Freitag, 19. April 2024

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Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland
"Wir wollen die europäische Asylpolitik besser machen"

Der Innenpolitiker Stephan Mayer (CSU) hat die Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Camps in Griechenland begrüßt. Deutschland gehe jetzt mit einem klaren Schritt voran, in der Hoffnung, dass andere EU-Länder folgen, sagte Mayer im Dlf.

Stephan Mayer im Gespräch mit Philipp May | 16.09.2020
Eine Frau mit ihren Kindern sitzt am Rande einer Straße in der Nähe des ausgebrannten Flüchtlingslagers Moria.
Die Bundesregierung hat entschieden, nur Familien und unbegleitete Minderjährige aus den Camps auf den griechischen Inseln in Deutschland aufzunehmen (Socrates Baltagiannis/dpa)
Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria hat die Bundesregierung sich darauf geeinigt, rund 1.700 geflüchtete Menschen von den griechischen Inseln aufzunehmen. Die Reaktionen auf diese Entscheidung sind geteilt. Der deutsche Städtetag etwa begrüßte sie, Linksfraktion und Grünen geht sie nicht weit genug. Die Menschen, die aus Griechenland nach Deutschland kommen sollen, haben alle einen anerkannten Schutzstatus. Es handelt sich nach Angaben von Stephan Mayer, CSU-Politiker und Staatssekretär im Bundesinnenministerium, um 150 unbegleitete Jugendliche und 408 Familien.
11.09.2020, Griechenland, Moria: Ein Mädchen sitzt am Rande einer Straße in der Nähe des ausgebrannten Flüchtlingslagers Moria. Mehrere Brände haben das Lager fast vollständig zerstört. Laut griechischer Regierung haben Migranten den Brand gelegt. Das Lager ist eigentlich auf 2800 Bewohner ausgelegt, zuletzt lebten dort aber mehr als 12 000 Migranten. 
Der neue Streit um die Flüchtlingspolitik
Auf allen politischen Ebenen ist nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria die Auseinandersetzung um Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen wieder angekommen. Deutschlandfunk-Korrespondenten berichten.
Stephan Mayer erklärt im Dlf, warum er es für sinnvoll hält, dass Deutschland als einziges Land in der EU jetzt Menschen aufnimmt. Er hofft, dass dieses Vorgehen in der EU eine Vorbildfunktion haben wird, die auch die Entscheidung anderer EU-Länder in der Flüchtlingsfrage beeinflusst. Denn Ende September will die EU-Kommission ihren neuen Vorschlag für einen gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspakt vorlegen, der eigentlich schon für März angekündigt war. Doch wegen der Corona-Pandemie wurde der Termin verschoben. Mayer betonte im Dlf, dass die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tun werde, "um zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu kommen". Außerdem sprach er darüber, wie die Entscheidung für die Aufnahme der geflüchteten Menschen aus Griechenland zustande gekommen ist.
Philipp May: Musste dafür erst ein Lager brennen?
Stephan Mayer: Nein, natürlich musste dafür kein Lager brennen. Wir haben uns schon vor dem Brand in Moria intensiv darum bemüht, vor allem schutzbedürftige, behandlungsbedürftige Kinder nach Deutschland zu bringen. Das Engagement der Bundesregierung hat ja nicht erst letzte Woche begonnen. Das ist ja teilweise auch eine Fehlwahrnehmung auch in der Öffentlichkeit. Seit vielen Monaten ist die Bundesregierung intensiv bemüht, den griechischen Behörden, der griechischen Regierung zu helfen mit Hilfstransporten, um insbesondere, was aus meiner Sicht nach wie vor das erste und das wichtigste Gebot ist, vor Ort zu helfen, aber auch, indem wir beispielsweise seit einigen Monaten vor allem behandlungsbedürftige Kinder und deren Familienangehörige, aber auch unbegleitete Minderjährige nach Deutschland übernommen haben. Es wäre eine vollkommene Fehldarstellung und falsche Wahrnehmung, wenn man behauptet, dass die Bundesregierung jetzt erst durch den Brand in Moria in die Puschen gekommen ist und entsprechend tätig geworden ist.
Andreas Geisel (SPD) steht im Berliner Abgeordnetenhaus bei einer Plenarsitzung am 20. August 2020 am Rednerpult.
Geisel (SPD): "Deutschland muss jetzt handeln"
Angesichts der humanitären Katastrophe auf Lesbos müsse man jetzt Hilfe leisten, sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Dlf. Berlin sei bereit, 300 Kinder und Jugendliche aufzunehmen.
"Wir tun dies im Einvernehmen mit den griechischen Behörden"
May: Aber, Herr Mayer, Ihre Bemühungen würde ich niemals in Abrede stellen und Ihre Bemühungen auch in allen Ehren. Aber die Entscheidung, die fällt ja jetzt, acht Tage nach dem Brand, nach den ersten Bränden in Moria, und da stellt sich ja schon die Frage, wieso es erst diese Bilder braucht, damit die Bundesregierung zu einer Entscheidung kommt.
Mayer: Wir sind natürlich jetzt durch dieses sehr schwerwiegende Ereignis auch sofort aufgefordert worden, tätig zu werden. Wir tun dies auch, im Einvernehmen mit den griechischen Behörden. Das muss ich bei allem auch immer mit dazu sagen, dass wir ja nicht autonom entscheiden können, was auf Lesbos passiert. Sprich: Die griechischen Behörden haben selbst erst mal die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Obdachlosen entsprechend untergebracht werden. Aber wiederum auch hier unterstützt die Bundesregierung sehr vielfältig. Wir sind jetzt dabei, einen zweiten Hilfstransport nach Athen zu schicken, mit Zelten, mit Decken, mit Schlafsäcken, mit Isoliermatten. Ich möchte mal schon behaupten, kein EU-Mitgliedsland unterstützt Griechenland derzeit so intensiv und so akkurat wie Deutschland. Und natürlich gehört auch mit dazu, dass wir besonders schutzbedürftige Personen – und dazu zählen nun mal vor allem unbegleitete Minderjährige, aber auch anerkannte, schutzbedürftige Familien – nach Deutschland holen, und ich muss sagen, diese Entscheidung ist jetzt weniger als eine Woche nach dem Brandereignis gefallen. Ich halte das durchaus für eine sehr akkurate und prompte Reaktion der Bundesregierung.
Eine Frau sitzt vor ihrem Zelt an der Straße und hat den Kopf auf die rechte Hand aufgestüzt. Sie sieht nachdenklich aus.
Der Moria-Irrtum - aus Moria wird niemand nach Deutschland kommen
In Deutschland wird über die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannte Flüchtlingslager Moria diskutiert, doch in Griechenland lehnt man deren Ausreise ab. Europäische Hilfe vor Ort ist aber dringend gewünscht.
May: Weil Sie gerade auch die griechische Regierung angesprochen haben, frage ich das noch mal. Wieso war denn die Aufnahme von 1553 Menschen – das ist ja per se schon mal eine überschaubare Zahl, verglichen beispielsweise mit 2015 -, wieso war die denn nicht schon vorher möglich, vor dem Brand beispielsweise? Die kommen ja auch nicht alle aus Moria, sondern von allen griechischen Inseln.
Mayer: Ja, die kommen zum einen nicht alle aus Lesbos, um auch zu gewährleisten, dass wir hier eine Gleichbehandlung vornehmen gegenüber allen fünf griechischen ägäischen Inseln, auf denen sich Hotspots befinden. Und um das noch mal klarzumachen: Das Engagement der Bundesregierung hat nicht erst jetzt seit fünf oder sechs Tagen begonnen.
"Ich halte das durchaus für ein sehr starkes humanitäres Zeichen"
May: Das ist vollkommen klar! Ich frage jetzt ganz konkret nach der Entscheidung.
Mayer: Diese Entscheidung hat sich natürlich jetzt aufgedrängt, nachdem insbesondere Familien obdachlos geworden sind.
May: Und vorher nicht?
Mayer: Wie gesagt, wir haben ja schon vor dem Brandereignis sehr umfänglich unbegleitete Minderjährige genommen. Weit über 400 Personen sind allein schon in diesem Jahr schon vor dem Brandereignis, wohl gemerkt, aus den griechischen Hotspots nach Deutschland gebracht worden. Ich halte das durchaus für ein sehr starkes humanitäres Zeichen, das die Bundesregierung hier gesetzt hat. Wünschenswert wäre es natürlich, dass sich noch mehr EU-Mitgliedsländer diesem Zeichen anschließen.
May: Dazu kommen wir gleich. Schauen wir vorher noch mal auf die Zahl. 1553 Menschen, sagte ich bereits ein paar Mal. Warum nicht 1554 oder 1314?
Mayer: Erstens ist es mit jeder Zahl so, dass sie natürlich veränderbar ist. Aber ich habe ja auch in dem Einspieler gehört, dass einige Oppositionskollegen klar gefordert haben, es würde klarer Abgrenzungskriterien bedürfen für die Festlegung des Personenkreises, und genau das hat die Bundesregierung ja gemacht. Diese Zahl erklärt sich so, dass es derzeit auf den fünf griechischen Inseln genau 408 Familien gibt, die bereits anerkannt sind, die ein Asylverfahren in Griechenland durchlaufen haben und einen Schutzstatus ausgesprochen bekommen haben. Und das sind in diesen 408 Familien genau 1553 Personen. So erklärt sich die Zahl, weil sich dieser Personenkreis aus unserer Sicht klar abgrenzen lässt von Personen, die bereits abgelehnt wurden – auch solche gibt es auf den Inseln -, die ein Asylverfahren durchlaufen haben und einen Ablehnungsbescheid erhalten haben. Die kommen aus unserer Sicht überhaupt nicht für den Transport nach Deutschland in Betracht. Und natürlich gibt es auch – und das ist der Großteil derer, die sich auf den Inseln befinden – diejenigen, die noch im Asylverfahren sich aufhalten und sich befinden. Deswegen ist dies aus unserer Sicht ein sehr klares und ein sachgerechtes und auch ein nachvollziehbares Abgrenzungskriterium, dass wir genau die Personen nehmen, die schutzbedürftig sind, die formalrechtlich auch den Schutzstatus schon zuerkannt bekommen haben.
"Wir sind bereit Familien, die anerkannt sind, zu nehmen"
May: Verständnisfrage: Alle Menschen von den griechischen Inseln, deren Asylantrag bewilligt worden ist, die kommen jetzt nach Deutschland?
Mayer: Alle Familien!
May: Alle Familien.
Mayer: Nicht alle. Es geht nicht um Alleinreisende, weil natürlich auch – und das zeigen jetzt die Ermittlungen der griechischen Behörden – die Wahrscheinlichkeit aus unserer Sicht gegen null tendiert, dass unter den Brandstiftern sich Familienangehörige befunden haben. Es gibt ja offenbar jetzt auch schon erste Festnahmen von mutmaßlichen Brandstiftern und es handelt sich dabei offenkundig – man muss sagen, das ist alles natürlich jetzt erst mal vorläufig – um Alleinreisende.
Wir sind bereit, als Deutschland Familien, die anerkannt sind, zu nehmen, und das sind insgesamt auf den fünf griechischen Inseln ausweislich der Listen, die der UNHCR uns übersandt hat, 408 Familien.
May: Sie haben gerade die anderen europäischen Partner, um es mal so zu nennen, angesprochen. Das klingt nach einem Alleingang, den eigentlich gerade in der Union viele vermeiden wollten.
Mayer: Das ist aber kein Alleingang, weil wir sowohl bei den unbegleiteten Minderjährigen bereits Länder mit ermuntern konnten, sich uns anzuschließen.
"Da ist zum jetzigen Zeitpunkt noch kein anderes Land dabei"
May: Ich meine jetzt die 1553. Das sind ja nicht die unbegleiteten. Ich meine jetzt einfach nur die neue Entscheidung, 1553 Menschen, die Familien, die wir gerade besprochen haben, zu holen. Da ist ja kein anderes Land in Europa mit dabei innerhalb der EU.
Mayer: Da ist zum jetzigen Zeitpunkt noch kein Land dabei, aber wir werben natürlich intensiv dafür, dass sich weitere Länder innerhalb der Europäischen Union unserem Schritt anschließen und es uns gleich tun und besonders schutzbedürftige Personen von den Inseln übernehmen. Wie gesagt: Bei den unbegleiteten Minderjährigen ist uns dies bereits gelungen. Es gibt insgesamt elf EU-Mitgliedsländer plus Norwegen und Serbien, also insgesamt 13 europäische Länder, die sich bereit erklärt haben, unbegleitete Minderjährige beziehungsweise so wie wir behandlungsbedürftige, kranke Kinder aus Griechenland zu übernehmen.
Es ist natürlich ein dickes Brett, das es zu bohren gilt, hier weitere Unterstützer unter den EU-Mitgliedsländern zu finden, insbesondere wenn es jetzt um die Aufnahme weiterer EU-Mitgliedsländer geht, aber wir haben nun mal derzeit auch die EU-Ratspräsidentschaft inne. Wir sind ein wirtschaftlich starkes Land innerhalb der Europäischen Union. Wir gehen hier jetzt auch mit einem klaren Schritt voran in der Hoffnung, dass entsprechend auch unserem Grundsatz der Ordnung und der Humanität uns weitere EU-Mitgliedsländer folgen.
"Es gibt kein gemeinsames europäisches Asylsystem"
May: Herr Mayer, ich zitiere aus der Unions-Fraktionssitzung von gestern. Ich lese aus der "Bild"-Zeitung vor. Angela Merkel soll da gesagt haben: "An Lesbos und am Lager Moria zeigt sich das ganze Elend der europäischen Migrationspolitik, die keine ist. Das muss man einfach so nüchtern feststellen." – Hat sie das so gesagt?
Mayer: Sie hat auf jeden Fall so recht. Ich zitiere nicht intern aus Fraktionssitzungen, aber diese Feststellung ist natürlich vollkommen richtig, weil bedauerlicherweise es kein gemeinsames europäisches Asylsystem gibt, auch keine gemeinsame europäische Asylpolitik gibt. In etwa einer Woche wird ja die EU-Kommission ihren neuen Vorschlag unterbreiten für einen europäischen Asyl- und Migrationspakt. Wir sind selbst sehr gespannt darauf, was die Frau Kommissarin Johansson in einer Woche vorstellen wird.
Wir werden auf jeden Fall als Bundesregierung alles in unserer Macht stehende tun, um zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik zu kommen. Bislang, in den letzten Jahren sind bedauerlicherweise alle Versuche gescheitert – wohl gemerkt nicht an Deutschland, um dies auch klarzumachen, sondern an den sehr unterschiedlichen heterogenen Interessen innerhalb der Europäischen Union. Ob dies gelingt – ich kann es nicht versprechen. Wir werden auf jeden Fall,wie gesagt, alles in unserer Macht stehende tun, um zu einem Kompromiss innerhalb der Europäischen Union zu kommen. Es ist dringend erforderlich.
"Wir wollen die europäische Migrations- und Asylpolitik verändern"
May: Ist dieses Pochen auf die europäische Lösung – ich verstehe das ja – nicht eine Fata Morgana, mit der man es sich auch irgendwie bequem machen kann, weil jeder weiß, es wird sie nie geben?
Mayer: Nein, so fatalistisch sehe ich es nicht. Es ist schwierig, das ist jetzt kein Geheimnis. Nicht ohne Grund sind bislang alle Versuche gescheitert. Aber als politischer Verantwortungsträger, glaube ich, hat man die Aufgabe, sich nicht mit dem Status quo abzufinden, sondern alles dafür zu tun, dass sich die Dinge verändern. Wir wollen die europäische Migrations- und Asylpolitik verändern als Bundesregierung, weil wir der festen Überzeugung sind, dass letzten Endes diese nach wie vor epochale Herausforderung der Migrations- und Flüchtlingskrise nicht durch ein Land alleine, auch nicht durch Deutschland alleine gelöst werden kann, sondern zumindest im europäischen Verbund. Wir werden darauf hinwirken, dass es hier zu einer Verständigung innerhalb der Europäischen Union kommt. Aber natürlich muss dieser Kompromiss dann auch in der Sache richtig sein. Es geht nicht darum, einen Formelkompromiss zu schließen, sondern wir wollen natürlich insgesamt auch die europäische Asylpolitik besser machen, mit einem stärkeren Außengrenzenschutz, mit einem Grenzverfahren, das ermöglicht, dass schutzbedürftige Personen innerhalb der Europäischen Union verteilt werden, Personen, die aber keine Aussicht darauf haben, einen Schutzstatus zuerkannt zu bekommen, überhaupt nicht in die Europäische Union einreisen, sondern an der europäischen Außengrenze dann entsprechend insbesondere, wenn sie aus sicheren Herkunftsstaaten einreisen, auch wieder zurückgewiesen werden in ihr Herkunftsland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.