Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur

Auf die Frage, was er in erster Linie von den Deutschen erwarte, antwortete ein ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter: "Geld?, ja, das verlangen wir auch, aber vor allem eins: Aufmerksamkeit." Und auf die Frage an einen mit Wahrnehmungsstörungen vertrauten Arzt, worin die größte Schwierigkeit seiner Patienten bestehe, antwortete er, dass sie die Aufmerksamkeit nicht von ihrer Fixierung auf ein Symptom oder auch Phantom ablenken könnten. Wir haben es hier mit zwei sehr markanten Formen der Aufmerksamkeit zu tun - eine, die um die Menschenwürde, und eine, die um Krankheit und Pathologie kreist -, die in der voluminösen Studie des amerikanischen Kunstgeschichtlers Jonathan Crary keine Rolle spielen. Es sind auch nicht die feinen Vernetzungen zwischen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit etwa in der traditionellen asiatischen Grundhaltung, die Gegenstand seiner Untersuchung sind.

Hans-Jürgen Heinrichs | 07.08.2002
    Von Interesse ist für mich, wie die westliche Moderne seit dem neunzehnten Jahrhundert von Individuen verlangt, sich im Sinne eines Vermögens der 'Aufmerksamkeit' zu definieren und zu formen - wie sie verlangt, sich aus einem umfassenden Feld visueller und akustischer Attraktionen zurückzuziehen und sich statt dessen auf eine begrenzte Anzahl isolierter Reize zu konzentrieren.

    Crary hat einen historischen Abriss der grundlegenden Wandlungen in unserer Wahrnehmung vom 19. zum 20. Jahrhundert geschrieben. Es ist eine Geschichte der modernen Zerstreuung. An die Stelle der traditionell breitgefächerten Aufmerksamkeit tritt die isolierte Aufmerksamkeit. Dies hat elementare Folgen für die menschliche Subjektivität und ihre Desintegration.

    Crarys Anliegen besteht darin zu zeigen, dass die moderne Zerstreuung kein linearer Vorgang ist. Vielmehr stehe er in engem Zusammenhang mit anderen Normen und Praktiken. Ihn interessieren die Überschneidungen zwischen der konzentrierten Aufmerksamkeit im neu sich formenden Gesellschaftsleben, etwa im Zeichen des Massenkonsums, und die Aufmerksamkeit, wie sie in den kreativen Prozessen der Kunst sichtbar wird:

    In diesem Buch wird also versucht, einige Umrisse einer Genealogie der Aufmerksamkeit seit dem neunzehnten Jahrhundert nachzuzeichnen und ihre Rolle bei der Modernisierung der Subjektivität genauer zu fassen. Ich untersuche, konkreter gesagt, wie parallel zum Aufkommen neuer technologischer Formen von Spektakel, Schaustellung, Bildprojektion, Attraktion und Registrierung auch die Vorstellungen von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit transformiert wurden.

    Crary rückt - wie vor ihm auch schon Georg Franck in seiner Studie Ökonomie der Aufmerksamkeit - die Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt einer Wahrnehmungstheorie. Er hat dabei immer zum einen die sozialen und ökonomischen Verschiebungen und zum anderen sowohl die neue visuelle und akustische Kultur als auch die Modelle der Philosophie und Kunst im Blickfeld. So sollen die sozialen, philosophischen und ästhetischen Probleme jener Jahre und in ihrer Auswirkung auf die späteren Entwicklungen interpretierbar werden.

    Der Begriff der Aufmerksamkeit ermöglicht es, das Wahrnehmungsproblem aus einer allzu leichten Gleichsetzung mit den Fragen der Visualität herauszulösen. ... Ein Großteil dessen, was ein Bereich des Visuellen zu sein scheint, ist lediglich der Effekt von andersartigen Kräften und Machtverhältnissen.

    In einer an Gelehrsamkeit kaum zu überbietenden, aber teilweise auch daran erstickenden Studie hat er die Linien in der Philosophie und Malerei filigran nachgezeichnet, die zu dem Verständnis von Wahrnehmung führen, auf dem die Wissenschaften und die Künste im 20. und 21. Jahrhundert aufbauen.

    Anhand der künstlerischen Werke von Manet, Seurat und vor allem von Cézanne kann Crary seine Theorie der Aufmerksamkeit entfalten. An dem um 1900 entstandenen Spätwerk Cézannes demonstriert er, wie ein Künstler sich gegen die Zerstreuung in der Wahrnehmung zur Wehr zu setzen versucht: Wahrnehmung als ein "langes konzentriertes Sehen", durch das der Augenblick gleichsam gedehnt wird, ein "anhaltendes Blicken", ein "'fixiertes' Sehen", das in den Bildern von Cézanne zu einer Art "Wiederherstellung der Dinge" führte.

    Mit der Malerei ist es möglich, ein Abbild der Dinge, die wir sehen, zu geben und dabei alles zu vergessen, was vor uns dagewesen ist.

    In dieser Formulierung ist unschwer eine bestimmte philosophische Sichtweise jener Zeit, die der Phänomenologie, wieder zu erkennen. Was bei Edmund Husserl die "'reine' Form des Bewußtseins" sein soll, entspricht vage dem, was Cézanne als "Wagnis des 'Vergessens'" ins Spiel (der Kunst) bringt.

    Damit wir auf etwas aufmerksam werden, muss mehr geschehen als nur ein Beobachten der äußeren Welt und auch mehr als nur ein bewusstes Nach-Innen-Schauen. Notwendig sei ein Akt, den Husserl intentional, also gerichtet nennt. In diesem Akt seien Subjekt und Objekt aufs engste miteinander verflochten. Gegen die starken Tendenzen zur Rationalisierung der Erfahrungsprozesse gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand ein komplexeres Bild von Wahrnehmung.

    Eines der Hauptprobleme von Husserl (und ein mit den Anliegen Cézannes verwandtes) bestand darin zu erklären, wie das Reich des Psychischen - das wesentlich eines von ständigen Austauschprozessen, eines Kommens und Gehens von Inhalten ist - dennoch stabile, objektiv gültige Erkenntnisse liefern kann.

    Genau an diesem Punkt wird deutlich, wie die Wissenschaft und die Kunst eine Stabilität zu retten versuchen, angesichts der unglaublichen Beschleunigungsprozesse, der Auflösungen des Festen und der Zerstreuungen im beginnenden neuen Zeitalter der explodierenden Sinne. Man sah sich - angesichts der Fragmentierungen, Dissoziationen und Fluktuationen der alltäglichen Wahrnehmung - gezwungen, an einer festen, unerschütterlichen Basis und Einheit des Bewußtseins festzuhalten.

    Die sinngemäße Rede von der Aufmerksamkeit umfaßt die gesamte Sphäre des Denkens und nicht bloß die des Anschauens.

    In einer solchen philosophischen Position versucht man das zu jener Zeit aufkommende starke Interesse an optischen Täuschungen und Illusionen, am ganzen Bereich der relativen individuellen Wahrnehmung zurückzudrängen und das Augenmerk auf die allgemeinen, universalen Strukturen der Aufmerksamkeit zu lenken. Aufmerksamkeit also als eine Sphäre, die die individuelle Wahrnehmung übersteigt, unpersönlich und überzeitlich ist, ja, etwas Absolutes an sich habe. Aufmerksamkeit wird wie eine Art Scheinwerfer verstanden, der nicht Gegenstände und empirische Beziehungen beleuchtet, sondern Wesenheiten.

    Als Scheinwerferstrahl steht die Aufmerksamkeit für eine unerschütterliche Sicht auf den Akt des Sehens. ... Husserl will in einer Welt, in der ehemals stabile Bedeutungen, Zeichen und soziale Beziehungen dabei waren, entwurzelt, austauschbar und der Zirkulation unterworfen zu werden, an einem Nimbus absoluter Authentizität festhalten, der jedes Ding und jedes Ensemble von Beziehungen umgibt.

    Wir haben es also, so Crarys Fazit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Philosophie Husserls wie in der Malerei Cézannes mit massiven Anstrengungen zu tun, inmitten der dynamischen Auflösungsprozesse, die Einheit und Konsistenz der Wahrnehmung zu retten, also im Zerstreuten, Vieldeutigen und Beschleunigten das Bestimmte und Universale zu erkennen.

    Zur gleichen Zeit entsteht mit der Psychoanalyse ein Modell, das ebenfalls den Blick auf die universalen Strukturen der Erfahrung, des Erlebens und der Wahrnehmung lenkt, dabei aber gerade die Lebendigkeit des Einzelnen, seine Lebenswelt und sein konflikthaftes Erleben von Welt zum Ausgangspunkt nimmt. Gerade die Pathologie des Seelenlebens, das Leiden an Wahrnehmungsstörungen, die körperlich schmerzhafte Erfahrung von Aufmerksamkeit ermöglicht in Freuds Sichtweise den Zugang zu den allgemeinen Strukturen. Zugleich steht der für die psychoanalytische Technik zentrale Begriff der "freischwebenden Aufmerksamkeit" der Idee Cézannes sehr nahe:

    Seine Bilder zeigen eine Welt, die sich in zahllose Erschütterungen auflöst, die alle zu einer ununterbrochenen Kontinuität verbunden sind und wie Wellenringe nach allen Richtungen verlaufen.