Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Aufgeben ist keine Alternative

Im zweiten Teil seiner Trilogie über Somalias Bürgerkrieg beschreibt der Autor Nuruddin Farah die Situation in einer Stadt, in der Warlords regieren. Er beschwört die Überlebenskraft in einer unerträglichen Situation und zeigt, dass man selbst unter den schlimmsten Verhältnissen Mitgefühl und Menschlichkeit bewahren kann.

Von Johannes Kaiser | 26.04.2010
    Der Schrecken ist groß, die Situation schwer erträglich. Die Beschreibungen klingen wie einer schlechten Horrorgeschichte entsprungen und doch sind sie nichts als die bittere, alltägliche Realität. Man kann ihr auf dem Papier nicht so leicht entkommen wie im Fernsehen, dessen Bilder flüchtig sind, kaum länger, als die Nachrichten dauern, im Gedächtnis haften bleiben. Bürgerkrieg in Somalia, Straßenkämpfe in Mogadishu, Willkürherrschaft unberechenbarer Warlords. Der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah hat dies alles bei einer mehrwöchigen Rückkehr persönlich miterlebt und Hunderte ähnlicher Geschichten vor Ort gehört. Es ist seine Heimat, die seit fast 20 Jahren in Flammen steht, in der er aufgewachsen und Schriftsteller geworden ist, in der seine Familie, seine Verwandten zum Teil immer noch leben und deren fortwährende Zerstörung er jetzt im zweiten Teil seiner Bürgerkriegstrilogie "Netze" mit eindringlichen Bildern dem Leser vor Augen führt.

    "Ich wusste, dass es die Geschichte eines Bürgerkriegs aus dem Blickwinkel der Frauen werden würde. Welche Auswirkungen hat ein Bürgerkrieg auf Frauen? Wie reagieren sie auf ihn? Was unternehmen sie gegen ihn? Wie weit helfen sie der gesamten Gesellschaft, aufrecht erhalten und nicht komplett zerstört zu werden. Das war der Ausgangspunkt."
    Zur Hauptfigur hat sich Nuruddin Farah eine nach Kanada ausgewanderte Somalierin gewählt, Cambara. Ihr Mann, ebenfalls Somalier, den sie aus Mitleid geheiratet hatte, um ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für Kanada zu verschaffen, hat sie gerade betrogen. Während eines Schäferstündchens mit einer seiner Kolleginnen ist der gemeinsame Sohn, um den er sich währenddessen eigentlich hätte kümmern sollen, im Swimmingpool ertrunken. Cambara ist rasend vor Zorn, verprügelt sogar ihren Mann. Sie will nur noch weg aus einer für sie unerträglichen Situation und beschließt, Kanada zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren, um dort das zurückgelassene Familienhaus wieder in Besitz zu nehmen. Ein wahnwitziger Wunsch. Schließlich herrschen dort Anarchie und Gesetzlosigkeit. Es erschließt sich erst langsam, warum sie sich mutwillig und ohne Not in Gefahr begibt.

    "Sie geht nach Somalia, um sich zu trainieren, sich stärker zu machen und das macht sie, weil sie glaubt, dass es in Kanada kein Leben mehr gibt, dass es wert wäre zu leben. Ihr Leben dort ist ruiniert. Sie kommt nach Mogadischu, um so stark zu werden, dass sie nach Kanada zurückkehren und sich dann mit Wardi, ihrem Mann, auseinandersetzen kann. In gewissem Sinne will sie Rache."
    Nuruddin Farahs Heldin ist allerdings weitgehend blind für die Gefahren, die sie unwissentlich eingeht, weil sie nicht weiß, wie man sich in einer Bürgerkriegssituation verhält. So fällt es ihr zum Beispiel als emanzipierter Frau, selbstbewusst, Männer eher verachtend, schwer zu akzeptieren, dass sie ohne Körperverhüllung und Schleier als Freiwild gilt. Zudem kann eine Frau ohne bewaffneten Begleitschutz in der halbzerstörten Stadt kaum einen Schritt allein wagen. An jeder Ecke drohen ihr Vergewaltigung und Tod. Wie sie rasch herausfindet, ist ihr Elternhaus von einem der Warlords besetzt. Doch sie denkt gar nicht daran, klein beizugeben.

    "Es gibt das Glück der Naivität. Ein Kind kann sich bei offenem Fenster auf das Fenstersims stellen, und weil das Kind ahnungslos ist, fällt es wahrscheinlich nicht raus. Cambara hat das Glück der Ahnungslosen. Sie ist in vielerlei Hinsicht nicht jemand, denn man besonders mögen muss. Ihre Absichten sind gut, aber sie ist nicht besonders sympathisch. Es gibt eine Menge Menschen, die die Risiken für sie übernehmen und die ihr helfen."

    Ein Frauennetzwerk hilft ihr. Deswegen trägt der Roman auch den Titel "Netze". Die Freundin ihrer besten Freundin aus Kanada hält eine schützende Hand über sie, besorgt ihr, was immer sie braucht und schaltet auch noch andere Frauen ein, sie zu unterstützen, organisiert ihr sogar bewaffneten Schutz. Das ist auch bitter nötig, denn:

    "Cambara steht einer Menge Schwierigkeiten gegenüber. Es sind zu viele. Es sind traditionelle Probleme: Eine Frau sollte dies oder jenes nicht machen, und dann persönliche Probleme. Sie ist aus einer schwierigen Situation abgehauen und hat sich dann selbst in eine schwierige Situation gebracht. Ihr wird von anderen geholfen, aber sie weiß nicht, wie man sich bedankt und zwar deswegen, weil auch sie von niemandem erwartet, dass er sich bei ihr bedankt. Es gibt diese Menschen, die andere die Arbeit für sich selbst machen lassen, die in einen Raum hineingehen und alles, was sie machen müssen, ist nur ihre Hand zu heben und schon kommen alle und fragen, was sie für einen tun können. Aber sie hilft wiederum auch anderen. Das ist die andere Seite."
    So nimmt Cambara zwei Waisenknaben unter ihre Fittiche, verstörte jugendliche Opfer des Bürgerkrieges, die sie an ihren toten Sohn erinnern. Sie versucht, ihnen eine neue Zukunft zu schaffen und das schafft sie auch, indem sie die Hilfsbereitschaft des Frauennetzwerkes nutzt.

    Cambara geht es nicht darum, Macht für sich zu gewinnen. Sie hat nur ein Ziel: den Familiensitz wieder in Besitz zu nehmen. Wider alle Erwartung gelingt das ihr dank glücklicher Umstände, der Hilfe des Frauennetzwerkes und der tatkräftigen, waffenstarrenden Unterstützung einer kleinen Gruppe befreundeter Männer. Doch zuvor wird ihr noch manche Lektion im harten Überlebenskampf erteilt. Allerdings weiß sie sich durchaus auch körperlich zu wehren. So wie auch die anderen Frauen ist sie sich ihrer Stärke bewusst und nutzt sie. Die Männer im Roman, obwohl sie die Waffen in der Hand halten, sind erheblich schwächer. Das ist ein typisches Kennzeichen aller Romane Nuruddin Farahs.

    "Männer werden durch ihre Eltern verdorben. Als ich aufwuchs, wollte meine Mutter nicht, dass ich meine Kleidung wusch oder sie bügelte. Sie wollte nicht, dass ich in die Küche kam, um zu kochen. Warum? Sie hätte geantwortet, dass - so will es die Tradition - meine Schwestern die ganze Schmutzarbeit machen. Von mir wurde erwartet, dass ich saubere Hände behielt und alle Zeit der Welt hatte, Gutes zu tun. Stellen Sie sich vor, ein Mann ganz auf sich gestellt im Haus, die Frau ist krank, die Kinder sind krank. Weil er niemals gelernt hat zu kochen, weil er niemals gelernt hat, seine Kleider zu bügeln, weil er niemals gelernt hat, einen Nagel in die Wand einzuschlagen - erkennen Sie, wie hilflos so ein Mensch ist? Für mein Volk gilt: Männer sind keine vollständigen Wesen. Da fehlt etwas. Was fehlt ihnen? Bescheidenheit. Für jemanden, der noch nicht einmal weiß, wie man für sich selbst kocht, gibt es keinen verdammten Grund, sich großartig zu fühlen. Der Grund, warum Männer nicht stark sind, ist die Tatsache, dass sie unvollständig sind."
    Der Roman lässt daran keinen Zweifel. Keiner der Männer, denen Cambara begegnet, kann mit ihrer Energie, ihrem Selbstbehauptungswillen mithalten. Sie schafft es, alle anderen mitzureißen und von ihren Plänen zu überzeugen. Ein Theaterstück will sie in der wiedereroberten Familienvilla aufführen: ein Triumph der Kunst über die Trostlosigkeit des Bürgerkriegs und über die rigiden Moralvorschriften der Islamisten. Das klingt angesichts der verzweifelten Bürgerkriegssituation wie ein Märchen.

    "In der lateinamerikanischen Literatur und im Konzept des magischen Realismus gibt es die Vorstellung, wenn das tägliche Leben die Hölle ist, dann muss sich der Autor einen Himmel erträumen. Anders ausgedrückt: Wenn es sehr, sehr schwer ist, ein Brot zu bekommen, weil es zum Beispiel in einer Kriegssituation fünf oder zehn Euro kostet, man aber keine Möglichkeit hat, das Geld dafür zusammen zu bekommen, dann muss einem der Autor die Chance geben, in einer Lotterie zu gewinnen. Das kann passieren. Der Roman wird zu einer Art Märchen, weil sich eine Menge verschiedener Menschen in diese besondere Situation einbringen. Es mag also wie ein Märchen klingen, aber es kann tatsächlich geschehen, weil das Unmögliche geschieht und sie wissen, wenn das Unmögliche geschieht, dann nennen wir das ein Wunder. Und Wunder geschehen."

    Nuruddin Farahs Roman ist solch ein Wunder. Er beschwört die Überlebenskraft in einer unerträglichen Situation, verkündet, dass man selbst unter den schlimmsten Verhältnissen Mitgefühl und Menschlichkeit bewahren kann. Hoffnung triumphiert über Mutlosigkeit. Aufgeben ist keine Alternative. Ein Netz gegenseitiger Hilfe bewahrt vor dem Sturz und macht stark.

    Der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah über seinen Roman 'Netze'
    Übers. Reinhild und Gunter Böhnke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009, 484 Seiten, 28,80 Euro.