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Aufnahme von Flüchtlingen in der EU
Lieber mit willigen Städten als mit renitenten Regierungen reden

Mit Flüchtlingen tun sich manche EU-Länder schwer. Es gibt Überlegungen, ihre Regierungen durch ein Hintertürchen zumindest ein Stück weit zu umgehen - indem man direkt mit Kommunen verhandelt. Eine der Ideen-Geber ist die Politikwissenschaftlerin und frühere SPD-Bundespräsidenten-Kandidatin, Gesine Schwan. Im DLF-Interview erläuterte sie das genauer.

Gesine Schwan im Gespräch mit Thielko Grieß | 11.06.2016
    Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan während einer Gesprächsrunde in den Kammerspielen des Theater Lübeck
    Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan kandidierte 2004 und 2009 für das Amt der Bundespräsidentin - beide Male scheiterte sie im ersten Wahlgang gegen Horst Köhler (Olaf Malzahn/dpa)
    Thielko Grieß: Was tun, wenn europaweit nichts vorangeht, die Regierungen sich nicht einigen in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen – dann kann man es machen wie die katholische Kirche in Polen, oder man wendet sich an Kommunen in europäischen Ländern, an Gemeinden, an Städte, die vorangehen könnten und sich überlegen könnten, ob sie Flüchtlinge eigenständig aufnehmen. Dazu gibt es einen konkreten Vorschlag:
    EU-Staaten zahlen in einen Fonds Geld ein und Kommunen bewerben sich dann darauf. Geld gegen Flüchtlinge, das ist so ungefähr die Gleichung. Das Geld soll Kosten ausgleichen und decken – für Unterkunft und Verpflegung. Auf diese Weise ließe sich das kategorische Nein mancher Nationalregierungen möglicherweise umgehen.
    Ein Vorschlag, der seinen Reiz hat, aber auch zu Widerspruch reizt, und deshalb spreche ich jetzt mit einer der Autorinnen dieses Vorschlags, guten Morgen, Gesine Schwan!
    Gesine Schwan: Einen schönen guten Morgen, Herr Grieß!
    Grieß: Sie sind von der SPD, früher Rektorin der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder gewesen und Mitglied der SPD-Grundwertekommission – das nur zum Hintergrund. Gibt es in Polen Kommunen, die Ihrem Vorschlag folgen würden?
    Schwan: Ich glaube, es gibt sie in Polen – ich habe dazu auch positive Nachrichten –, und zwar große, zum Beispiel Breslau, zum Beispiel Danzig, zum Beispiel Warschau, und es gibt auch kleinere wie Slupsk, Stolp früher, das ist an der Ostsee. Und es ist eben insgesamt ein Zeichen dafür, dass die Regierung - das eine, sie sind legitim gewählt, aber die Gesellschaften sind oft viel aufgeschlossener und die Regierungen wollen oft keine aufnehmen – jetzt bei Peace noch mal aus ideologischen Gründen, aber zum Beispiel die französische –, weil sie Sorge haben, dass sie damit die Rechtsnationalen stärken.
    "Gesellschaft in Europa viel aufgeschlossener als nationale Regierungen"
    Aber es ist ja was anderes, ob es von oben kommt oder ob Gemeinden aus eigenem Interesse, weil damit sie auch Finanzierung bekommen für ihre Infrastruktur, weil sie damit Arbeitsplätze aufbauen können, wie das die Deutschen übrigens gemacht haben im letzten Jahr durch Aufnahme von Flüchtlingen und dabei auch gewonnen haben, einen Steuervorteil gewonnen haben.
    Also das, wenn sie das schaffen können. Und ich glaube, diese Auseinandersetzung auf der Ebene der Gesellschaft ist wichtig. Es ist für Polen, auch für mich nicht überraschend, denn der Vorsitzende der Bischofskonferenz in Polen hatte das schon mal gefordert. Und ich glaube einfach, die Gesellschaft in Europa ist viel aufgeschlossener, als dies die nationalen Regierungen, die sich im Europäischen Rat blockieren, im Moment zeigen können.
    Grieß: Also Sie sagen, diesen Städten und Kommunen geht es nicht nur darum, an das Geld heranzukommen, das denn in einem solchen Fonds möglicherweise künftig sein könnte.
    "Wachstumsinitiative voranzubringen - Arbeitslosigkeit überwinden"
    Schwan: Nein – nein, nein. Ich meine, es gilt als so anrüchig, aber es ist ja überall so, dass die Aufnahme natürlich Geld kostet. Und ich bin nicht dagegen, solche Finanzierungen, die gerade in Mittel- und Osteuropa viel, viel schwieriger sind als in Deutschland, aber die auch schwierig sind in Spanien oder Portugal oder auch in Italien, zu unterstützen. Es gibt eben zugleich die Chance, damit auch eine Wachstumsinitiative voranzubringen, die wir dringend brauchen, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden in Europa.
    Grieß: Nun gibt es aber doch noch ein wesentliches praktisches Problem, denn jeder Flüchtling, der auch nach Breslau zum Beispiel will, braucht ein Visum, und dafür wiederum ist die Regierung in Warschau zuständig, die diese Visa nicht richtig gewähren will.
    Schwan: Ja, da haben Sie völlig recht. Es bleibt das Recht der Nationalstaaten, zu bestimmen, wer hereinkommt und erst recht, wer also auch auf Dauer als potenzieller Einwanderer hereinkommt, das ist ganz klar, und deswegen müssen wir einen Weg finden, wie wir mit denen zusammenarbeiten.
    Aber es wird dann auch für Regierungen schwieriger – so wie jetzt am Beispiel der polnischen Bischofskonferenz –, es wird für Regierungen schwieriger zu sagen, sie können nicht und sie wollen nicht, wenn aus der Gesellschaft solche Einladungen kommen.
    Es ist eine Auflockerung, aber das nationale Recht bleibt sicher erhalten. Und wir sind jetzt gerade bei diesem Vorschlag weiter, indem wir sagen, wir wollen ein Pilotprojekt versuchen. Erstens, 160.000 sind ja schon mal von den Regierungen konzediert, und da fällt es dann noch schwieriger, wenn Angebote aus der Gesellschaft von den Kommunen kommen, zu sagen, nein, die wollen wir aber gar nicht, obwohl wir es versprochen haben.
    Zunächst Pilotversuch mit einigen Städten
    Grieß: Der Vorschlag, den Sie mit verfasst haben, der sieht ja nun auch vor, dass diese Kommunen sich die Flüchtlinge mit aussuchen können, die da kommen sollen. Ist das nicht der Beginn eines unwürdigen Wettbewerbs, dem sich die Flüchtlinge dann auch noch ausgesetzt sehen?
    Schwan: Nein, das Aussuchen der Flüchtlinge geht nur in Bezug auf die Einwanderungsgesetzgebung. Die Städte, die Kommunen können sich bewerben, die Flüchtlinge können sich ihrerseits aussuchen, wohin sie wollen, und da kann es natürlich auch erste Schwierigkeiten geben, weil es ist ja zu vermuten, dass die meisten zum Beispiel in die Metropolen Deutschlands wollen.
    Andererseits, da ist es klar, wenn Platz ist in anderen Ländern und dort auch Infrastruktur und Wohnung und so was geboten wird, dass dann Einwanderer oder auch Asylsuchende eben länger warten müssen, wenn sie nicht gehen wollen. Wenn das Ganze auf Freiwilligkeit beruht, dann gibt es natürlich auch solche gleichsam marktmäßige Schwierigkeiten, aber es ist nicht eine Selektion, gleichsam, wir holen uns nur die Starken.
    Grieß: Also Sie würden aber schon die Flüchtlinge dann verpflichten, etwa in Breslau zu bleiben?
    Schwan: Für eine gewisse Zeit schon, ja. Wenn sie dort annehmen … Das haben wir ja auch in Deutschland …
    Grieß: Mit welchen Mitteln, Frau Schwan, wie geht das?
    Schwan: Ja, die Mittel sind natürlich nicht einfach, aber wenn sie die Infrastruktur und die Unterstützung und alles nur bekommen, wenn sie dort hingehen, dann ist das ein Anreiz. Natürlich kann man sie nicht anbinden, das ist schon richtig. Und deswegen wollen wir eben ein Pilotprojekt machen, um auf diese Weise auch die Gemeinden, die die Einwanderer oder die Flüchtlinge oder die Asylsuchenden einladen, mal zu testen, um das auszuprobieren, wollen wir einen Pilotversuch mit einigen Städten machen.
    Aber ich glaube, es ist schon ganz wichtig, dass wir zeigen, es gibt in Europa mehr Offenheit, als das im Moment in der Öffentlichkeit erkennbar ist. Es wird eine andere politische Landschaft in der Öffentlichkeit zeigen.
    Grieß: Sie erhoffen sich diese Veränderung der politischen Landschaft und auch einen Neubeginn in puncto europäischer Solidarität, das haben Sie gesagt – steht dahinter auch die Erkenntnis, dass so ein Neubeginn nur mit Geld und ökonomischen Anreizen zu machen ist?
    "Ebene der Kommunen und der Städte viel mehr stärken"
    Schwan: Jedenfalls sind Geld und europäischer Anreiz wichtig, aber der Neubeginn an Solidarität soll auch dadurch kommen, dass wir überhaupt die Ebene der Kommunen und der Städte viel mehr stärken, denn ich glaube, dass es konkrete Solidarität auch in anderen Fällen von dort aus gibt.
    Es ist ohnehin gegenwärtig ein Trend, weil den alle beobachten. Ich habe gestern den französischen Staatspräsidenten François Hollande treffen können, und auch er sieht das ja, dass im Europäischen Rat, wo sich die Staatschefs treffen, eine Blockade jetzt ist, dass man nicht zu Lösungen kommt, weil so viele innenpolitische, machtpolitische Aspekte eine Rolle spielen, dass gesamteuropäisch nichts geschieht.
    Aber wenn man das Mal auflöst und auf die andere Ebene geht, dann kann man sagen, hier gibt es eher eine Gemeinsamkeit von kommunalen Interessen und gesamteuropäischen Interessen, weil das eben auch Gesamteuropa helfen würde.
    Grieß: Nun gibt es gerade in Deutschland etliche – nicht nur, aber auch – etliche Kommunen und Städte, die sich ja seit Monaten engagieren. Für die käme ein solcher Fonds zu spät, und die gucken dann in die Röhre?
    Schwan: Nein, denn dieser Fonds betrifft alle europäischen Gemeinden, der betrifft auch deutsche, das ist gar keine Frage. Und es würde einfach mal losgehen, dass auch wieder Flüchtlinge kommen. In Deutschland haben wir ja zum Teil die etwas absurde Situation, dass nach dem ersten großen Schub viele Gemeinden sich darauf eingerichtet haben – mit Raum, aber auch mit Stellen, mit Personen, mit Sozialarbeitern und so weiter –, und die gucken jetzt in die Röhre, jetzt, weil sie nicht kommen. Die müssen sozusagen alles, was sie vorbereitet haben, damit es nicht wieder so einen Stau gibt. Die haben jetzt keine Chance, und man könnte das alles organischer gestalten.
    Grieß: Eine rückwirkende Erstattung für diese Kommunen und Städte, für die Kosten, die schon entstanden sind, ist nicht vorgesehen?
    Schwan: Nein, die ist nicht vorgesehen, denn es geht ja um eine Bewerbung von dem Fonds, also das kann man natürlich nicht machen. Aber alle könnten sich, auch Deutsche könnten sich bewerben.
    Grieß: Das Geld soll kommen von den Nationalstaaten, das müssen Sie …
    Schwan: Das sind verschiedene Sachen, also man kann auch gucken, ob wir erst mal schon bestehende europäische Fonds nehmen. Es ist jetzt gerade auch die Vizekommissarin Georgieva, die das Budget unter sich hat, hier gewesen, und es gibt ungefähr 20 Prozent des Budgets, das in Europa etwa 166 Milliarden sind, die auch für Flüchtlinge verwandt werden können.
    Aber es ist richtig, wenn man jetzt von diesem Geld was nimmt, um erst mal ein Pilotprojekt, sagen wir mal, mit sechs, acht verschiedenen europäischen Staaten zu machen und das auszuprobieren, die bereit sind, dann können wir sehen, ob wir dann, wenn das klappt, auch weitere Fonds öffnen. Das ist ja immer in der Politik so.
    "Das ist auch Geld für die europäischen Bürger"
    Grieß: Und auf den Euro von Wolfgang Schäuble wollen Sie nicht warten?
    Schwan: Ja, das ist natürlich auch ein Versuch, das zu finanzieren, aber ich denke, das ist keine so günstige Art, sondern ich wäre dann schon eher, wenn es in großem Stil kommt, für Anleihen. Wir sehen ja inzwischen, dass zum Teil privates Geld an Kommunen geht, und die kriegen dafür sogar noch Geld sozusagen, diese Negativzinsen, weil dieses Geld weniger ist als das, was diese Banken oder andere Fonds an die Europäische Zentralbank schicken müssen. Das muss man doch mal sehen.
    Wir könnten damit einfach jetzt auch Wachstum, und zwar für die Personen erst mal schaffen, die hier schon leben. Das ist jetzt nicht nur Geld für die Flüchtlinge, sondern es ist vor allen Dingen auch Geld für die europäischen Bürger.
    Grieß: Gesine Schwan von der SPD bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Schwan, danke für Ihre Zeit!
    Schwan: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.