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Aufregendes Zeitdokument in purpurnem Samt

Äußerlich sind die Memoiren der Schauspielerin Salka Viertel ein wirklicher Augenschmaus und ein Handschmeichler. Innen bündelt das "Das unbelehrbare Herz" die Erinnerungen einer außergewöhnlichen Frau, die ein ebensolches Leben führte.

Von Shirin Sojitrawalla | 20.05.2011
    Bevor wir uns dem Inhalt dieses Buches zuwenden, müssen wir sein Äußeres rühmen. Wie alle Bände der von Hans Magnus Enzensberger begründeten Reihe "Die andere Bibliothek" ist auch dieser ein Schmuckstück: Das Papier ist von erlesen weicher Qualität und die Buchdeckel sind diesmal mit purpurfarbenem Samt bezogen, über den sich ein florales Muster rankt. Ein wirklicher Augenschmaus und ein Handschmeichler, was allein schon die Anschaffung lohnte. Im amerikanischen Original erschien das Buch 1969 in New York unter dem Titel "The kindness of Strangers", in den achtziger Jahren kam es dann unter seinem jetzigen Titel auch auf Deutsch heraus. "Das unbelehrbare Herz" bündelt die Erinnerungen einer außergewöhnlichen Frau, die ein ebensolches Leben führte.

    1889 wird sie als Salomea Sarah Steuermann im damals österreichischen Galizien geboren. Sie entstammt einer großbürgerlichen jüdischen Familie und wächst mit drei Geschwistern auf, darunter der später weltbekannte Pianist Eduard Steuermann. Schon früh erkannte Salka Viertel ihr künstlerisches Talent und boxte ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, gegen den Willen ihrer Eltern durch. Sie geht nach Wien, wo sie auch ihren späteren Ehemann, den Regisseur und Dichter Berthold Viertel kennen lernt. Sie leben mal gemeinsam, mal getrennt in unterschiedlichen deutschsprachigen Ländern und Städten, bis Berthold Viertel einen Vertrag als Drehbuchautor in Hollywood unterschreibt, woraufhin das Paar 1928 mit seinen drei Söhnen umzieht.

    Sie leben in Santa Monica, in der Marbery Road, und ihr Haus avanciert in den folgenden Jahren zum Treffpunkt und Zufluchtsort für Künstler aller Art. Aus den geplanten drei Jahren werden beinahe drei Jahrzehnte. Erst zum Ende des Jahres 1953 kehrt Salka Viertel nach Europa zurück. Sie stirbt 1978 in Klosters, in der Schweiz. Ihre Memoiren reichen bis ins Jahr 1954 zurück und ihr Leben in den Vereinigten Staaten bildet das Herzstück des Buches.

    In ihren Memoiren blickt Salka Viertel auf ein Leben inmitten der Geistesgrößen und Künstler der damaligen Zeit, macht uns mit dem "selbstgefälligen" Karl Kraus, dem "peinlich korrekt gekleideten" Rilke und dem eigenwilligen Arnold Schönberg bekannt, um nur einmal wahllos drei von vielen zu nennen. Die meisten von ihnen lernt sie im Exil in den Vereinigten Staaten kennen, darunter Thomas und Heinrich Mann, Bert Brecht, Sergej Eisenstein und so weiter und so fort. Zuweilen verliert man den Überblick in den prominent auftretenden Menschenmassen des Buches. Doch Salka Viertel belässt es keineswegs bei bloßem Namedropping, sondern versteht es darüber hinaus, immer auch das Gefühl der jeweiligen Epoche heraufzubeschwören. Sie selbst verdingt sich in den Vereinigten Staaten als Drehbuchautorin, und ihre Schilderungen der aberwitzigen Machenschaften der großen Studios und ihrer Filmfritzen sind ebenso unglaublich wie erhellend.

    Bald macht sie sich einen Namen als Greta-Garbo-Spezialistin, schreibt ihr Drehbücher auf den Leib und gehört zu ihren Freunden. Dabei ist es aber durchaus nicht so, dass ihr Buch und auch ihr Leben die Aufwertung durch andere, bekannte Künstler, nötig hätte. Vielmehr erweist sich Salka Viertel selbst als außerordentlich bemerkenswerte Persönlichkeit und auffallend wagemutige Frau. Schon früh legt sie eine emanzipatorische Kraft an den Tag, setzt sich gegen Gouvernanten wie Eltern durch, vereint später Beruf und Mutterschaft, ohne groß zu jammern und wird mit ihrem Mann Berthold eine Ehe führen, die nicht anders als herausragend modern zu bezeichnen ist.

    Einige der Briefe, die ihr Mann ihr geschrieben hat, sind ebenfalls in dem Buch abgedruckt. Sehr private Briefe, die davon zeugen, was in einer Ehe möglich ist: an Vertrauen, an Liebe, an Großmut. Dabei erscheint Salka Viertel in ihrer Ehe genau so, wie in ihrem Leben auch: großzügig und großherzig. Ihrer Familie räumt sie in ihren Erinnerungen ebenso viel Raum ein wie den großen Persönlichkeiten. Hinzu kommen ihre pragmatischen Lebensweisheiten, die sie immer mal wieder in den Text fließen lässt. Da kann man etwa lernen, dass Glücklichsein eine besondere Art von Egoismus erfordert oder dass ungewöhnliche Menschen das Recht haben, ein ungewöhnliches Leben zu führen oder auch das Geld Menschen meidet, die es nicht lieben.

    Dabei ist nicht nur, was sie schreibt von Belang, sondern auch, wie sie es tut. In der Vergangenheit sind ja derart viele Erinnerungen der Exilzeit in Kalifornien veröffentlicht worden, dass sich manch ein Leser fühlen darf, als sei er selbst dabei gewesen, als sich beispielsweise Nelly Mann wieder einmal betrunken zum Narren machte oder Schönberg sich über die Maßen von dem Roman "Doktor Faustus" echauffieren ließ. Salka Viertel fügt den oftmals bekannten Ereignissen ihre ganz eigene uneitle Note hinzu. Sie prahlt nicht mit ihren Bekanntschaften, sondern entblößt lieber deren Menschlichkeit. Das macht sie geradeheraus und ohne einen Moment lang den Eindruck zu erwecken, auf den Mund gefallen zu sein. Dabei vermag sie es, mit nicht mehr als einem Halbsatz, das Wesen eines Menschen oder Paares einzufangen. Auch für Äußerlichkeiten genügen Salka Viertel wenige Worte zur prägnanten Kurzvorstellung. So spricht sie etwa von der "exklusiven Einfachheit" Brechts und der "starken erotischen Ausstrahlung" des hässlichen Mannes Fritz Kortner.

    Selbstverständlich beinhalten ihre Erinnerungen auch zahlreiche Anekdoten, Boulevardherrlichkeiten und Regenbogenpressetaugliches. Doch darüber hinaus gelingt der Autorin nicht weniger als ein aufregendes Zeitdokument, das auch späteren Generationen Auskunft geben kann und hoffentlich auch geben wird.

    Salka Viertel: "Das unbelehrbare Herz", Eichborn Verlag, Von der Autorin überarbeitete Übersetzung aus dem Amerikanischen von Helmut Degner, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 507 Seiten, 34 Euro.