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Aufräumen mit den Mythen um Berlin

Es gibt in Deutschland noch immer das erstaunliche Phänomen, dass viele, vornehmlich junge und kreativ ambitionierte Menschen glauben, das Glück sei ein Ort. Und dieser Ort heiße Berlin. Nirgendwo sonst in der Republik herrscht ein größeres Überangebot an kreativen Nachwuchskräften, denen Felicia Zeller nun ein kleines, feines Büchlein gewidmet hat. "Einsam lehnen am Bekannten" heißt der etwas betuliche Titel ihrer Sammlung von Kurzbetrachtungen.

Von Gisa Funck | 25.11.2008
    Seit sieben Monaten wohne ich jetzt in Berlin-Neukölln. Warum tragen die Leute hier eigentlich alle Jogginganzüge, fragte ich mich, als ich herkam, bis ich merkte, man muss sportlich sein, um hier zu überleben. Nirgendwo sonst in Berlin muss man so flink und wendig sein wie am Hermannplatz, wo man den allzeit fliegenden Spuckebatzen ausweichen muss, die jederzeit von jedermann, ob vor, neben oder hinter dir, in überraschend großen Bögen ausgerotzt werden können. (...) Doch jetzt ist Mai, die Bäume blühen auf, und die Menschen scheinen weniger zu spucken. Sie (...) Stupfen dich fröhlich in die Seite und plaudern auf dich ein: "Willst was? Brauchst was?" Oder einfach nur: "Gras." Gras. Der Frühling ist ausgebrochen. Das Gras der Hasenheide färbt sich von braun nach bisschen grün.

    Nicht ohne Grund spielen die meisten der dreiundzwanzig Episoden von Zellers Prosa-Debüt im Berliner Stadtteil Neukölln. In Deutschlands bekanntestem Problemviertel also. Vor zehn Jahren galt dieser Bezirk noch als Heimatadresse für schlecht integrierte Ausländer, Kriminelle und Sozialhilfeempfänger ohne Schulabschluss. Inzwischen ist Neukölln auch zunehmend das neue Zuhause für eine zwar hoch qualifizierte, aber lausig schlecht bezahlte "Generation Praktikum" von 30- bis 40jährigen Nachwuchs-Akademikern.

    Eigentlich nicht unbedingt ein Stoff, der für Erheiterung sorgt. Doch man kann über deutsche Miseren eben auch ganz anders erzählen. Das bewies Zeller auch schon als Theaterautorin, die auf der Bühne regelmäßig soziale Notlagen per Sprachwitz zu grotesken Komödien auswalzte.

    Nun, in ihrem ihrem Buch bleibt die 1970 in Stuttgart geborene, inzwischen selbst in Berlin lebende Autorin dem satirischen Credo treu, wonach selbst das Schreckliche und Trostlose noch seine bizarr schillernden Seiten aufweisen kann: sofern man es nur vorurteilsfrei, neugierig und unbedarft genug betrachtet.

    Mit geradezu zoologischem Interesse blickt Zellers Ich-Erzählerin im Buch – eine Theaterautorin wie sie selbst - auf ihre Mitmenschen, als gehörten die zu einer bislang unerforschten Spezies. Und die Komik dieser Betrachtungen speist sich dann nicht zuletzt daraus, dass Zellers Chronistin auf ihren Streifzügen oft Zitate aufschnappt, die sie allzu wörtlich nimmt. Ein Dealer, der ihr am Hermannplatz "Gras" anbietet, wird da fälschlicherweise mit Großstadtfrühling in Verbindung gebracht. Und selbst dem im Viertel verbreiteten Alkoholismus vermag die lakonische Hartz-IV-Flaneurin noch positive Aspekte abzugewinnen:

    Bevor ich meinen neuen Freund kennen lernte, kannte ich das Wort "brettern" nur im Verbund mit Buden und Zäunen. Seit ich meinen Freund kenne, benutze ich das Wort "brettern" für eine Tätigkeit, die mir, bevor ich meinen Freund kennen gelernt habe, als "trinken" bekannt war. Seither gehe ich nicht mehr trinken, sondern brettern. Mehrmals die Woche gehen wir beide brettern wie andere Leute ins Fitness-Studio oder jüngere zur Schule. (...) Eine in jeder Beziehung harmonische Beziehung. Wir sägen vor uns hin und vergessen dabei schnell und viel.

    Sind solche sprachwitzigen und quasi-dokumentarischen Elends-Schilderungen nun amüsant oder geschmacklos? Und: Gehören Kalauer wie jener, von einer, "in jeder Beziehung harmonischen Beziehung" nicht eigentlich zu den stilistischen Todsünden?

    Wie schon in ihren Theaterstücken legt es Felicia Zeller auch in ihren Prosa-Miniaturen darauf an, per Sprachexperiment das gängige Betroffenheits-Vokabular aufzubrechen, mit dem man normalerweise über soziale Notlagen redet. Dafür hat sie sich erneut als O-Ton-Sammlerin des deutschen Unterschicht-Alltags betätigt, die sie ihrer Ich-Erzählerin nun nicht nur einfach in den Mund legt, sondern darüber hinaus in bewährter Manier entweder Sample-artig in Schleifen wiederholt. Oder Jandl-mäßig zum lautmalerischen Wortspiel ausbaut. Oder auch ironisch mit Zitaten aus der Hochliteratur verschaltet.

    Da bezeichnet sich ihre Kolumnistin etwa einmal "als große Dichterin," nur weil sie ganze Nachmittage im Cafe mit der Lektüre von Schnitzlers "Traumnovelle" zubringt. In einer anderen Episode schildert sie gleich drei Seiten lang, wie sie eine Kleidermotte symbolträchtig mit Virgina Woolfs Roman "Die Wellen" erschlägt. Und wieder an anderer Stelle versucht die Erzählerin ihre eigene Unproduktivität mithilfe des Erfolgs-Ratgebers "Handeln statt aufschieben" zu bekämpfen: mit dem Resultat, dass sie vor lauter Pläne-Machen zu gar nichts mehr kommt.

    Man kann solche Gags auch nervig finden. Albern. Stellenweise auch etwas angestrengt. Was einen aber sofort für Zellers Erfahrungsbericht aus den Niederungen der prekär-kreativen Randexistenz einnimmt, ist dessen schlenkrig-anarchischer Gestus, mit dem ihre oft alkoholisierte Erzählerin ihre Umwelt beschreibt. Hinter den Sprach- und Gedankenspielen tritt einem da niemand anderer als die in der Satire so beliebte Figur des sympathischen Losers entgegen, der die Verhältnisse Dittsche-gleich mit ebenso bierseligem wie schrägem Blick von unten enttarnt. Und dabei endlich einmal jene ungeliebte Wahrheit der Kunstszene ausspricht, die sonst nur hinter vorgehaltener Hand kursiert. Jene ungeliebte Wahrheit nämlich, dass das angeblich so glamouröse, aufregende und schöne Boheme-Leben in Berlin für die allermeisten Möchtegern-Bohemians dort heutzutage alles andere als glamourös, aufregend oder schön ist.


    Felicia Zeller: "Einsam lehnen am Bekannten", kurze Prosa, 167 Seiten, Lilienfeld Verlag 2008, 18.90 Euro.