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Aufdeckung eines Geheimnisses

Philippe Grimbert beschreibt in seinem Roman "Ein Geheimnis" die Langzeitwirkungen der Judenverfolgung im Dritten Reich. Der Ich-Erzähler sei er selbst, sagt Grimbert. Und doch steht nicht "Autobiographie" unter dem Titel, sondern "Roman" - schon deshalb, weil sich der Erzähler als heranwachsender Junge das Geschehen zusammenreimen musste.

Von Christoph Vormweg | 03.11.2006
    Der Ich-Erzähler, das sei er, sagte Philippe Grimbert während unseres Gesprächs unumwunden. Und doch steht nicht "Autobiographie" unter dem Titel, sondern "Roman". Schon deshalb, weil sich der Ich-Erzähler als heranwachsender Junge immer alles zusammenreimen musste. Es gab eine offizielle Version, wie seine Eltern die Zeit während der deutschen Besatzungsherrschaft von 1940 bis 44 irgendwo in der französischen Provinz als frisch verliebtes Paar verbrachten. Und eine inoffizielle: ihr lang gehütetes Geheimnis. Es zu lüften, ist für den Erzähler eine mühsame Puzzelarbeit aus Einfühlung, Imagination und Recherche. Und da ein zentraler Handlungsstrang in den Gaskammern von Auschwitz endet, stand Philippe Grimbert vor einem stilistischen Problem:

    " Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, war die erste Frage: Wie diese Geschichte erzählen und die beiden größten Hindernisse meiden: zu viel Pathos, zu viel Gefühl, zu viel Erschütterung - und auf der anderen Seite: zu viel Kälte, zu viel Distanz. Es galt wirklich, zwischen diesen Klippen zu navigieren und beide zu meiden. "

    Erst mit Mitte fünfzig hat sich Philippe Grimbert an den Stoff seines Lebens gewagt. Da lagen bereits zwanzig Jahre Trauerarbeit hinter ihm: wegen des gemeinsamen Selbstmords seiner Eltern.

    " Es ging für mich darum, Schritt für Schritt dem Weg eines Geheimnisses zu folgen. Das war für mich als Psychoanalytiker natürlich interessant zu sehen: wie ein Geheimnis auf einem Kind lasten kann; wie es dadurch erdrückt, ja physisch geschwächt wird; und wie es dann - nach seiner Enthüllung - Herr über dieses Geheimnis wird, dessen Opfer es war; wie sich das auf Körper und Psyche auswirkt; wie es seine Eltern, die es für sich behalten hatten, von ihm erlösen kann; und schließlich in einer letzten Wendung, wie das Geheimnis das Kind stärker macht, wie es ihm sogar den Weg öffnet zu seiner professionellen Berufung: der Psychoanalyse. Es ist dieser Weg, diese mehrfache Kehrtwendung des Geheimnisses, die mich vor allem interessiert hat. Die Hauptfigur des Buches ist eigentlich dieses Geheimnis. "

    Philippe Grimbert beschreibt seine packende, oft anrührende Geschichte in einer klaren, eingängigen Prosa, die viel Gespür für die Nuancen und Widersprüche des Seelenlebens verrät. Zur Aufdeckung des Geheimnisses reichen Indizien wie die fehlende Vorhaut allerdings allein nicht aus. Denn die sportbegeisterten Eltern lassen sich so wenig in die Karten schauen wie die Verwandten. Zur Schlüsselfigur und Vertrauten wird Louise, die nebenan wohnende Masseuse mit dem Klumpfuß. Von ihr erfährt der Erzähler im Alter von 15 Jahren, was er immer schon geahnt, was jahrelang seine Phantasien bestimmt hatte: Er war kein Einzelkind, er hatte wirklich einen Bruder gehabt, mehr noch: einen Vorzeigebruder, der ganze Stolz seines Vaters - nicht so ein Schwächling wie er selbst.

    " Auch wenn Louise - anderes als die anderen - eine zum Teil erfundene, erdachte Figur ist, eine Kondensierung mehrer Personen, die wirklich gelebt haben, stellt sich die Frage in der Tat: Was wäre passiert, wenn dieses Geheimnis nie ausgesprochen worden wäre? Im Ansatz habe ich da eine Antwort. Es gibt eine Szene im Buch, wo sich der Erzähler mit einem Klassenkameraden prügelt, während ein schrecklicher Film über die Konzentrationslager gezeigt wird. Junge Leute reagieren auf solche Dokumente ganz unterschiedlich: Sie sind bestürzt, sie verstummen oder sie machen - wie der Banknachbar des Erzählers - geschmacklose Witze. Und zunächst lacht der Erzähler auch mit dem Banknachbarn. Denn es ist das erste Mal, dass einer der Klassenstärksten sein Einverständnis sucht. Und der Erzähler, also ich: ich lache mit ihm. Aber mit einem Mal wendet sich das Blatt. Dieses Lachen erscheint mir plötzlich unerträglich, und ich schlage auf ihn ein. Heute sage ich mir: Wäre mir das Geheimnis im Anschluss daran nicht eröffnet worden, wäre ich vielleicht immer der geblieben, der mit dem Banknachbarn lacht. "

    Philippe Grimbert beschreibt in seinem Roman "Ein Geheimnis" die Langzeitwirkungen der Judenverfolgung im Dritten Reich. Denn "das Vernichtungswerk", heißt es an einer Stelle, "setzte sich im verborgenen fort". Die Überlebenden, so die Eltern des Erzählers, übertrugen ungewollt ihre psychischen Nöte auf ihre nachgeborenen Kinder.

    Grimberts Darstellung ist dabei nie grell oder effektheischend. Im Gegenteil: es ist die Darstellung der für Außenstehende nicht wahrnehmbaren Verstörungssymptome und Wahnvorstellungen, die den Roman so spannungsreich machen. Den tragischen Plot an dieser Stelle vorwegzunehmen, wäre unangemessen. Nur so viel: der Bruder des Erzählers war nur sein Halbbruder.

    " Ich habe keine Leidenschaft für den psychologischen Roman, noch weniger für den psychoanalytischen. Ich wollte meine persönliche Lösung finden, um die Psychoanalyse mit der Literatur zu verknüpfen, mit der Geschichte, mit der Autobiographie. Ich finde, man muss sich der Psychoanalyse als einer Wissenschaft des Lebens bedienen. Sie ist nichts, was der Realität aufgedrückt wird. Die Psychoanalyse ist die Untersuchung des Tiefgründigsten, Zerbrechlichsten, Schmerzlichsten in uns: und das ist das Leben selbst, die menschliche Natur. Ich möchte mich auf literarischem Gebiet der Psychoanalyse bedienen, um das, was in der Literatur am Wertvollsten ist, von Grund auf zu erforschen: den Menschen in seiner Verletzlichkeit, den Feigling im Helden, den Helden im Feigling, Figuren, die immer gespalten sind, niemals ganz. Natürlich hoffe ich, dass die Psychoanalyse nicht zu präsent ist im Roman, nur gleichsam als Brille, die es gestattet, die Welt mit diesem freudianischen Blick zu sehen, den ich vom Wiener Meister geerbt habe. "

    Die Suche des jüdischen Nachgeborenen nach der eigenen, von den Eltern verschwiegenen Geschichte gibt Philippe Grimberts Roman "Ein Geheimnis" von der ersten Seite an seinen mitreißenden Sog. Kompliziert ist diese Suche schon deshalb, weil der Erzähler nicht alte Wunden aufreißen, nicht seine Eltern unnötig verletzen will. Auch hier besticht Grimbert durch die nuancierte Zeichnung der inneren Kämpfe, der beherrschten Wut, der nicht zu stillenden Sehnsucht nach einer nicht mehr möglichen Normalität. Die Tragik des Romans liegt darin, dass der Holocaust in den Familien der Opfer eigene Schuldverstrickungen in Gang gesetzt hat, die es ohne die Nazis nie gegeben hätte.

    Philippe Grimbert: Ein Geheimnis.
    Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006.
    155 Seiten, 17,80 Euro.