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Aufhebung des Frauen-Fahrverbots in Saudi-Arabien
"Die Frauen sind die Gewinner der Krise"

Die Aufhebung des Auto-Fahrverbots für Frauen in Saudi-Arabien ist nach Ansicht der Regisseurin Carmen Butta kein Zeichen für liberale Zeiten, sondern eine wirtschaftlich bedingte Notwendigkeit. Sie habe aber den Effekt, dass die Frauen nun endlich arbeiten gehen könnten - dadurch würden sie freier, sagte Butta im Dlf.

Carmen Butta im Gespräch mit Dina Netz | 27.09.2017
    Eine saudische Frau sitzt hinter dem Lenkrad eines Autos in Riad, Saudi-Arabien am 28. Oktober 2013. Am 27. Oktober hatten Behörden 14 Frauen verhaftet, die in Saudi-Arabien Auto gefahren waren
    Frauen dürfen künftig in Saudi-Arabien Auto fahren. Ein entsprechendes Dekret des saudischen Königs soll ab kommenden Juni gelten (EPA/ DPA/ Str)
    Dina Netz: Frauen in Saudi-Arabien leben zum Teil deutlich anders, als wir uns das in unseren Klischees oft vorstellen. Es gibt weibliche Abgeordnete, Firmengründerinnen, erfolgreiche Journalistinnen. Unser Klischee über die Situation der Frauen dort begründet sich wahrscheinlich mit der Abaya, dem vorgeschriebenen Ganzkörperschleier, und damit, dass es Frauen bisher verboten ist, Auto zu fahren. Saudi-Arabien ist das einzige Land der Welt mit Frauen-Fahrverbot. Wie wir heute erfahren, soll sich das ab nächstem Sommer ändern. Bedeutet das nun wirklich eine Zeitenwende für das Land, wie es heute so häufig heißt?
    - Darüber möchte ich mit Carmen Butta sprechen. Sie hat mehrere der eingangs erwähnten selbstbewussten Frauen in Saudi-Arabien begleitet und über sie den Dokumentarfilm "Die heimliche Revolution" gedreht, der im Januar im deutschen Fernsehen lief. Ich habe Carmen Butta gefragt: Was denken Sie: Kann man die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen überhaupt als Symbol für fortschreitende Gleichberechtigung interpretieren? Oder wird es den Saudis vielleicht schlicht zu teuer, ihre Kinder jeden Tag vom Chauffeur in die Schule bringen zu lassen?
    Carmen Butta: Ich glaube, dass die Aufhebung vom Fahrverbot an sich überhaupt kein Zeichen dafür ist, dass jetzt plötzlich liberale Zeiten beginnen. Es ist eine Notwendigkeit, eine rein wirtschaftlich bedingte Notwendigkeit. Was aber sich tiefgreifend verändern wird ist, was automatisch mit der Aufhebung vom Fahrverbot verknüpft ist, und zwar die Möglichkeit für Frauen, besonders für Frauen, die nicht zur Oberschicht gehören, endlich zu arbeiten. Im Moment sind es nur 15 Prozent der Frauen und viele scheitern genau daran. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel und sie können sich einen Fahrer nicht leisten. Die Frauen vor Ort haben immer wieder betont, wie dieses banale tägliche Problem, wie sie zur Arbeit kommen, sie scheitern lässt.
    Netz: Die Aufhebung des Fahrverbots ist jetzt so ein Symbol für größere Frauenrechte. Klar, auch wenn Sie sagen, das hat eher auf den Alltag Einfluss, als dass es wirklich eine große politische Dimension hat. Aber vielleicht schildern Sie uns noch etwas allgemeiner die Situation von Frauen in Saudi-Arabien. Die werden ja im Moment nicht nur durch den Straßenverkehr gehindert.
    Männliche Vormundschaft weiterhin das größte Problem
    Butta: Das grundsätzliche Problem ist, dass weiterhin die Vormundschaft gilt, dass zum Beispiel die Chefredakteurin der wichtigsten englischsprachigen Tageszeitung mir sagt, die ich getroffen habe: "Absurd! Ich wollte in Ägypten, als der Frühling ausbrach, in Kairo berichten und mein Mann wollte mir das verbieten." Diese Degradierung zum rechtlichen Stand eines Kindes, das war so entwürdigend und so verletzend. Das, was die Frauen richtig in ihrem Alltag, in ihren Entscheidungen trifft, ist die Vormundschaft.
    Netz: Das müssen wir noch mal kurz erklären. Das bedeutet, dass ein männlicher Familienangehöriger die wesentlichen Entscheidungen fällen kann.
    Butta: In allen wichtigen Bereichen: Studium, Arbeit, sogar Arztbesuch. Der Ehemann, der Vater, der Bruder, sogar der Sohn. Es gibt absurde Fälle von Frauen, die von ihren Söhnen herumkommandiert werden und sogar erpresst werden. Es gibt auch einen Missbrauch. Das ist, was sie wirklich im Alltag noch enorm einschränkt. Das ist das Wesentliche. Natürlich die Geschlechtertrennung ist ein großes Problem und natürlich das Fahrverbot, aber das sind die auffälligsten Erscheinungen. Was sie richtig beschäftigt und das durchgehend in allen Schichten ist die Vormundschaft. Das ist die eigentliche Einschränkung. Sie fragten, wie es im Alltag ist. Es passiert im Moment sehr viel. Der Titel des Films war "Die stille Revolution", was vielleicht ein großes Wort ist. Es ist ein leiser Prozess der inneren Veränderung, der Reform durch die neue Generation, die zwei Drittel der Bevölkerung ausmacht. Und ich habe Situationen erlebt, die in dieser Grauzone unterhalb des Radars des Systems existieren und immer breiter werden, die man sich hier nicht vorstellen könnte, mit Musik, mit gewagten Ausstellungen. Mehr und mehr nehmen sich junge ausgebildete Frauen Freiheiten im Privaten. Allerdings betrifft das natürlich noch mehr die urbane obere Schicht.
    Netz: Frau Butta, Sie haben eingangs gesagt, dass Sie vermuten, dass diese Aufhebung des Fahrverbots weniger damit zu tun hat, dass das Land sich jetzt öffnet, liberaler wird, auch den Frauen gegenüber, sondern einfach schlicht mit ökonomischen Notwendigkeiten zu tun hat. Und wirtschaftliche Interessen spielen ja auch in andere Bereiche der Frauenrechte hinein. Wenn eine Frau arbeitet, bringt sie ja auch Geld in die Familie. Spielt die Tatsache, dass Saudi-Arabien ökonomisch nicht mehr so gut dasteht seit einiger Zeit, den Frauen in die Hände?
    "Die Frauen sind die Gewinner dieser Krise"
    Butta: Die Frauen sind die Gewinner dieser Krise, dass die Monarchie nicht ewig von den Ölreserven leben wird und dass der Ölpreis fällt. Wie die Juristin Sofana Dalahn gesagt hat: Alle klagen über den fallenden Ölpreis, alle klagen darüber, dass es bald nicht mehr Strom- und Wasserversorgung umsonst geben wird. Dass wir eine Einkommenssteuer bezahlen werden, dass es nicht mehr so hohe Gehälter für so viele Beamte geben wird. Alle klagen darüber; ich dagegen freue mich, ich freue mich, dass diese Krise, dass diese Veränderung, dass das Ende des Luxus die Monarchie zwingen wird, gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten.
    Netz: Das wäre jetzt meine Frage, Frau Butta. Heute ist oft bei den Kommentatoren von einer Zeitenwende in Saudi-Arabien zu sehen. Klar: Dieses Aufheben des Fahrverbots, das ist ein Symbol, Saudi-Arabien war das einzige Land auf der Welt mit dem Frauen-Fahrverbot. Glauben Sie auch, dass es sich da jetzt um eine Zeitenwende handelt, dass da jetzt andere Umbrüche folgen werden?
    Butta: Automatisch, indem mehr Frauen arbeiten werden, sicher wird sich einiges ändern. Noch sind sie weit entfernt von realer politischer Macht. Sie konnten sogar kandidieren vor anderthalb Jahren bei den Kommunalwahlen, aber faktisch haben sie kaum politische Macht. Das ist noch ziemlich weit entfernt. Aber im Privaten werden sie auf jeden Fall freier. Die Tatsache, dass sie Geld verdienen werden, dass sie nach außen gehen, dass sie immer mehr Kontakt mit anderen Männern bei der Arbeit haben werden. Und dadurch, dass ihr Selbstbewusstsein automatisch sie stärken wird, wird sich einiges ändern. Ich war in einer Frauenfabrik, einer Fabrik, wo die Managerin und alle Arbeiterinnen Frauen sind. Und habe mit einer Arbeiterin gesprochen. Die sagte, plötzlich gehe ich jetzt am Spätnachmittag aus, natürlich vor sechs Uhr nachmittags, und treffe mich plötzlich mit anderen Gleichaltrigen, was ich vorher nicht tun konnte, weil ich völlig von meinen Eltern abhängig war. Das sagte mir eine Arbeiterin.
    Automatisch wird sich ihr Status ändern. Sie werden nicht plötzlich geschätzt, ihr Geld wird gebraucht. Und es sind viele und viele gut ausgebildete Frauen.
    Netz: Trotzdem kann man ja hoffen, dass sich durch so eine faktische Aufwertung der Frauen und ihrer Arbeit natürlich auch in der Gesellschaft etwas ändert, oder?
    "Standing wird sich ändern, indem sie arbeiten"
    Butta: Ja, das meine ich, dass ihr Standing, ihre Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung der Männer sich dadurch etwas ändern wird, indem sie arbeiten. Das sehe ich eng verknüpft mit dieser Aufhebung vom Fahrverbot, was natürlich einen symbolischen Wert hat und per se etwas Positives ist. Aber ich sehe die große Veränderung durch diesen Einzug in die Arbeitswelt. Alle Protagonistinnen durchgehend haben immer wieder das betont: die Arbeit. Die Arbeit ist das, was unsere Realität verändern wird. Interessant ist auch bei dieser Aufhebung, die noch von den religiösen Fundamentalisten kritisiert worden war - es ist gar nicht so lange her, dass eine Frau plötzlich unter Hausarrest stand, weil sie gewagt hatte, zu fahren -, die Tatsache, dass es durchgesetzt wurde, auch mit allen Einschränkungen, lässt man feststellt, dass das Regime die religiösen Fundamentalisten im Griff hat, und es ist nicht umgekehrt. Sie sprechen, wenn es passt, und ansonsten müssen sie verstummen, und das lässt hoffen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.