Von Annette Brüggemann | 03.06.2011
    Ich war noch ein gutes Stück entfernt, da spürte ich bereits, dass im Himmelreich nicht alles so war, wie es sein sollte. Kein Wachposten stand am Tor, kein "Ho, wer da?" klang von den Palisaden herab, kein Stimmengewirr aus dem Festsaal, kein heimliches Stelldichein im Hinterhof. Stattdessen vernahm mein geschultes Jägerohr das leise Schaben zitternder Flügel und jenes dumpfe Seufzen, das nicht aus der Kehle herausfindet. Die Ophanim hatten ihre langen Gewänder von sich geworfen, kauerten auf Knien vor dem Thron, die Stirn auf die kalten Stufen gepresst, und ließen die Knute über ihre glühenden Schultern fegen. Meine jüngsten Brüder irrten ziellos wie Kleinkinder im Saal umher und krähten unablässig den Namen ihres Vaters. Über dem ganzen Schauspiel lag das Heulen der blanken Verzweiflung, das sich bis in die feinsten Daunen der Flugfedern ausbreitete, so dass der Wind mit schrillem Pfeifen hindurchfuhr, wie wenn Kinder auf einem Grashalm blasen; der Laut, der sämtliche Palastmauern erschüttert hatte und mir nun am Eingangstor entgegenschlug - der aufrichtige Klageruf der Engel: "Er ist tot!" Ich sah zu meinem Vater hinüber, der behaglich in seinem Thronsessel lehnte. Dort in seiner Hand lagst du, die Knie bis unters Kinn gezogen. "Schau her, Luzifer, der Mensch. Nun sollst auch du dich wie alle anderen vor ihm verneigen und ihm deine Ehre erweisen."

    Im bebenden, in Aufruhr geratenen Reich der Engel beginnt Sjóns Roman. Der Mensch ist geboren. Gott ist tot. Luzifer blickt dem Niedergang der himmlischen Ordnung ohne Wohlwollen ins Auge und stürzt dafür hinab in die Verbannung.

    Im Original heißt Sjóns Roman "Rökkurbysnir" - ein Wort aus dem 17. Jahrhundert, das ein ungeheuerliches Phänomen in der Dämmerung beschreibt. Sjón entführt uns in dieses düstere Jahrhundert, in der ein Weltbild ins Wanken gerät. Es ist das Zeitalter der Reformation, die in Island radikal umgesetzt wird. Alle Klöster werden geschlossen. Ein immenser Kulturverfall ist die Folge. Das Land ist in dänischer Kolonialherrschaft, gekennzeichnet von Naturkatastrophen, Pest und bitterer Armut. Jón Gudmundsson ist einer der wenigen Figuren, die diese dunkle Epoche erleuchtet haben und er hat etwas gemeinsam mit Luzifer. Auch er wird verbannt - auf eine kleine, harsche Insel in den Ostfjorden. Dort betreibt er Naturforschungen, deren Intensität sich in der Einsamkeit bis zur Mystik steigert. Alles ist für Jón Gudmundsson mit allem verbunden. Das Kleine findet sich im Großen und umgekehrt, ist wundersames Räderwerk der Schöpfung. Paracelsus - Arzt, Alchemist, Astrologe und Mystiker - ist sein Vorbild.

    Jón Gudmundssons Schriften sind die einzigen, die aus dieser Zeit überliefert sind - neben der Entdeckung eines verschollenen Manuskripts, das als "Lieder-Edda" in die Literaturgeschichte eingehen wird. Und Jón Gudmundsson ist sehr produktiv. Er schreibt als Hexerei verpönte "Bann-Gedichte" gegen verstorbene Geister und Wiedergänger. Einen kritischen Kommentar zur "Edda" von Snorri Sturluson, in dem er seine ureigene Auffassung von Poesie erläutert. Er bezieht in Gedichten politisch Stellung zu blutigen Kämpfen an der isländischen Nordwestküste, bei denen baskische Walfänger von einer Bürgermiliz brutal ermordet werden. Auch entsteht ein außergewöhnliches Naturkundebuch über die verschiedenen Naturen Islands. Und ein episches Gedicht über sein Leben, das er einem Vogel widmet, dem Jón Gudmundsson sich in besonderer Weise verbunden fühlt. In Sjóns Roman wird Jón Gumdundsson zur literarischen Figur Jónas Pálmason und der Vogel zum flinken Meerstrandläufer:

    Ich kann mir wahrlich Schlimmeres denken als den Vergleich mit dir, kleiner Vogel, schließlich entstammen wir beide derselben Werkstatt und sind aus dem gleichen Holz geschnitzt: Du am vierten Tag, und ich am sechsten... Was, wenn es umgekehrt wäre? Dann hätte ich als einer von euch, ihr Luftreisenden, die Weltbühne betreten, und dich hätte man zur Krone der Schöpfung ernannt... Dann säße ein Vogel hier auf diesem Stein und beobachtete nachdenklich den törichten Kerl, der wie aufgescheucht da draußen in der Brandung herumstakst, weil er befürchtet, das Meer werde, habe es sich einmal vom Land entfernt, nie mehr zurückkehren... Mensch und Vogel, Mensch mit Vogelherz, Vogel mit Menschenhirn, der Vogel mit dem Menschenherz und der Mensch mit dem Vogelverstand... wir gleichen uns in so vielen Punkten... und warum auch nicht?

    Staunend lauschen wir dem "In-der-Welt-Sein" Jónas Pálmasons. Sjón hat einen poetischen "Bewusstseinsstrom" geschaffen, der dank der Übersetzung von Betty Wahl auch im Deutschen etwas Musikalisches und Federndes bekommt. Spürbar ist, wie dicht Sjón dem alten Forschergeist Jón Gudmundsson in seinen Recherchen gefolgt ist. Er hat dem in Vergessenheit geratenen Gelehrten eine neue Stimme verliehen. Wie durch eine klare Glasscheibe blicken wir zurück ins 17. Jahrhundert: Wir sehen das Leid, das Jón alias Jónas erfährt, der Frau und Kinder - abgesehen von einem Sohn - zu Lebzeiten in Hunger und Armut verliert. Und wir erfahren, welch kritischer Rebell am Werk ist, der weder Gefahren noch Mühen scheut.

    Sjón setzt eine alte isländische Literaturtradition fort: die des Geschichten-Erzählens. Gleichzeitig verknüpft er sie mit modernen, surrealistischen Techniken. Er webt ein dichtes Netz aus historischen Quellen, biblischen Zitaten und Mythen. Zum Schluss treffen, in einem träumerischen Vexierspiel, der wahre Pate des Romans und dessen fiktiver Doppelgänger Jónas aufeinander:

    Als Jón der Gelehrte schlief - oder vielmehr nicht bei Sinnen war - sah er im Traum einen Mann auf sich zukommen, in einem Mantel aus steingrauem, grobem Tuch und einer grauen gesprenkelten Schirmmütze aus gleichem Stoff. Unter dem Schirm blitzten seine Augen, glänzend und braun, umringt von Gefieder. Der Mann beugte sich zu Jón herab, legte ihm seinen dicken, kräftigen Schnabel ans Ohr und raunte leise: "Wenn du aufwachst, wirst du deinen Namen vergessen haben und nichts anderes mehr wissen, als dass du Jónas Pálmason heißt." Jón erschien der Traum absurd, denn genauso heißt er ja: Jónas Pálmason - meist mit dem Zusatz "der Gelehrte", manchmal auch "der Maler", seltener "der Zahnschnitzer". Jónas der Gelehrte unternimmt einen zweiten Versuch, auf die Füße zu kommen, diesmal gelingt es. Er hält sich mühsam aufrecht, stakst breitbeinig über den schlüpfrigen Untergrund.

    Wie der biblische Jonas wird Jónas Pálmason in Sjóns Roman am Ende vom Wal verschlungen und geläutert wider an Land gespien. Als Verstoßener seiner Zeit landet er auf dem festen Grund eigener Erkenntnis. Sein wahrer Pate Jón Gudmundsson hat mit der Reformation einen der größten gesellschaftlichen Umbrüche auf Island erlebt.
    Als Sjón den Roman 2006 schreibt, steht ein weiteres Weltbild vor dem Zusammenbruch. Das Buch ist im Druck, als 2008 die drei großen Banken des Landes kollabieren und sich der Turbokapitalismus als fataler Irrtum erweist. Und so ist wieder einmal ein Roman Sjóns, wie sein preisgekrönter Vorgänger "Skugga-Baldur" - "Schattenfuchs", zu einer Parabel geworden für dringende gesellschaftliche Fragen unserer Zeit. Durch das Gleißen der Nacht raunen uns Sjóns Zeilen zu: aufklärerische Gemüter wie Jón Gudmundsson braucht es mehr denn je.

    Sjón: "Das Gleißen der Nacht". Roman. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. S.Fischer Verlag, 256 Seiten, 18,95 Euro.